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Titel917

Der NSU-Prozess und die Krise des Rechtsstaats  (Friedrich Wolff)

Am 6. Mai 2013 begann in München der Prozess gegen fünf Angeklagte des NSU, des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds. Jetzt, nach vier Jahren, ist sein Ende noch nicht in Sicht. In Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es unter anderem, dass jedermann das Recht habe, dass über eine gegen ihn erhobene Anklage »innerhalb angemessener Frist« verhandelt wird. Sind die annähernd vier Jahre eine angemessene Frist? Der Nürnberger Prozess gegen 24 angeklagte Hauptkriegsverbrecher dauerte vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946, also nicht ganz elf Monate. Der Prozess gegen Egon Krenz und andere dauerte in erster Instanz vom 12. November 1992 bis 16. September 1993.

 

Ein Prozess, der länger als drei Jahre dauert, ist ein Novum. Er ist aber auch ein typisches Symptom für den Zustand der BRD-Strafjustiz, der Justiz generell. Unwillkürlich denke ich an etwas, das ich im Studium von Goethes Zeit beim damaligen Reichskammergericht gehört habe. Dort sollen die Akten an Schnüren aufgehängt gewesen sein und erst, wenn eine Schnur riss, wurde über den Fall verhandelt, sagte man. Je länger ein Gerichtsverfahren dauert, desto mehr nähert es sich der Rechtsverweigerung. Die Justiz des Rechtsstaates befindet sich in einer sehr alten, sehr lang andauernden Krise. Schon Eugen Schiffer,  Reichsjustizminister von 1919 bis 1921, schrieb 1928: »Was würde wohl der große König zu dem Zustand der Dinge sagen, wie er heute ist? Zu dem gegenwärtig herrschenden Übermaß von Recht und Rechtsprechung, Jurisprudenz und Juristerei, von Richtern und Gerichten, zu dem ungeheuren, unübersehbaren Wust von Recht und Rechtsnormen jeder Gattung von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Erlassen und Anweisungen im Reich und in den Ländern, den Provinzen und den Kreisen, den Gemeinden und anderen öffentlich-rechtlichen Korporationen. Sie füllen Hunderte und Tausende von Bänden der Gesetzessammlungen, Gesetzblätter, Ministerialblätter, Amtsblätter und unzähliger sonstiger amtlicher, halb- und nichtamtlicher Publikationsorgane, die zusammen eine Riesenbibliothek darstellen würden. Das Reichsgesetzblatt enthält bis zum 1. Januar 1926 rund 44.000 Seiten – davon entfallen auf die Jahrgänge 1914 bis 1925 allein 19.679 –, auf denen 11.140 gesetzgeberische Akte verkündet werden. Die Zahl der Polizeiverordnungen bloß in Preußen beträgt etwa eine Million.« (Eugen Schiffer: »Die Deutsche Justiz«, Berlin 1928, S. 80 f.)

 

Das Recht der BRD ist alt und wird deswegen als ehrwürdig angesehen. Das BGB, der Eckpfeiler des Zivilrechts, trat am 1. Januar 1900 in Kraft. Das StGB stammt vom Reichsstrafgesetzbuch vom 15. Mai 1871. Die Strafprozessordnung, die Zivilprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz blicken auf eine ähnlich lange Geschichte zurück. Selbstverständlich gab es im Verlauf der Jahrzehnte viele Änderungen und Ergänzungen, aber die Grundlagen blieben, wurden verfeinert und waren immer unantastbarer. Auf dem alten Fundament entstanden immer ausgeklügeltere Gesetze sowie eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die Gesetzescharakter trägt. Der Staat, so heißt es, »verrechtlichte«. Neue Begriffe wie zum Beispiel »Besitzstandswahrung« gewannen beherrschende Bedeutung. Alles soll bleiben, wie es ist.

 

Viele Juristen, Rechtswissenschaftler wie Richter und Rechtsanwälte sprechen von einer Krise des Rechtsstaats, so beispielsweise der langjähriger Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer Rüdiger Zuck (Rüdiger Zuck: »Der totale Rechtsstaat«, Neue Juristische Wochenschrift 1998, S. 1518), Udo Steiner, Richter am Bundesverfassungsgericht, der frühere Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Horst Sendler, Peter Macke, Präsident des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, oder der Jurist und Professor für Zivilrecht an der Philipps-Universität in Marburg Ernst Wolf. Nicht alle benannten den Zustand der Justiz als Krise, aber alle kritisierten Zustände, die einer Krise eigen sind. So sagte Steiner: »Unser Leben ist überreguliert, unser Staat überorganisiert« (Udo Steiner: »Regieren Richter die Deutschen?«, Anwaltsblatt 2004, S. 675) und Sendler: »Der Respekt vor dem Rechtsstaat ist jedenfalls in weiten Teilen der Bevölkerung abhandengekommen.« (Horst Sendler, Der Rechtsstaat im Bewusstsein seiner Bürger, Anwaltsblatt 1989, S. 420) Und Gerhard Lüke schreibt: »Wenn der letzte sorgenvolle Gedanke eines umsichtigen Hochschullehrers vor dem Betreten des Hörsaals ist, hoffentlich habe ich alle Gesetze in der zur Zeit geltenden Fassung bei mir, dann ist dies ein Indiz dafür, dass die Gesetzgebung nicht mehr in Ordnung ist.« (Gerhard Lüke: »Die Krise des Rechtsstaats – aus der Sicht des Zivilrechts« in: Gerhard Lüke (Hg.), »Die Krise des Rechtsstaats«, Symposium aus Anlass des 80. Geburtstags von Ernst Wolf, Marburg 1995, S. 22)

 

Sicher könnten Wissenschaftler noch mehr derartige Belege für den Zustand der deutschen Justiz finden. Der NSU-Prozess kommt jetzt dazu. Die Justiz bleibt ungerührt. Die Gesetzgebung sowieso. Immerhin verdanken wir Erdoğan, dass der Paragraph gegen Majestätsbeleidigung jetzt aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden soll. Wir wahren eben den Besitzstand.