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Die Oper in Odessa  (Thomas Rothschild)

Bald nach der Oktoberrevolution schrieb Wladimir Majakowski: »Mit was für phantastischen Gebäuden werdet ihr den Ort der gestrigen Brandstätten bedecken? was für Lieder und Musiken werden sich aus euren Fenstern ergießen? was für Bibeln werdet ihr eure Seelen öffnen? Mit Verwunderung beobachte ich, wie von den Bühnen der eroberten Theater ›Aidas‹ und ›Traviatas‹ mit allen möglichen Spaniern und Grafen erklingen, wie in den Versen, die von euch akzeptiert werden, die gleichen Rosen der herrschaftlichen Orangerien sind und wie eure Augen vor Bildern zerfließen, die die Großartigkeit der Vergangenheit darstellen.«

Eine ignorante Sowjetbürokratie hat dafür gesorgt, daß die antibürgerlichen Kunstvorstellungen der Kubofuturisten und anderer avantgardistischer Gruppierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vernichtet wurden, noch ehe sie sich entfalten konnten. Die Kontinuitäten im Einflußbereich des russischen Imperiums von der Zarenzeit über die Sowjetepoche bis zur kapitalistischen Gegenwart sind, nicht nur im Bereich der Künste, weitaus geschichtsmächtiger als die Unterschiede. Vieles, was man für sowjetisch hielt oder von interessierter Seite als sowjetisch ausgab, war in Wirklichkeit russisch. Und so konnten die Aidas und Traviatas auf den Bühnen der Opernhäuser in der mittlerweile versunkenen Sowjetunion ohne Schaden weitersingen, bedrängt allenfalls von den Tänzern, deren Schwanensee sich auf den Spielplänen stets aufs Neue ausbreitet.

In Odessa, der am Schwarzen Meer gelegenen viertgrößten Stadt der Ukraine, steht eins der schönsten Opernhäuser der Welt. Es wurde 1887 eröffnet, entworfen von Fellner und Helmer, den Wiener Architekten, von denen unter anderem auch das Wiener Volkstheater, die Komische Oper in Berlin und das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg stammen. Auf den goldverzierten Seitentreppen im Inneren posieren die Besucher und lassen sich fotografieren. So deutlich wie hier wird nur selten, woran Revolutionen scheitern: am Blick nach oben. Mit seinen Opernhäusern imitierte das Großbürgertum die Schlösser der Aristokratie. Souverän bewegte es sich in der protzigen Architektur, die man ähnlich in den Börsegebäuden und den Geschäftspassagen der Gründerzeit antrifft. Im Büro Fellner und Helmer wurde nicht nur die Oper, sondern auch das zentrale Warenhaus in Graz geplant! Heute, da die Bourgeoisie in den Jahren der Sowjetherrschaft verschwunden ist, dient der Pseudobarock des späten 19. Jahrhunderts einem unsicheren Kleinbürgertum als Kulisse. Nach Renovierungen in den fünfziger und sechziger Jahren zuletzt im Jahre 2007 restauriert, um einen Absturz des Gebäudes ins Meer zu verhindern, ist das Gebäude der Odessaer Oper in seiner ganzen feudalen Pracht Ausdruck einer Spießigkeit, die sich in den Aufführungen fortsetzt. Von Regietheater hat man hier jedenfalls noch nichts gehört. Majakowski würde seinen Augen kaum trauen.

Im Repertoire der Odessaer Oper findet man Verdis »Maskenball«, »La traviata«, »Il trovatore« und »Rigoletto«, Puccinis »Tosca«, »La Bohème«, »Turandot« und »Madama Butterfly«, Rossinis »Barbier von Sevilla«, Leoncavallos »Bajazzo«, Bizets »Carmen«, Mascagnis »Cavalleria rusticana«, Donizettis »Lucia di Lammermoor« und Tschaikowskis »Jolanthe«, aber weder Schostakowitsch noch Prokofjew, geschweige denn Benjamin Britten oder Alban Berg oder gar Nono oder Henze. Das Ballettrepertoire wird von »Giselle«, »Nußknacker«, »Dornröschen« und »Schwanensee« beherrscht. Und man huldigt der Legende Nurejew. Der Star ist hier schließlich leibhaftig aufgetreten, ehe er das Land verließ.

Erinnerungen an den Aufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet man ein paar Schritte weiter, in den Exponaten und dem Ausstellungsdesign des städtischen Literaturmuseums. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die Avantgarde im Museum überlebt, während auf der Bühne das 19. Jahrhundert seine unangefochtene Herrschaft feiert.

Dabei ist Odessa, diese erst 216 Jahre alte Stadt, die von Katharina der Großen gegründet wurde, geeignet, die geläufigen Vorurteile zu zerstreuen. Sie ist nicht nur wegen der berühmten Treppe aus Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« sehenswert. Man kann, etwa mit der ungarischen Fluglinie Malev, schon für 150 Euro von Deutschland aus hin- und zurückfliegen. Die für viele Touristen abschreckende angebliche Kriminalität macht sich nicht bemerkbar. Taschendiebe und Wohnungseinbrüche gibt es schließlich auch in unseren Breiten. Und die immer größer werdende Spanne zwischen Arm und Reich in den westlichen Ländern sorgt dafür, daß sie einem in Odessa nicht exotisch vorkommt. Elegant gekleidete junge Frauen fallen lediglich durch die halsbrecherischen hohen Bleistiftabsätze auf. Zwar gibt es baufällige Häuser und schäbige Hinterhöfe, aber mehr und mehr bestimmen die renovierten Fassaden aus dem 19. Jahrhundert das Straßenbild. Die langen, schnurgeraden Alleen teilen die Stadt, die ähnlich wie Ludwigsburg und fast zur gleichen Zeit angelegt wurde, in übersichtliche Quadrate.

Odessa war immer schon berühmt für sein Völkergemisch, die Ukrainer, Russen, Griechen, Türken, Armenier, Juden, die hier in mehr oder weniger friedlicher Nachbarschaft lebten. Davon ist eine Weltoffenheit geblieben, die Odessa von vielen Städten in der ehemaligen Sowjetunion unterscheidet. Es gibt dort jede Menge Straßencafés, und man kann auch vorzüglich essen. Nichts spricht gegen einen Urlaub in der »Perle am Schwarzen Meer«.

Vor einem kleinen Laden steht eine Tafel und darauf mit Kreide geschrieben: »Die Zukunft hat schon begonnen. – Robert Jungk.«