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Von Zeit zu Zeit: Lang lebe Ministerpräsident Li  (Stephan Krull)

Nachdem in China, der »Werkbank der Welt«, die Wachstumsraten nicht mehr zweistellig sind, rückt scheinbar Unvorstellbares näher: Die chinesische Regierung und lokale Verwaltungen kürzen deutlich die Arbeitszeit. Das soll den Konsum stärken und die Beschäftigung hochhalten!


Schon nach der Ankündigung schrieb ein User auf der chinesischen Twitter-Variante: »Lang lebe Ministerpräsident Li. Das sollte umgehend eingeführt werde.« (german.china.org.cn)


Jinzhong ist mit knapp vier Millionen Einwohnern eine der kleineren chinesischen Großstädte, und eine der beiden Städte, die zum Anfang April das Unvorstellbare eingeführt haben: eine politisch und ökonomisch begründete Verkürzung der Wochenarbeitszeit. In Jinzhong sowie in der südwestlich von Schanghai gelegenen Stadt Jian in der Provinz Jiangxi sollen und dürfen zunächst die Regierungsangestellten fortan ihr Wochenende bei vollem Lohnausgleich um einen halben Tag verlängern. Damit haben diese Städte als erste in China ein Papier der Regierung vom August vergangenen Jahres in die Tat umgesetzt.


Der Staatsrat hatte ein Dokument an die Lokalregierungen geschickt, in dem ein verlängertes Wochenende als gut für den innerchinesischen Tourismus und den Konsum im Land ganz allgemein beschrieben wurde. Das Dokument vom 4. August 2015 trägt den Titel »Mehrere Beschlüsse zur weiteren Förderung von Investitionen in den Tourismus und den Verbrauch«. Ziel der Maßnahme ist es, den Angestellten weniger Belastung durch die Arbeit und mehr Freizeit zu verschaffen, die diese dann zum Beispiel für Besuche der lokalen Sehenswürdigkeiten nutzen könnten, was wiederum den Tourismus und den Dienstleistungssektor stärkt. Das entspricht dem Vorhaben der Regierung, die Schwerindustrie vieler Provinzen zu ergänzen oder teilweise zu ersetzen. Ziel ist es, den Binnenkonsum anzukurbeln. Produktivitätssteigerungen machen die Arbeitszeitverkürzung möglich.


Bis heute sind acht der 31 chinesischen Provinzen dem Ruf gefolgt und haben konkrete Vorschläge erarbeitet. Dem Beispiel von Jinzhong und Jian folgend, haben drei weitere Städte bereits einen Termin im laufenden Jahr genannt, an dem die Arbeitszeitverkürzung eingeführt werden wird. Die Provinzregierung des Ballungsraums Chongqing (30 Millionen Einwohner) hat bereits im Dezember auch private Unternehmen ermutigt, die Arbeitswoche um einen halben Tag zu kürzen.


In den deutschen Massenmedien ist von dieser Entwicklung in China fast nichts zu hören oder zu sehen, ebenso wenig über den Kampf großer Teile der französischen Bevölkerung gegen die Angriffe auf die gesetzliche 35-Stunden-Woche. Berichtet wird auch nicht über Produktivitätssteigerungen und Wachstumsschwächen in Europa, nicht über Stress und Burnout durch die Arbeit. Berichtet wird auf allen Kanälen über einen angeblichen »Facharbeitermangel« und über die »demografische Katastrophe«, die uns in den nächsten Jahren heimsuchen wird. Tatsache ist aber: Durch die zunehmende Produktivität wird eine wie auch immer geartete demografische Entwicklung überkompensiert – so wie in den letzten 70 Jahren. Und klar ist auch: Würde mehr in Aus- und Weiterbildung investiert, würden familienfreundlichere Arbeitszeiten angeboten, würde besser entlohnt werden, gäbe es auch heute keinen Facharbeitermangel. Angesichts von vier Millionen Erwerbslosen und sechs Millionen Menschen in unfreiwilliger Teilzeit, darunter jeweils viele hochqualifizierte Frauen und Männer, kann ohnehin nicht von Facharbeitermangel gesprochen werden. Er ist eine Schimäre, eine Täuschung, um Arbeitskräfte zum Beispiel aus Spanien und Griechenland anzulocken, um das Arbeitskräftereservoir und damit die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.


Bei stagnierendem Wachstum und steigender Produktivität können Erwerbslosigkeit und Hartz IV nur überwunden, die Geflüchteten nur in den Arbeitsmarkt integriert werden, wenn die Arbeitszeit deutlich reduziert wird! Dies ist eine gesellschaftliche, eine politische und eine gewerkschaftliche Aufgabe und Herausforderung. In China ist diese Botschaft offensichtlich angekommen, bei Parteien und Regierungen in Deutschland und Europa bedauerlicherweise noch nicht: Lang lebe Ministerpräsident Li!