erstellt mit easyCMS
Titel920

Bemerkungen

Du bei dir

Lasse die Zeit stehen

worauf wartest du

sei ganz bei dir

Zeit, die nicht kommt

Zeit, die nicht geht

Zeit, die nichts will

 

lausche dem Flug

der Vögel, sieh wie sie

sich wandeln, von der

Heckenbraunelle zur

Grasmücke, vom Zaunkönig

zur Haubenmeise

 

sei du bei dir

Zeit, die nicht kommt

Zeit, die nicht geht

wann willst du lauschen

dem Flug der Vögel

wenn nicht jetzt

Heinrich Peuckmann

 

 

Das Sickergift des Vergessens

Schnell getextet, in Windeseile von Berlin in alle Himmelsrichtungen und auch bis nach Hamburg geweht: der Song »Saigon ist frei« des Oktoberklubs mit dem eingängigen Refrain »Alle auf die Straße/Rot ist der Mai/Alle auf die Straße/Saigon ist frei«.

 

Wir sangen die Liedzeilen während des Marschierens auf der gewerkschaftlichen Demonstration zum 1. Mai 1975. Am Vortag, dem 30. April und damit vor genau 45 Jahren, war Saigon gefallen, am 1. Mai kapitulierte die von den USA im Stich gelassene südvietnamesische Regierung. Die direkte Kriegsbeteiligung der USA hatte schon mit der am 27. Januar 1973 unterzeichneten Vereinbarung des Waffenstillstands zwischen Nordvietnam und den USA geendet, der letzte US-Soldat hatte am 23. März 1973 Südvietnam verlassen. Aber Waffenlieferungen an das südvietnamesische Regime und die Tätigkeit amerikanischer »Berater« waren weitergegangen.

 

Passend zum Jahrestag hat Günter Giesenfeld (82) unter dem Titel »Kontext Vietnam – Historische Feinanalysen und politische Perspektiven« ein Resümee seines Engagements vorgelegt. Seit 1969 ist er in der Vietnambewegung aktiv. 1976 war er Gründungsvorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam, an deren Spitze er auch heute noch steht. Seit 50 Jahren begleitet er publizistisch die Entwicklung des Landes mit Reportagen von seinen Reisen und Begegnungen sowie mit Reflexionen über den antikolonialen und antiimperialistischen vietnamesischen Kampf.

 

Sein aktuelles Sachbuch wird von der Sorge begleitet, dass in Anbetracht des zeitlichen Abstands das Sickergift des Vergessens immer häufiger Bestrebungen begünstigt, die US-amerikanische Aggression umzudeuten und im Sinne aktueller geopolitischer Interessen zu »entschärfen«.

 

Giesenfeld schreibt dagegen an. In dem »Arbeitstagebuch 1983« gibt er einen Einblick in die ersten institutionellen Freundschaftsbemühungen zwischen bundesdeutschen Aktivisten und vietnamesischen Partnern. Fast ein Buch im Buche ist das anschließende 150 Seiten umfassende Kapitel über den Vietnamkrieg (»Von Dien Bien Phu nach Genf«). Ihm folgt eine kritische Analyse der viel gelobten Fernsehserie des US-amerikanischen Senders PBS, die vor einiger Zeit auch von Arte in einer eigenen Schnittfassung gesendet wurde, nach Giesenfeld »nur ein neuer Versuch, US-Kriegsverbrechen in Vietnam als ›Tragödien‹ zu verharmlosen«. Giesenfeld wirft auch einen Blick auf »Kambodscha nach dem Krieg« (1979) und porträtiert abschließend international bekannte vietnamesische Schriftsteller.

 

Was die Prognose für das Engagement angeht, »dem all diese Texte entsprungen sind«, so ist er eher pessimistisch: »Solidarität, das war mal, ist man versucht zu resignieren. Aber auch hier gilt: Wenn überhaupt, kann nur aus der Analyse dessen, was in unserem Beisein, aber gegen unseren Willen in unserem Land und in unserer Welt passiert, eine Perspektive entstehen. Wir werden sie suchen und finden, ohne das Davorliegende zu entsorgen.«

 

Klaus Nilius

 

 

Günter Giesenfeld: »Kontext Vietnam«, Argument Verlag, 362 Seiten, 22 €. Anm. K. N.: Die Metapher vom »Sickergift« fand ich bei Siegfried Lenz in »Der Überläufer«, S. 101, dem 2016 posthum erschienenen Roman aus den Jahren 1951/52.

 

 

Kleiner Erfahrungsbericht

Die Frankfurter Innenstadt ist leer und still an diesem trüben und kühlen Ostermontag. An der Hauptwache steht einsam ein Polizeiwagen. Der Platz neben der Paulskirche liegt verlassen. Auf dem Römerberg sitzen zwei Männer auf einer Bank. Am Durchgang zum Main sind drei Wagen mit Polizisten postiert.

 

Es ist 13 Uhr – der Zeitpunkt, zu dem hier die diesjährige Antikriegskundgebung hätte beginnen sollen.

