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Titel1318

Besser spät als nie!  (Ralph Dobrawa)

Die Verfolgung von Nazigewalttaten ist eines der traurigsten Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik. Jahrzehntelang hat man sich schwergetan, bekannte Täter zu verfolgen oder noch unbekannte zu ermitteln. Die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren durch die Justiz durchgeführten Verfahren sind relativ überschaubar und stehen in keinem Verhältnis zu begangenem Unrecht und in Betracht kommenden Tatverdächtigen. Die Gründe hierfür sind vielfältig.

 

Während es vor allem in den fünfziger Jahren das kollektive Schweigen war, wohl mitunter auch wegen des eigenen schlechten Gewissens und eventuell drohender Konsequenzen, so wurde ein Jahrzehnt später mehr damit argumentiert, dass doch nun alles schon »so lange her« sei. Solche Art Rechtfertigung ist völlig ungeeignet, irgendeiner Strafverfolgung wirksam begegnen zu können und doch hat dieses Vorgehen in vielen Fällen – auch rückwirkend betrachtet – scheinbar funktioniert. So erreichte mancher Täter, der statt auf dem heimischen Sofa zu sitzen oder nach Italien in die Ferien zu fahren, eigentlich hinter Gitter gehört hätte, den Altersruhestand oder gar das natürliche Ende seines Lebens, ohne je behelligt worden zu sein. Die Bilanz ist ernüchternd. Hinzu kam eine Rechtsprechung, die eine Verurteilung zusätzlich erschwerte und dadurch Schlupflöcher schuf, die so mancher ehemalige SS-Scherge oder KZ-Aufseher für sich zu nutzen wusste. Manche fielen aus noch anderen Gründen durch die Maschen. Mahner gegen diese Art Rechtspflege gab es zwar, aber ihre Stimmen blieben unbeachtet. Mit Verjährungsregelungen der verschiedensten Art rettete man viele Täter, weil nach 1960 bis auf Mord alle anderen NS-Verbrechen nicht mehr verfolgbar waren. Solche Regelungen sind bequem und entlasteten nicht nur die Justiz. Sie schufen einen vermeintlichen »Frieden«, der keiner war und spätestens durch die 1968er aufgegriffen und heftig angeprangert wurde. Da saßen sie ja noch beziehungsweise schon wieder: diese Gesinnungslumpen, die sich erst Hitler willfährig angedient hatten und dann Adenauer zur Seite standen, der sie zurück in die Ämter und Gerichtsstuben holte, als wäre nichts gewesen. Man könne eben schmutziges Wasser nicht wegschütten, solange man kein frisches habe, war seine Parole. Sein Staatssekretär Globke, der einst die Nürnberger Rassegesetze kommentiert hatte, opponierte erwartungsgemäß nicht gegen diese Vorgehensweise. Späterhin ging er gemeinsam mit »seinem« Kanzler in den Ruhestand. Trotz so mutiger Einzelkämpfer wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der allen Anfeindungen trotzend den Frankfurter Auschwitz-Prozess durchsetzte, sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis sich endlich der Wind drehte.

 

Seit dem durch das Landgericht München ergangene Urteil gegen Demjanjuk, welches der Bundesgerichtshof aufgrund dessen Todes vor Abschluss des Revisionsverfahrens nicht mehr bestätigen konnte, gilt: Wer »Rädchen im Getriebe« der Mordmaschinerie war, egal auf welche Weise er sich daran beteiligte, muss auch für seinen Tatbeitrag geradestehen und sich zurechnen lassen, was andere –  mitunter nur einige Meter entfernt – Menschen antaten, wenn sie diese erschossen, erhängten oder vergasten. Die den Mord unterstützende Handlung war immer strafbar. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, einem Bankräuber, der als Dritter im Bunde außerhalb der Sparkasse »Schmiere« steht, Straffreiheit zuzubilligen und ihn nicht als Tatbeteiligten anzusehen. Durch das spätere Urteil gegen den »Buchhalter« von Auschwitz erfuhr diese Rechtsauslegung auch die Billigung des Bundesgerichtshofs, der bereits vor zwei Jahrzehnten das Versagen seiner eigenen Behörde bei der Verfolgung von Naziverbrechen eingeräumt hatte. Offensichtlich hat diese Rechtsauslegung dazu geführt, dass auch wieder stärker nach noch lebenden Tatverdächtigen gesucht und gegen solche ermittelt wurde. Die 1958 gegründete Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg stieß so noch auf den einen oder anderen, wenngleich dieser in der Regel schon das 90. Lebensjahr überschritten hatte.

 

Die Hinterbliebenen der Opfer haben immer wieder deutlich gemacht, dass es ihnen nicht auf eine vorgegebene Strafe ankommt oder den Vollzug einer solchen in einer Haftanstalt, sondern auf die Feststellung der individuellen Schuld der Täter und die Übernahme von Verantwortung für Geschehnisse, die jeglicher Menschlichkeit entbehrten.

 

Wir alle, auch die Nachgeborenen, sind den Opfern schuldig, festzuhalten: Es war schreiendes Unrecht, was ihnen angetan wurde, und kann in keiner Weise die Billigung der zivilisierten Menschengemeinschaft finden, mag auch noch so viel Zeit seit den Taten vergangen sein.

 

So ist es beachtenswert, dass Frank Lüttig und Jens Lehmann jetzt einen Band herausgegeben haben, in dem Strafverfolger, Nebenklagevertreter und Wissenschaftler zu Wort kommen und sich mit der hier beschriebenen Materie, ihrer früheren und jüngeren Entwicklung auseinandersetzen. Das alles passiert in dem Bestreben, deutlich zu machen, dass den Opfern späte Gerechtigkeit widerfahren muss. Unter den Autoren sind auch bekannte Namen zu finden wie der Kölner Hochschullehrer Cornelius Nestler oder der Rechtsanwalt Thomas Walther, die beide Nebenkläger im »Auschwitz-Buchhalter-Prozess« vertraten, oder der amtierende Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle Jens Rommel. Jeder trägt aus seiner Sicht in einem eigenen Aufsatz etwas zur Sache bei. Es geht – wie der Untertitel des Buches verrät – um »Genugtuung für Opfer und Angehörige, Schwierigkeiten und Versäumnisse der Strafverfolgung«. Wie man den Medien entnehmen konnte, wird auch weiter aufgeklärt, unter anderen in fünf Ermittlungsverfahren gegen ehemalige »Bedienstete« des KZ Buchenwald, deren Akten inzwischen von Ludwigsburg an die Erfurter Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Die mit dem vorliegenden Band neu ins Leben gerufene Schriftenreihe der Generalstaatsanwaltschaft Celle sollte unbedingt fortgesetzt werden. Sie ist allen Interessierten nachhaltig zu empfehlen.

 

Frank Lüttig/Jens Lehmann (Hg.) »Die letzten NS-Verfahren«, Nomos Verlag, 263 Seiten, 69 €