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Virtueller Hausbesuch bei Engels in London  (Johann-Günther König)

Die Corona-Pandemie tangiert posthum auch Friedrich Engels – sind doch die mannigfachen Veranstaltungen und Ausstellungen aus Anlass seines 200. Geburtstages alle bis auf weiteres abgesagt worden und teils ganz ausgefallen. Die eigentlich im Juni 2020 in Eastbourne vorgesehene internationale Engels-Konferenz der University of Brighton zum Beispiel soll – so heißt es – möglichst im Juni 2021 stattfinden.

 

Covid-19 hat auch das Vereinigte Königreich fest im Griff und zigtausenden Menschen den Tod gebracht. Welche politischen Folgen die zum Teil heftige Kritik an den Regierungsmaßnahmen in nächster Zeit bewirkt – der Premier und sein Kabinett hätten den Ernst der Pandemielage viel zu spät erkannt und den großen und tragischen Mangel an Personal, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräten und Corona-Tests zu verantworten – bleibt abzuwarten. Seit dem 23. März – und damit später als in vielen kontinentaleuropäischen Staaten – herrschen auch auf der Insel »shutdown« und »lockdown«, ist den Briten unter Wahrung des 2-Meter-Abstands der Ausgang nur noch in dringenden Fällen und zum Sport treiben erlaubt. Immerhin übernimmt der Staat 80 Prozent (beziehungsweise maximal 2500 Pfund) der Lohn- und Gehaltsfortzahlung für Beschäftigte, die in den Zwangsurlaub geschickt worden sind.

 

Dass an eine Städtetour in die fast wie ausgestorben wirkende Metropole London derzeit für niemanden zu denken ist, versteht sich von selbst. Merkwürdigerweise ist Anfang März der Bau einer dritten Start- und Landebahn am Flughafen Heathrow gerichtlich untersagt worden, weil er gegen wichtige Umweltauflagen des Pariser Klimaabkommens verstößt. In diesen Tagen gibt es jedenfalls keine Möglichkeit, als neugieriger Tourist die Regent‘s Park Road im Stadtteil Primrose Hill anzusteuern, um das von Friedrich Engels vom September 1870 bis zum Oktober 1894 bewohnte Anwesen mit der Nummer 122 zu betrachten, dessen Außenfassade intakt geblieben ist. Das viergeschossige georgianische Reihenhaus hatte damals im Souterrain neben einigen Kellerräumen eine große und kleine Küche sowie ein sogar mit einer Wanne aufwartendes Badezimmer. Im Erdgeschoss befanden sich ein – durch Flügeltüren getrenntes – Frühstücks- und Esszimmer, im ersten Stock hatte Engels anstatt des üblichen Salons sein großzügiges Arbeitszimmer eingerichtet – versehen mit deckenhohen Bücherschränken und einem eindrucksvollen Kamin. Im zweiten und dritten Stock lagen die Schlaf- und ein Gästezimmer sowie die Kammer für das Dienstmädchen. Eine Jahresmiete von 60 Pfund hatte Engels zu entrichten – dieser Tage wären gut 85.000 Pfund Sterling fällig.

 

Friedrich Engels war gewiss kein armer Mann. Als er 1869 seine Teilhaberschaft an der Firma Ermen & Engels in Manchester beendete und sich auszahlen ließ, war sein Vermögen hoch genug, um ausschließlich von den Zinsen und Erträgen leben zu können und dem häufig klammen Freund Karl Marx regelmäßig eine hübsche fixe Summe auszubezahlen. (Engels, der die Substanz seines Vermögens nicht antasten musste, hinterließ den zahlreichen Erben nach Steuern gut 20.000 Pfund – umgerechnet gut zweieinhalb Millionen Euro.) Sein neues Londoner Heim bezog der auf viel Zeit für wissenschaftliche, publizistische und politische Arbeit hoffende Rentier am 20. September 1874 nicht allein. Ihm zur Seite standen seine Lissie gerufene Lebenspartnerin Lydia Burns und – an Kindes statt – deren Pumps gerufene Nichte Mary-Ellen. Auch in Manchester hatte Friedrich bereits mit den beiden Frauen zusammengelebt, wobei er zunächst mit Lizzies Schwester Mary eine Liebesbeziehung gepflegt hatte, bis ihm der Tod die erst 41-Jährige am 7. Januar 1863 entrissen hatte.

