erstellt mit easyCMS
Titel920

Merkt das denn keiner?  (Harald Kretzschmar)

Das menschliche Wahrnehmungsvermögen ist keineswegs unendlich. Ja, mitunter hat man den Eindruck, es ist von Fall zu Fall recht eingeschränkt. Das ist in Punkten ganz besonders deutlich, auf die wir im Allgemeinen den allergrößten Wert legen. Bequemlichkeit ist dann nur der Ausdruck dafür, dass wir der leiblichen Güterversorgung den höchsten Rang einräumen. Stichwort Pandemie-Krise: Da legen wir Wert darauf, alles zur Verfügung zu haben, was wir für unentbehrlich halten. Was lebensnotwendig scheint – da driften die Vorstellungen bereits weit auseinander. Visionen von Notlagen sind ein weites Feld.

 

Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Alle Lebensmittel dieser Welt allein machen ihn nicht glücklich. Der Witz ist – er merkt in der Regel nicht, was ihm fehlt. Kaum zu glauben: Wenn erst hinterher die Erkenntnis dämmert, wie wichtig etwa ein liebender Lebenspartner oder wie gedeihlich eine befriedigende Berufstätigkeit sein kann. So ist es oft genug mit den sogenannten kulturellen Bedürfnissen. Umfragen dazu bringen so gut wie gar nichts. Seltsam bedürfnislos kommt eine passive Lebenshaltung zum Ausdruck, die erst mobilisiert werden muss.

 

Der Mensch der modernen Zivilisation soll zwar stets das Beste schaffen. Aber seine effektiven Chancen dafür, schöpferisch zu werden, sind arg eingeschränkt. Auf Schritt und Tritt trifft er auf die Hemmnisse der Wirtschaftlichkeit. Global ist er zum passiven Konsumentendasein verdammt. Sein permanent gestresster Geist wird ständig mit Unterhaltungskost gefüttert. Bitte keine falsche Bescheidenheit, möchte man dazwischenrufen, nimmt man tagtäglich die televisionäre Grundversorgung zur Kenntnis. Seid ihr ernstlich zufrieden mit dem Durchschnittsniveau der Fernsehbeiträge? Das Verwirrspiel der sogenannten sozialen Medien tut ein Übriges. Die vorgegaukelte Freiheit von Facebook führt ins Niemandsland der Orientierungslosigkeit, wo nur noch brutale Gewaltexzesse Markierung geben.

 

Gerade das freiwillig verordnete Eingesperrtsein ganzer Bevölkerungen in ihre vier Wände muss den Fernsehsendern doch sensationelle Einschaltquoten bescheren. Wieso funktioniert die mediale Befreiung von Ängsten und Besorgnissen dabei nicht so recht? Ununterbrochen reizt nur das Stichwort Corona die Gemüter weiter auf. Statt qualitätvoll kulturvoll zu bilden, wird amüsiert. Das aktuell Produzierte beschränkt und blöd. Als Ausgleich wirft man die Konserve bewährter Dauerbrenner relativ planlos ins Gefecht. Jede Musiksendung im Radio wird umständlicher erklärt als die vielen Teleformate. Gleichförmigkeit ist die Regel, Innovation die Ausnahme. Casting und Redigieren gehorchen dem marktgängigen Zeitgeist. Das fördert kaum künstlerisch Überzeugendes. Die Flut aufregender Krimis bringt das nicht.

 

 Verblüffend ist das Überschwappen sentimental-lehrhafter Werbeästhetik auf alle Lebensbereiche. Wo die visuelle Kultur auf schönfärberischen Fotografismus genormt ist, finden penetrante Werbesprüche nur noch ihre typografisch-bildliche Ergänzung im gestalterischen Chaos. Was ich jeden Morgen an bedrucktem Reklamepapier im Briefkasten vorfinde, markiert das unterste Niveau gestalterischer Hilflosigkeit. Alles, was jemals nur annähernd an künstlerischer Gestaltung dafür erfunden wurde, ist über Bord geworfen. Briefmarken auf den Postsachen waren einmal kostbar köstliche grafische Erlebnisse. Im Wesentlichen ist das vorbei. Kein Reim und kein Bildwitz erfreut mein Verbraucher-Gemüt mehr. Die in ihren besten Zeiten als Reklame bezeichnete Werbung, zur humorfreien Zone geworden, überwuchert nun massiv alles andere. In Notzeiten wie denen der Pandemie muss sie womöglich sogar noch mit Fördergeldern durchgefüttert werden. Währenddessen geht etwas so Altmodisches wie Kunst am Bau, wie es scheint, endgültig baden.

 

Wo sind die klingenden Namen von Künstlerinnen und Künstlern, die unserer von der Natur so reich beschenkten Alltagswelt ein ästhetisch annehmbares Gesicht zu geben imstande sind? Namenlos gewordenes Teamwork vernebelt die Urheberschaft von Persönlichkeiten. Jenseits künstlerischer Menschendarstellung gab es schließlich immer sachbezogene Form- und Farbgestaltung. Wir haben so viel auf ganz selbstverständlich kunstvolle Weise bestimmte Lebensqualität bereits geopfert. Die alltägliche Bekleidung betreffenden Modefragen – nun gut, die werden in einer überbordenden Quantität abgehandelt. Die Waren im Supermarkt jedoch verlachen zu einem hohen Prozentsatz einen Standard von Qualität, der Handhabbarkeit und Lesbarkeit vereint.

 

All diese Fragen haben etwas mit Kultur zu tun. Da ist zu viel zurückgefahren worden. Die Pandemie beleuchtet in erster Linie die Defizite in der medizinischen Versorgung. Wer Krankenhäuser aus Kostengründen schließt, tut das erst recht mit Theatern, Ateliers und Musikschulen. Bildungseinrichtungen auf den Prüfstand der Profitabilität zu stellen ist und bleibt ein katastrophaler Fehlgriff. Bildung wie Kultur sind eben Lebensmittel – und nie nur Luxus. Die dürftige Bildung der gegenwärtig tonangebenden Neureichs kennt nur Stars und Events. Der Natur des Menschen dienende kulturelle Lebensqualität sieht anders aus. Da sind geistige Ausstrahlung und Charakter gefragt. Die Voraussetzung für eine Änderung ist eine Frage des Bewusstseins. Wir müssen Kultur einfordern. Oder merkt keiner, dass sie uns abhandenkommt?