 

Die Justitia vom Gerechtigkeitsbrunnen ist wegen Renovierung abmontiert. Am Bauzaun hängt ein Zettel mit der dringenden Forderung, dass den Armen geholfen werden soll.

 

Als B. sich, ordentlich maskiert, für ein Erinnerungsfoto vor den Brunnen stellt und eine Abbildung mit dem Ostermarschplakat von 1965 hochhält, kommt eine Frau hinzu, die ein DIN-A4-Blatt mit Bildern und Parolen zum Tag in der Hand hat. Sie wird mitfotografiert.

Da schalten sich die beiden Männer ein. Vor einer Stunde seien einige andere da gewesen, mit Plakaten und Fahnen als ob nichts wäre. Sofort sei Polizei gekommen und hätte sie zum Verlassen des Platzes aufgefordert, da ja jede Demonstration untersagt sei. Die Beamten hätten nicht so gewirkt, als seien sie besonders glücklich bei ihrem Tun.

 

Kaum reden die Anwesenden ein wenig miteinander, mit gehörigem Abstand, da schlendern auch schon vier Polizisten auf sie zu. Schnell wird noch mehr Abstand voneinander genommen, so dass von einer Gruppenbildung schon gar keine Rede mehr sein kann. »Paare, Passanten« wäre der richtige Ausdruck für die Szene, unter Verwendung eines alten Buchtitels von Botho Strauß, bevor der nach rechts abwanderte.

 

Die Polizisten kehren um, besteigen ihre Autos und fahren weg.

 

Auf dem Rückweg schaut B. noch kurz in die Kirche am Liebfrauenberg, deren Tür einladend geöffnet ist. Die Altäre sind beleuchtet, drei Besucher*innen verlieren sich in den Bänken.

 

Gegenüber stehen ein paar Obdachlose unter dem Vordach eines Ladens, um sich vor dem einsetzenden Regen zu schützen. Darunter »Eisenbahn-Reiner«, über die Stadt hinaus bekannt geworden, weil das Ordnungsamt ihm einmal seinen Platz wegnehmen wollte, wogegen sich heftiger Protest erhob. Wie immer hat er seine Spielzeugbahnen und die Zeitungsartikel, die über ihn berichten, mitten auf der Fußgänger-Gasse ausgebreitet. B. fragt ihn, ob sie miteinander teilen, und gibt ihm nach dem Ja einen Schein.       

Reiner Diederich

 

 

Der portugiesische Weg

Portugal trotzt dem Virus besser als der große Nachbar Spanien. Die Grenzen zu Spanien hatte Portugal rasch dichtgemacht. Schulen, Bars und Diskotheken sind geschlossen. Eine Ausgangssperre gibt es allerdings nicht. Trotz der zunächst geringen Fallzahlen hielten sich die Portugiesen von Anfang an strikt an die Vorgaben der Regierung. Anders als in Spanien gab es in Portugal keine politisch motivierten Debatten – die Opposition unterstützte die linke Minderheitsregierung von Anfang an. Vielleicht ist sich Portugal der Verwundbarkeit seines Gesundheitssystems bewusst. Nach den neuesten vergleichbaren Daten hat das Land von allen Staaten der EU pro Kopf am wenigsten Intensivpflegebetten.

 

Portugal fiel auch durch ein Dekret auf, das Ende März allen Migranten, die eine Aufenthaltsbewilligung beantragt hatten, Bleiberecht und insbesondere auch einen Anspruch auf Gesundheits- und Sozialversicherung gewährte.

 

Die Linksregierung Portugals hat angekündigt, alles zu tun, um die Rezession abzuschwächen. Doch ihr Handlungsspielraum ist begrenzt. Das nach der Finanzkrise mühsam verringerte Defizit beträgt immer noch 120 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung und gehört zu den höchsten im Euro-Raum.                        

 