 

Das neue Heim in dem zu jener Zeit gutbürgerlichen Viertel war Engels von Jenny Marx vermittelt worden, die mit ihrem Karl und den Töchtern seit 1864 einige Straßen weiter in dem Reihenhaus 1, Modena Villas in der Maitland Park Road wohnte. Im ersten Stock verfügte Marx über ein großes und helles Arbeitszimmer voller Bücher und Zeitschriftenstapel, in dem er auch die Internationalisten und Freunde sowie wochentags täglich Engels empfing. Der Weg zu dem Mohr gerufenen Mitstreiter führte den General genannten Rentier über eine alte Eisenbrücke und dann quer über den mit einem steilen Anstieg aufwartenden Haverstock Hill, der die Londoner City mit Hampstead verbindet. Die beiden tauschten sich über Arbeiten und die Themen aus, die sie gerade stark beschäftigten, und gingen dabei stetig auf und ab – »jeder auf seiner Seite des Zimmers, und jeder höhlte seine besonderen Löcher in seinem eigenen Winkel aus, wo sie mit einem seltsamen Schwung sich auf den Absätzen umdrehten«, berichtete Eleanor Marx. Wenn das Wetter günstig war, machten sie ihre legendären forschen Fußmärsche nach Hampstead Heath und zurück.

 

Das – von Spitzeln überwachte – Leben in 122, Regent‘s Park Road verlief wochentags für Friedrich Engels in den festen Bahnen seines Arbeitsrhythmus, dem Studium, der schriftstellerischen Arbeit und der Erledigung der Korrespondenz. Unterbrochen vom Gang zu und den Gängen mit Marx und dem gemeinsamen Abendessen mit Lizzie und Pumps. Sozialistisch engagierte Besucher waren ihm immer willkommen, dazu gehörten nicht zuletzt Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht, William Morris und Eduard Bernstein, der in den 1880er Jahren regelmäßig zu Besuch kam und mit ihm debattierte. Dabei offenbarte sich Bernstein zufolge das »stürmische Engelssche Temperament, hinter dem sich ein wahrhaft edles Gemüt und viel Güte barg […], ebenso rückhaltlos wie des geborenen Rheinländers fröhliche Lebensauffassung«.

 

Sonntagnachmittags führten Friedrich und Lizzie ein offenes Haus für Sozialisten, Kritiker und Schriftsteller, berichtete August Bebel. Dann wurden um das Klavier herum Volkslieder gesungen, gab es Fleischspeisen und Salat, flossen reichlich Waldmeisterbowle und Pilsener. Ab dem März 1875 führte Engels der Weg zu Marx zwar nach wie vor in die Maitland Park Road, aber fortan nicht mehr zur Nr. 1, sondern einige Schritte weiter zu einem typischen viktorianischen Halbrund-Reihenhauskomplex mit neoklassizistischen Säulen. (Die Gebäude wurden in den 1960er Jahren demoliert, um Platz für vierstöckige Blöcke des sozialen Wohnungsbaus zu machen.) In 41, Maitland Park Road erlebte der Autor des »Kapitals« seine letzten acht Lebensjahre, die für ihn ab 1880 leider gesundheitlich immer schwieriger wurden. Als Friedrich Engels am Nachmittag des 14. März 1883 wie üblich bei seinem Mitstreiter eintraf, fand er ihn tot in seinem Armsessel am Kamin vor. Drei Tage später wurde Karl Marx auf dem Friedhof im benachbarten Highgate bestattet. Engels hielt die Grabrede und betonte (laut dem erhaltenen Entwurf): »Der Kampf für die Befreiung der Klasse der Lohnarbeiter von den Fesseln des modernen kapitalistischen Systems der Produktion war seine wahre Berufung.« (MEW, Bd. 19, 1973, S. 334f.)

