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Titel914

Das Schweigen der Giftmischer  (Ralph Hartmann)

Gerade ein Jahr ist vergangen, seit eine weitere schreckliche Missetat des untergegangenen ostdeutschen Unrechtsstaates bekannt geworden ist: In Zusammenarbeit mit westlichen Pharmakonzernen, darunter die Firmen Boehringer Mannheim und Syntex – inzwischen im Schweizer Branchenriesen Roche aufgegangen – habe das DDR-Regime Medikamente testen lassen, und das zum Teil ohne Wissen der Patienten. Der Spiegel hatte die flächendeckenden Arzneimitteltests, die schon lange vermutet worden waren, zutage gebracht. Mindestens 50.000 Menschen in 50 Kliniken waren davon betroffen, und der ostdeutsche Staat kassierte dafür dringend benötigte Devisen.

Verständlicherweise war das Entsetzen groß und ein Sturm der Empörung fegte durch die bundesdeutsche Medienwelt: »Wie die DDR Bürger als Versuchskaninchen verkaufte« (Die Welt), »Empörung über Menschenversuche« (Berliner Zeitung), »Tödliche Menschenversuche in DDR. West-Pharmafirmen testen Medikamente in Ost-Berlin« (Focus), »Menschenversuche in DDR« (Bild), »DDR verkaufte Patienten für Menschenversuche« (Berliner Kurier).

Die furchtbaren Verbrechen wider die Menschlichkeit riefen die bewährten Verteidiger der Menschenrechte, die Avantgarde der SED-Diktatur-Aufarbeiter, auf den Plan. Der Stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Arnold Vaatz war außer sich und forderte »Schadenersatz und Ausgleichszahlungen« sowie strafrechtliche Konsequenzen. Wenig verwundert zeigte sich dagegen der oberste Stasi-Aufklärer Roland Jahn. Der DDR-Diktatur traue er vieles zu. Er warf der Pharmaindustrie vor, sich die »autoritären Bedingungen der SED-Diktatur« zunutze gemacht zu haben. Und selbstverständlich schwieg auch der Chef der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, zu dem neuen Skandal nicht: »Wer Menschen, die sich nicht wehren können, als Versuchskaninchen mißbraucht, handelt inhuman.« Sollten, so fuhr er fort, tatsächlich mehr als 50.000 Menschen als Testpatienten gedient haben, sei das einer der größten Medizinskandale der Nachkriegsgeschichte. Ähnliches dachte auch der damalige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Berger. Er forderte eine »vollständige Aufklärung gefährlicher Medikamententests … Die vorliegenden Fakten müssen rückhaltlos untersucht und die Hintergründe aufgeklärt werden.«

Die Forderung fand mittlerweile beim Pharmakonzern Roche Gehör. Der international renommierte, weltweit tätige Konzern legte vor kurzem einen Bericht vor, an dessen Erarbeitung auch namhafte externe Forscher beteiligt waren. Danach wurden in 46 klinischen Prüfungen Arzneimittel an 2.247 Patienten aus der DDR getestet, die entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen aufgeklärt wurden und ihre Einwilligung erteilten. Als Gründe für die Einbeziehung der DDR nennt der Bericht: historisch gewachsene Netzwerke, die wissenschaftliche Qualität der Prüfzentren, die termingerechte Abwicklung der Studien und die fehlende Sprachbarriere. Der Vorwurf, daß Westfirmen besonders riskante Tests in der DDR durchführten, wird zurückgewiesen. Das zeige auch die Sterblichkeitsrate der einbezogenen Kranken. Sie lag in der DDR bei 2,3 Prozent, bei Nicht-DDR-Patienten bei 6,4 Prozent.

Die Lüge von den »tödlichen Menschenversuchen« war, wie vordem viele andere Horrorgeschichten über die DDR, geplatzt. Die Mehrzahl der so furchtbar empörten Medien verlor kein Wort über den Roche-Bericht. Lediglich die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau berichteten in gleichlautenden Beiträgen sachlich und umfassend. Letztere unter der Schlagzeile: »Zu früh die ‚Sprache des Skandals‘ verwendet. Von Vorwürfen mißbräuchlicher Arzneimitteltests in der DDR könnte wenig übrig bleiben.«

Auch die DDR-Superaufklärer und -aufarbeiter, die vorher noch so gegiftet hatten, hüllten sich in Schweigen. Verständlich, sind sie offensichtlich doch damit beschäftigt, in Vorbereitung auf die bevorstehenden Großjubiläen der 25. Jahrestage des Mauerfalls und der »Wiedervereinigung« alte Gifte aufzurühren und neue zu mischen. So unbekannt sind diese Haltung und das Handeln nicht. Johann Gottfried Herder schrieb vor mehr als zwei Jahrhunderten in seinen »Briefen zur Beförderung der Humanität«: »Möge Gift mischen, wer da will, und das am feinsten gemischte Gift die lautesten Ausrufer finden, von uns sei der Giftmischer sowie der Ausrufer verachtet.« Oder geben wir lieber – leicht abgewandelt – Jesus Christus den Vorzug, der, schon ans Kreuz genagelt, flehte: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun!«