Karl-H. Walloch

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

Wie frech, und dabei urkomisch, Woody Allen seine Jugend beschreibt, das Straßenjungen-Dasein eines kleinen Allerweltsgauners namens Konigsberg, der in Brooklyn zuhause ist, wo er mit Karten- und Münztricks und gezinkten Golfbällen Beutedollars einstreicht, die er am Times Square von Manhattan für Fast Food und Kinokarten verjubelt, für Movies, die ihn begeistern und immer wieder die Schule schwänzen lassen, die den Witzbold in ihm wecken, den Komödianten, der Lachsalven auszulösen vermag und unbändiges Schenkelschlagen und der über kurz oder lang unter frischem Namen zum Mimen in Boulevardstücken reift: Woody Allen, ein Tausendsassa. Das alles erzählt er in lockerem Straßenjargon. Erst als er seine eigentliche Berufung zu ahnen beginnt, er den Ablauf kleiner Spielfilme entwirft, die er schließlich realisiert – oft mit sich selbst im Mittelpunkt – wird sein Erzählstil ernster, strenger, gesetzter. Wir erfahren, wie er Mitarbeiter gewinnt, Könner im Filmemachen, Skriptschreiber, Kameraleute, Schauspieler und Schauspielerinnen, die versiert sind. Er, der Direktor, wird sie getrost machen lassen, wie sie es anbieten. Kaum einen Blick braucht es, kaum ein Wort der Anweisung, und sie setzen um, was im Drehbuch steht oder spontan von ihm, Woody Allen, entwickelt wird – Klappe zu, fertig, aus! Oh, Allen liebt seine Mimen, lobt sie, hebt sie in den Himmel. Quer durch die Autobiographie findet sich kein kritisches Wort über all jene, die dazu beigetragen haben, seine Filme weltweit bekannt zu machen. Kritisch ist Woody Allen nur gegen sich selbst. Er weiß, dass er kein Fellini ist, kein Ingmar Bergman, vergleicht seine Dichtkunst nicht mit der eines Clifford Odets, eines Eugene O’Neill, eines Tennessee Williams. Er gibt sich bescheiden. Das ringt Achtung ab, Bewunderung für seinen Arbeitseifer, seine Zähigkeit, seine immer wieder beachtliche Leistung und dafür, wie er, arbeitend, arbeitend, arbeitend, der Welt die Stirn bietet, er Verleumdungen und Gehässigkeiten aushält und es erträgt, dass von übler Nachrede stets etwas hängen bleibt. Obwohl er von jeglichem Kindesmissbrauch an seiner damals siebenjährigen Adoptivtochter Dylan freigesprochen und nie auch nur eine Verwarnung gegen ihn erhoben wurde, wird 35 Jahre lang der Schatten des Verdachts über ihm schweben – bis hin zur MeToo-Kampagne, die auch ihn erfasst. Die New York Times lässt in einem Beitrag unerwähnt, dass ihn, unabhängig von einander, zwei große bundesstaatliche Untersuchungen von jeglichem Kindesmissbrauch entlasteten – »er streitet es ab«, vermerkt die Zeitung lediglich. Da ist Woody Allen im 84. Lebensjahr. Al Capone, schreibt er, hat es auch abgestritten, nicht anders die Angeklagten im Nürnberger Prozess. »Hätte ich es getan, hätte auch ich es abgestritten.« Erst viel später wird ihm die New York Times die Gelegenheit zu einer Erwiderung geben – die jedoch erzielt die nötige Wirkung nicht. »Ich muss schon sagen«, schreibt Woody Allen resigniert, »dass ich gestaunt habe, wie viele aus meiner Branche einfach umgekippt sind …« Ach ja, MeToo! »Wie groß doch die Versuchung ist, sich mit einem risikofreien Standpunkt in der Öffentlichkeit zu sonnen …«    

 

W. K.

 

 

Woody Allen: »Ganz nebenbei«, Autobiographie aus dem Englischen von Stefanie Jacobs, Hainer Kober, Andrea O’Brien und Jan Schönherr, Rowohlt Verlag, 448 Seiten, 25 €

 

 

Couscous und Film

Bernd Schirmer, kürzlich achtzig geworden, hat in seinem Leben einen dicken Packen an Geschichten, Romanen und Drehbüchern verfasst. Noch immer aber findet er »Geschichten aus verflossener Zeit«. So heißt ein Bändchen in dem kleinen, feinen Granseer Verlag Edition Schwarzdruck, der zum Beispiel auch von Steffen Mensching eine umfangreiche Gedichtauswahl herausbrachte.

 

Der Verleger heißt Marc Berger, der Ausstatter Roland Berger, die Nachwortschreiberin für Schirmer Christel Berger. Ein Familienunternehmen, das dem Erzähler Bernd Schirmer bestens gerecht wird. Er hatte mit dem Roman »Schlehweins Giraffe« 1992 einen kleinen Bestseller, mit »Silberblick« 2017 ein autobiografisches Werk von Rang veröffentlicht. Mit siebzig Folgen der ZDF-Serie »Der Landarzt« gehörte er auch nicht zu den Autoren, die am Hungertuch nagen mussten.

 

Dennoch, so scheint mir, werden seine klug gesponnenen, humorvollen, atmosphärisch dichten Geschichten unterschätzt. Wie genau er eine vergangene Welt wiederzugeben weiß, dafür zwei Beispiele aus diesem Band. »Der große Couscous« erinnert an Schirmers Lektorenzeit in Algerien. Immer mal wieder tauchen später im Berliner Heim algerische Freunde auf, die mal gen Kommunismus, gen Islam oder gen jungen Nationalstaat tendieren, arabisch oder französisch sich verwirklichen wollen. Sie wundern sich, wenn die Frau des Hauses Kopftuch trägt, ohne dies einer Krankheit zurechnen zu können.

 

Die satirische Groteske »Der Film« wiederum nimmt all den Blödsinn hopp, der die deutsche, demokratische, sozialistische Filmproduktion kennzeichnete. Man muss kein Kenner der einstigen Kulturpolitik sein, um oft herzhaft lachen zu können – und gelegentlich wenig heitere, eher bittere Gefühle beim Abschied des Sozialismus aus dem Lande DDR zu empfinden.                     

 

Matthias Biskupek

 

 

Bernd Schirmer: »Das leise Ticken der Sonnenuhr. Geschichten aus verflossener Zeit«, Belege wiedergefundener Lesestoffe Nr. 25, Edition Schwarzdruck, 116 Seiten, 14 €