 

Nach Marx‘ Tod entwickelte sich Engels zu einer Art grauer Eminenz der internationalen Arbeiterbewegung und zum Berater der deutschen und europäischen Sozialdemokratie, da er die gemeinsam entwickelten Ideen und persönlichen Netzwerke weiterführte. Vor allem aber nahm er nun eine Aufgabe wahr, die alles andere zurückdrängte: die Erstellung des zweiten Bandes des von Marx unvollendeten Werks »Das Kapital« aus dem Nachlass sowie die Edition des dritten Bandes, von dem nur einige wenige Teile bereits ausformuliert waren. Bemerkenswerter Weise verfasste er selbst eine eigene weiterführende Schrift zur materialistischen Theorie, die 1884 erschien: »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats«. Friedrich Engels‘ enorme publizistische und politische Produktivität in seinem letzten Lebensjahrzehnt kam nicht problemlos zustande, denn er litt unter einer chronischen Augenkrankheit und anderen Beschwerden, die ihn nicht selten wochenlang lahmlegten.

 

In seinem Arbeitszimmer in 122, Regent‘s Park Road verfasste Friedrich Engels zwischen dem 9. und 11. November 1892 einen Artikel über die Präsidentenwahl in den USA vom 8. November 1892, die auch »die Bahn zum Freihandel« eröffnete. Da heißt es: »Die alte Welt stand unter der Herrschaft des Fatums, der Heimarmene, des unabwendbaren geheimnisvollen Schicksals. So bezeichneten Griechen und Römer jene unfaßbare Allgewalt, die alles menschliche Wollen und Streben zunichte machte, alle menschliche Tat zu ganz anderen Resultaten als den beabsichtigten führen ließ, jene unwiderstehliche Gewalt, die man seitdem Vorsehung, Gnadenwahl etc. genannt hat. Diese mysteriöse Gewalt hat allmählich eine faßbarere Form angenommen, und das verdanken wir der Herrschaft der Bourgeoisie und des Kapitals, der ersten Klassenherrschaft, die sich über ihre eigenen Daseinsursachen und Bedingungen klarzuwerden suchte und damit auch die Tür öffnete zur Erkenntnis der Unabwendbarkeit ihres eigenen bevorstehenden Unterganges. Das Schicksal, die Vorsehung – das wissen wir jetzt – sind die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen produziert und ausgetauscht wird, und diese fassen sich heute zusammen im Weltmarkt.« (MEW, Bd. 22, 1972, S. 334)

 

Zum gegenwärtigen, von der Globalisierung geprägten Weltmarkt gehören auch die vielfältigen gesellschaftlichen, gesundheitlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Auswüchse der Coronavirus-Pandemie. Wenn nicht alles täuscht, trat das SARS-Coronavirus 2 zunächst in China auf; wann, wo und auf welchem Weg der Erreger auf den Menschen übertragen wurde, ist noch unklar. Inzwischen hat er sich durch reisende Infizierte fast in aller Welt ausgebreitet. Nicht zuletzt im Vereinigten Königreich, das inzwischen zu den mit am stärksten betroffenen Ländern in Europa gehört. Was Wunder, dass sich Königin Elisabeth II., die sonst nur Weihnachten Worte an die Bevölkerung richtet, am 5. April gezwungen sah, ihren Landsleuten im Fernsehen bessere Tage in Aussicht zu stellen: »Ich hoffe, dass wir dereinst stolz darauf sein können, wie wir auf diese Herausforderung reagiert haben. Und dass die, die nach uns kommen, sagen werden, dass diese Generation der Briten so stark war wie jede zuvor, und dass Eigenschaften wie Selbstbeherrschung, mit Humor gepaarte Entschlossenheit und Gemeinschaftssinn dieses Land noch immer charakterisieren.« (eigene Übersetzung)

 

