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Titel915

Der Frieden und der linde Morgenwind  (Werner René Schwab)

»Auch wenn alle anderen dich für dumm halten, ich mag dich«, sagte Mireille, die junge Frau aus Le Lavandou, die nach der Provenzalin im Epos von Frédéric Mistral genannt worden ist.


»Dann laß uns heiraten«, sagte ich.


»Das zeigt, daß du dumm bist«, sagte Mireille, die gern spottete. »Wir sind zu jung, und wie du weißt, ist das noch nicht möglich. Wir wollen unsere Gemeinsamkeit hier und heute feiern. Sie kann wie alles einmal enden.« Dann sagte Mireille leise: »Ist es nicht ein Wunder, daß wir jetzt zusammen sein können? Daß wir, ich Französin und du Deutscher, schon zwei Jahre nach Kriegsende mit anderen Menschen auf diesem Dampfer über den Bodensee zur Insel Mainau fahren können?« Nach einigen Minuten fügte sie hinzu: »Das wird bleiben, auch wenn uns das Schicksal trennen sollte.« Ich begriff damals nicht, daß sie bereits die Wahrheit ahnte.

Oft genügen Banalitäten, etwas Großes zu zerstören. Eine solche Banalität ist die Entfernung von 1000 Kilometern zwischen Liebesleuten.


Aber noch waren wir glücklich. Und viele Menschen auf dem Schiff waren es auch. So Carola aus dem italienischen Südtirol und Jim aus Connecticut. Sie waren auf der Hochzeitsreise. »Wir haben den 8. Mai bewußt gewählt«, sagte Carola. »Ohne ihn hätten wir uns nie kennengelernt. Denn da mußten gottseidank die Waffen schweigen, und der Diktatur sind wir entronnen.« Carola gehörte, wie ich auch noch Jahre später feststellen konnte, zu jenen nicht so zahlreichen Menschen, die den Sieg der Alliierten als Befreiung auch der eigenen Nation schätzten und nicht als Niederlage des eigenen Landes beklagten, wie es auch Jahre später selbst führende Politiker taten.


Seit Ende 1944 glaubte ich nicht mehr an den »Endsieg«. Noch entlockte mir die vollkommene Niederlage meiner nazideutschen Heimat zwar keine Jubeltöne, denn die Propaganda, der ich ausgesetzt war, und die daheimgebliebenen Studienräte und Bonzen, die geradezu im Patriotismus badeten, hatten auch mich dazu gebracht, eine Niederlage des eigenen Landes als Schande zu empfinden, egal was es der Menschheit an Übel beschert haben mochte. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis ich die Wahrheit über unsere Verbrechen erfuhr und akzeptierte, daß der 8. Mai in Wirklichkeit auch ein Sieg für Deutschland und damit für mich war.


Das Glück war mir dabei hold. Es führte mich schon 1946 in die Arme von Mireille, die als Lieutenant der französischen Besatzungsmacht in Deutschland diente, und für die ich kein Boche war, sondern der Mann, den sie lieben lernte. Und den 8. Mai 1947 hatten wir ausgewählt als unseren besonderen und eigenen Feiertag – so wie Jim und Carola.


Der 8. Mai ist es für mich geblieben, auch als unsere Zweisamkeit, über die wir oft die Möglichkeit des Scheiterns vergessen hatten, an 1000 Kilometern zerbrach. Denn diesen Tag halte ich für den wichtigsten, den es für Deutschland gibt, mögen die Regierungen und Parteien andere Tage vorziehen. Ich feiere ihn auch heute noch.
Als im Jahr 1950 in der Redaktionskonferenz der Schwäbischen Zeitung leitende Redakteure behaupteten, man müsse den 8. Mai zumindest mit Stillschweigen übergehen, denn eine Niederlage im Krieg sei zuerst einmal eine nationale Schande, konterte ich: für mich nicht. Denn ich sei nicht mehr dem preußischen Drill ausgesetzt. Ich sei lieber an einer deutschen Provinzzeitung tätig als in Smolensk Bahnhofs-Kommandant. Noch heute freue ich mich über die überwiegend positive Reaktion.


Der verstorbene ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat sich ein unvergängliches Verdienst erworben, als er sagte, daß der 8. Mai der Tag der Befreiung auch für Deutschland gewesen ist.


1946 schrieb ich ein Gedicht, das in mehreren Literaturzeitschriften veröffentlicht wurde. Es gibt die Hoffnungen einer Generation wieder, die nicht erfüllt wurden.


»Vielleicht, wenn wir schon längst verglommen / Und unsere Leiber nur noch Moder sind / Wird irgendwoher neues Denken kommen / Und uns nicht Helden nennen. Nur noch Kind / – Wir werden dann die Fetzen von uns tuen, / Die uns bekleiden, Koppel und Gewehr / Und als Geopferte in unsern Gräbern ruhen, / Millionen Knaben. Längst verfault. Ein Heer./ – Die Lehrer wird man große Mörder nennen, / die uns zum Kampf erzogen und zum Krieg / Die Orden und die Uniform verbrennen. / Und Raubmord sagen, nicht mehr Sieg./ – Den Kindern jener Mädchen, die wir küßten, / Und die nicht unsere eigenen Kinder sind, / Wird es so sein, als ob sie nur dies wüßten: / Den Frieden. Und den linden Morgenwind.«


»Gruß nach vorn«, nannte Tucholsky einen seiner Texte.


Und so grüße ich Euch, meine Freunde und Freundinnen, Kollegen und Genossen, Begleiter meiner guten und trostlosen Tage, auch Euch, die Ihr nicht mehr lebt wie Du, Mireille, grüße ich Euch Närrinnen und Narren, die Ihr wider jegliche Vernunft handelt. Weil ihr nämlich glaubt. Und ist der Glaube mitunter nicht stärker als unsere irdische Vernunft? Wahrscheinlich kann diese Frage nur ein alter Narr stellen.


Der grüßt Euch. Und er wird am 8. Mai auf den Frieden und den linden Morgenwind ein Glas des milchigen Pastis und einen Pernod trinken, die gute Träume schenken können. Auf unser Wohl!