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Titel1811

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

In den Barockzeiten des Feudalismus ließ sich fast jeder Monarch ein prächtiges Hoftheater errichten. Manche Fürsten hielten sich große Autoren als Hofdichter und Theaterleiter. Shakespeare und Goethe seien genannt. Weimar war besonders theaterfreudig, nach Goethe leiteten Schriftsteller wie Heinrich Laube und Ferdinand Dingelstedt die Hofbühne. Ludwig II. von Bayern liebte vor allem Wagner und dessen Festspielhaus, das dann auch andere Potentaten anzog, Potentaten, Hitler inklusive.

Und welche Beziehung zur Bühnenkunst pflegen bürgerlich-parlamentarische und sozialistische Politiker? Wenn sie ins Theater gehen, dann offenkundig meist aus Prestigegründen. Ausnahmen waren Wilhelm Pieck, Staatspräsident der DDR, der Kontakt zu Künstlern suchte und sich in den Notzeiten nach dem Weltkrieg um sie kümmerte, und auch Otto Grotewohl als Ministerpräsident. Spätere bevorzugten Sportstadien.

Die Bundeskanzlerin ist Stammgast in Bayreuth. Kürzlich las ich von der »bedingungslosen Verbundenheit von Frau Merkel mit dem politisch höchst krisenträchtigen Komplex Bayreuth« (Nike Wagner). Das ist schon schwieriger zu beurteilen.

In diesem Jahr besuchten mehrere Politiker in Berlin neue Inszenierungen der »Weber« und des »Biberpelz« von Gerhart Hauptmann. Die Ur-Fassung der »Weber« war 1891 im schlesischen Dialekt entstanden, uraufgeführt wurde das Stück 1893 als private Veranstaltung der Freien Bühne im Neuen Theater Berlin; im gleichen Jahr war es bereits im Pariser Théatre Libre zu sehen, von Emile Zola gelobt; 1894 folgte dann die öffentliche Ur-Aufführung im Deutschen Theater Berlin, inszeniert von Cord Hachmann mit Max Reinhardt als Kittelhaus; der Kaiser mochte sie nicht. 1910 inszenierte Reinhardt selbst, viele Regisseure taten es ihm nach, jüngst nun Michael Thalheimer.

Leider eine platte Inszenierung. Es erschienen unter anderem die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende, der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der dann feststellte, er habe eine »bemerkenswerte Aufführung« gesehen, in der »man sich mit der Frage nach oben und unten in einer Gesellschaft überhaupt noch auseinandersetzt«. Der Fraktionschef der CDU, Volker Kauder, meinte warnen zu sollen, das Stück »eignet sich nicht für Klassenkampfparolen«, die Fabrikanten hätten doch damals im Weberaufstand ihre Maschinen verloren. Nun, er sollte einmal das Stück lesen, da spürt man schon einiges von Klassenkampf. In dieser Inszenierung freilich nicht. Wie meist wird bei Thalheimer viel geschrieen, doch das macht noch keinen Klassenkampf. Einzig Horst Lebinsky als Kittelhaus hat mal leise Töne, denen man zuhört. Just diese aber wurden belacht. Schade!

Das aufgesetzte Schlesisch klingt entsetzlich. Wozu der Belebungsversuch einer alten, inzwischen ausgestorbenen Regionalsprache, die keiner mehr richtig sprechen kann noch auch richtig versteht? Von Hauptmann sollte man aber nicht ablassen; der hatte auch zu den bürgerlichen Krisen einiges zu sagen.

Einer, der oft ins Theater geht, ist Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender der Grünen. Er zeigt, zum Beispiel kürzlich in einem Interview des Tagesspiegel, Interesse, Kennerschaft und Urteilskraft. Anrührend spricht er über seine Bremer Erlebnisse aus der Hübner-Zeit, aus der Wilfried Minks, Peter Stein und Peter Zadek hervorgingen. Oder die Schauspieler Angela Winkler und Bruno Ganz.

Kürzlich habe er sich besonders gut befunden beim Berliner Theatertreffen, und zwar beim Gastspiel des »Biberpelz« in der Regie des ehemaligen Volksbühnen-Schauspielers Herbert Fritsch. Erfrischend die Sicht: Mutter Wolffen sei keine Heldin, sie sei ebenso niederträchtig wie die Obrigkeit. Sehr richtig, freilich nur zeitweise von Literaturgeschichte und sogenannter Vorbild-Dramaturgie überdeckt: Das hatte schon Brecht entdeckt, und man konnte es 1951 bereits bei Therese Giehse so sehen. (Das Berliner Ensemble hatte in der Inszenierung von Egon Monk dem »Biberpelz«, um neben der realsozial bedingten »Vernünftigkeit« auch Mutter Wolffens Schäbigkeit deutlich zu machen, noch den »Roten Hahn« hinzugefügt – und die Giehse spielte alles.) Jedenfalls hat sich Trittin »köstlich unterhalten«. Ich auch.

Genug von Hauptmann. Theatergeher Trittin machte noch auf anderes aufmerksam, was auch uns nicht entgangen ist, darunter zwei Komödien-Klassiker vom Hexenkessel-Hoftheater, das man in Berlin-Mitte in der Nähe des Bode-Museums findet: Goldonis »Der Diener zweier Herren« und Molières »Der eingebildete Kranke«. Doch damit hat sich das leistungswillige Ensemble übernommen. Solche Klassiker haben Inszenierungstraditionen, die man nicht völlig übersehen sollte. Molière hat in Berlin durch Besson, Bondy und Kortner, international durch Barrault und Planchon ästhetisch so viel gewonnen, daß seitdem höhere Maßstäbe gelten müssen; gleiches gilt für Goldoni durch Strehler in sieben Inszenierungen zwischen 1947 und 1990 oder in Berlin durch Rolf Ludwig. Das heißt nicht, daß man kopieren soll. Aber wenigstens zur Kenntnis nehmen. Jedenfalls sollten solche Stücke nicht im geschichtsleeren Raum spielen. Und nicht so laut, bitte!