Was das Königreich gegenwärtig allerdings auch charakterisiert ist die Zerrissenheit in Sachen Brexit und die damit einhergehende tiefe Fremdenfeindlichkeit und EU-Skepsis weiter Kreise. Die öffentlichkeitswirksam agierenden Brexiteers, die wiederum unermüdlich auf die Zerrissenheit der EU und die überbordenden nationalen Egoismen der 27 EU-Mitgliedsstaaten hinweisen, sind mehr als zufrieden über die Fortsetzung möglichst vorteilshaschender Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen. Die drei jeweils einwöchigen Videokonferenzrunden der Teams der beiden Verhandlungsführer David Frost und Michel Barnier begannen am 20. April und gehen am 11. Mai und 1. Juni weiter. Im Juni sollen erste handfeste Ergebnisse vorliegen. Überstrahlt werden die Verhandlungen von der Corona-Krise, die offengelegt hat, wie rücksichtslos und zukunftsblind die unter dem Tory David Cameron und dessen Schatzkanzler George Osborne nach der Finanzkrise installierte Austeritätspolitik gewesen ist. Das seit mehr als einem Jahrzehnt massiv unterfinanzierte nationale Gesundheitssystem NHS bietet alles andere als die vom zuständigen Minister Matt Hancock behauptete »Weltklasse-Versorgung«, wobei Boris Johnson bereits in der unsäglichen Brexit-Kampagne den Mythos, der das NHS nach wie vor umrankt, für seine Zwecke zu instrumentalisieren wusste und weiterhin das Blaue vom Himmel versprechen wird, um als vermeintlicher Retter des staatlichen Gesundheitsdiensts zu punkten. Fakt ist: Seit dem Brexit-Referendum 2016 haben mehr als 10.000 Ärzte und Krankenpfleger aus EU-Ländern das Königreich verlassen, können derzeit mehr als 40.000 Stellen im NHS nicht besetzt werden. Ganz zu schweigen von den ersten Privatisierungsansätzen durch die Auslagerung von Aufgaben an private Anbieter.

 

Für die Opposition, vor allem für die einst von Engels befeuerten Sozialdemokraten, bieten sich derzeit wahrlich gute Chancen, die verfehlte Politik der Tories und die Versäumnisse der neuen »Volksregierung« unter Boris Johnson anzuprangern und auf Investitionspakete, den Ausbau sozialstaatlicher Leistungen und nicht zuletzt auf das Aushandeln eines für beide Seiten sinnvollen Abkommens mit der EU zu drängen. Nun hat Labour seit dem ersten Aprilwochenende mit dem einstigen Menschenrechtsanwalt Keir Starmer einen neuen Parteichef, der betont nüchtern auftritt und bei den prounionseuropäischen Linksliberalen einen Stein im Brett hat. Der 57 Jahre alte Brexit-Experte konnte sich bei der Wahl mit 56 Prozent der Stimmen gegen die Mitbewerberinnen Lisa Nandy und, als Favoritin des Corbyn-Flügels, Rebecca Long-Baily durchsetzen. Nach seiner Wahl kritisierte er zwar die Regierung, betonte aber zugleich, er wolle, dass sie »erfolgreich ist, um Leben zu retten und den Lebensunterhalt der Bürger zu sichern«. Schließlich sei das »eine nationale Anstrengung«, bei der sich »alle fragen sollten«, was sie »zusätzlich beitragen können«. Ob Keir Starmer die Labour Party wieder zu neuen Höhen führen und womöglich den unter Corbyn verabschiedeten »Green New Deal« mit Leben füllen kann, ist die große Frage. Ein erneuter Eintritt in die EU steht für ihn »in absehbarer Zukunft« zweifellos »nicht auf der Tagesordnung«.

 

 

Die große Ausstellung »Friedrich Engels – ein Gespenst geht um in Europa« im Wuppertaler Engels-Haus muss geschlossen bleiben. Erschienen ist gerade der bildreiche und informative Katalog, für den auch Johann-Günther König einen Beitrag verfasst hat. Lars Bluma (Hg.): »Friedrich Engels. Ein Gespenst geht um in Europa«, Historisches Zentrum Wuppertal, 24 €.