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Ich verbrachte einige Abende in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Silvia Rieger, diese gute Schauspielerin, hat einen unbefriedigten Ehrgeiz, Regie zu führen und dazu die Titelrolle zu spielen – und das auch noch in Gorki/Brechts »Die Mutter«. Schon ihr »Faust« war eine Katastrophe. Und nun dieses schwere Stück, zu dem es gute Vorlagen und Vorbilder gibt – es muß nicht Helene Weigel sein. Hatte ich beim Hexenkessel-Hoftheater die zu geringe Arbeit mit Geschichtsmaterial moniert, so hier die zu starke Anlehnung daran.

Brecht wie sein russischer Vorläufer gingen auf ihre Zeit ein, und das ist die Pflicht jedes Theaters, das sich politisch oder gesellschaftlich verantwortlich fühlt. Aber damit meine ich nicht diese Oberflächen-Aktualität, bei der Hannibal im Mercedes ankommt und Hamlet Jeans trägt. Es muß begreiflich werden, warum man dieses Stück heute und hier spielt und ob es uns etwas angeht. Es geht uns verteufelt viel an, diese Aufführung so gut wie nichts. Auch wenn Rieger und Pascale Schiller klar sprechen, die eine kultiviert dozierend, die andere schreiend. Hätte Rieger nur diese große Rolle gespielt und einen guten Regisseur inszenieren lassen – es wäre besser gewesen. Beides zugleich schafften bislang nur wenige ganz Große.

Im neuen Pollesch »Schmeiß dein Ego weg« mit Martin Wuttke und Margit Carstensen wird mit Teufelskraft gespielt – aber im Grunde um nichts. Die Carstensen ist eine schöne Frau und gut angezogen, und Pollesch hat eine Art blauer Husaren-Uniform an, bewußt nicht stilecht, und raucht. Es soll um richtiges Leben oder um falsches, um falsches im richtigen oder um richtiges im falschen gehen – außerdem um Körper. Nichts Genaues weiß man nicht. Zum Glück dauerte es nur eine Stunde. Ein kleiner Aufwand wurde schmählich vertan.

Clemens Schönborn inszenierte »Die Kameliendame« vom jüngeren Alexandre Dumas, den Stoff kennen die meisten durch Verdis »La Traviata«. Und so spielte man Musik aus der Oper ein. Eigentlich ist das Stück durch die Oper überflüssig geworden, doch die Volksbühne hatte einen Grund, es zu spielen, weil sie einen Trumpf hatte: Sophie Rois als Hauptdarstellerin – die machte alles gut: charmant, elegant, ordinär und ein klein wenig tragisch. Die Männer wie Hendrik Arnst, Jean Chaize, Kai-Ingo Rudolph und Hans Schenker hatten es daneben schwer, ausgenommen Zazie de Paris, der immer für eine Schelm-Nummer gut ist.

»Diamanten sind Kohle auf Arbeit« – dieser schwerfällige Titel, der uns die Entstehung von Diamanten klarmachen will, was nicht nötig ist – steht nun für »Onkel Wanja« des dramatischen Großmeisters Anton Tschechow. Der Pole Pawel Demirski hat das Stück bearbeitet, der Regisseur der Aufführung ist ebenfalls Pole: Wojtek Klemm, einst Direktor eines eher unwichtigen polnischen Theaters, welches einen Glanznamen polnischer Literatur trägt: Cyprian Kamil Norwid (1821–1883). Der große Romantiker war ein Dichter ersten Ranges, doch schwacher Dramatiker. Von Norwid scheint Demirski just die schwache Seite und nicht das außerordentliche Ingenium abbekommen zu haben. Diese Tschechow-Bearbeitung ist überflüssig – der Meister muß nicht verschlimmbessert werden. Alles steht schon bei Tschechow, auch die Profitwirtschaft. Es gab im Lauf der Jahre so viele großartige Inszenierungen zwischen Moskau, Berlin und Paris (Ljubimow, Towstonogow, die Langhoffs mehrfach, Grüber, Peter Stein, Chéreau und andere), auch beste Übersetzungen, daß man auf diese gern verzichtet. Die Schauspieler gaben sich Mühe, zumindest Anne Ratte-Polle, Martin Butzke und Axel Wandtke seien genannt.

Die Volksbühne ist produktiv, darum gehe ich immer wieder hin, auch wenn ich mich ärgere. Oft kann man lachen, wie jetzt bei dem alten Schwank von Arnold und Bach, den Herbert Fritsch inszenierte – wieder ein Schauspieler, der als Regisseur reüssieren will. Und als Autor bereits reüssiert hat. Dieser Schwank heißt »Die spanische Fliege« und ist ein bitter entlarvendes Bürger-Lustspiel. Gespielt wird, daß die Fetzen fliegen und man vor Lachen fast am Boden liegt. Die Schauspieler – allen voran die schon genannte Sophie Rois, Wolfram Koch, Inka Löwendorf und Hans Schenker (mit freilich ausgenudelten Hitler-Posen, besser sind die Allah-Anrufe) spielten als gute Profis wie besessene Laien. Neben dem Lach-Theater war dies auch Grusel-Theater – es gruselte einem vor der Gesellschaft, die da gezeigt ward und in der wir leben müssen.