erstellt mit easyCMS
Titel1820

Der stille Beobachter: Hanns Cibulka  (Manfred Orlick)

Der Schriftsteller Hanns Cibulka hatte in der DDR eine treue und rasch wachsende Leserschaft, obwohl er eher ein unspektakulärer und zurückgezogen lebender Autor war. Er setzte sich in den 1980er Jahren mit der Umweltproblematik auseinander und gehörte damit zu den stillen, unabhängigen Kritikern der DDR-Realität. Ein Grund, weshalb man in der Bundesrepublik von ihm kaum Notiz nahm. Selbst im 21-bändigen »Kindlers Neuen Literaturlexikon« (Ausgabe 1996) sucht man seinen Namen vergebens. Zwischen Ostsee und Thüringen erreichten seine Bücher jedoch meist mehrere Auflagen.

 

Am 20. September 1920 wurde Cibulka im mährisch-schlesischen Jägerndorf (Krnov) geboren, wo er auch aufwuchs. Zunächst absolvierte er eine Lehre als Handelskaufmann. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er zur deutschen Wehrmacht eingezogen. In diese Jahre an der Front fielen seine ersten lyrischen Versuche. Am Kriegsende geriet Cibulka in amerikanische Gefangenschaft, die er drei Jahre auf Sizilien verbrachte. In seinem ersten Prosawerk »Sizilianisches Tagebuch« (1960) gab er darüber später Auskunft: »Sizilien hat mich sehen gelehrt.« Und das bezog sich nicht nur auf die mediterrane Landschaft. Seine Herkunft und die italienischen Kriegsjahre, das dunkle Altvatergebirge und die helle, südliche Landschaft sollten bestimmende Elemente seiner Werke werden. Später beschrieb er in seinen Büchern auch immer wieder die Landschaften Thüringens und der Ostsee.

 

Da Cibulka 1948 nicht mehr in seine Heimat zurückkehren konnte, fand er in Thüringen ein neues Zuhause. Hier begann er eine Bibliothekslaufbahn. Von 1949 bis 1951 studierte er an der Bibliotheksschule in Berlin und übernahm 1953 die Leitung der Stadt- und Kreisbibliothek »Heinrich Heine« in der Orangerie Gotha, die er bis zu seiner Pensionierung 1985 innehatte.

 

In den 1950er und 1960er Jahren dominierte noch die Lyrik in Cibulkas Schaffen; die in den Gedichtbänden »Märzlicht« (1954), »Arioso« (1962) oder »Windrose« (1968) aus dem Mitteldeutschen Verlag ihren Ausdruck fand. Hier orientierte er sich an klassischen Vorbildern, drückte sich jedoch meist ohne Reim und in freien Rhythmen aus. Obwohl die Gedichte eine poetische Gestaltungskraft auszeichnete, lösten sie keine literarischen oder gar politischen Debatten aus; es waren eher Gedichte der stillen Beobachtung und der inneren Biografie.

 

Mit »Sanddornzeit. Tagebuchblätter von Hiddensee« (1971) wandte sich Cibulka verstärkt der Tagebuchprosa zu. Diese literarische Form bot ihm die Möglichkeit, Lyrisches mit vertiefenden Reflexionen zu verbinden, Landschaftsbeschreibungen mit Erinnerungen, Alltagsbeobachtungen und Lektüreeindrücken (unter anderem Goethe oder Hauptmann) zusammenzufügen. Sie alle treten gewissermaßen in einen fortwährenden Dialog. »Die Luft steht still, es ist schwül, der Schlaf will nicht kommen. Ich liege wie unter einer riesigen Glocke. Erinnerungen tauchen auf, bis an den Bettrand dringen die alten Landschaften vor. Immer wenn nachts die Eule schreit, ein Vogel klagt, werden die Holzwände durchlässig für die Bilder der Vergangenheit.« Im Berliner Verlag Matthes & Seitz ist das Hiddensee-Tagebuch im Jubiläumsjahr neu aufgelegt worden mit einem äußerst lesenswerten Nachwort von Sebastian Kleinschmidt.

 

In seinen beiden anderen Ostseetagebüchern »Swantow« (1982) und »Seedorn« (1985) griff Cibulka – zwar noch zaghaft und verschlüsselt – auch die Umweltzerstörungen auf, als das Thema in der DDR noch tabu war: »Wir wiegen uns in trügerischer Sicherheit. […] unsere Erde ist in tödlicher Gefahr. Unmerklich verändern sich vor unseren Augen die Erde, das Wasser, die Luft.« Viele Leser verstanden die beiden Tagebücher als eine Aufforderung zum ökologischen Handeln – nicht nur des politischen Systems sondern auch der persönlichen Selbstbeschränkung. In der Tagebucherzählung »Wegscheide« (1988) wiederholte Cibulka seine Mahnung: »Wir stehen an einer Wegscheide: wenn wir den Aufbruch in eine neue Bewusstseinssphäre ignorieren, dieses vorausschauende Denken, den Prozess der Vergeistigung, setzen wir unsere eigene Zukunft aufs Spiel.« Trotz der kritischen Äußerungen erschien 1986/89 mit »Losgesprochen« im Leipziger Reclam-Verlag eine Auswahl seiner Gedichte – mit einem Nachwort von Gerhard Wolf.

 

Neben den vielgelesenen Ostseetagebüchern hatte sich Cibulka bereits in den 1970er Jahren mit den Tagebuchaufzeichnungen »Dornburger Blätter« und »Liebeserklärung in K.« seiner Thüringer Wahlheimat zugewandt. Zusammen mit »Wegscheide« erschienen sie 1993 noch einmal in dem Reclam-Band »Thüringer Tagebücher«. Es sind einfühlsame Naturbeschreibungen und zurückhaltende Beobachtungen seiner Mitmenschen, gepaart mit nachdenklichen Reflexionen.

 

Cibulkas Spätwerk ist weitgehend geprägt von Erinnerungen, die sich verstärkt aufdrängen. Trotz angegriffener Gesundheit unternahm er eine Reise in die mährisch-schlesische Heimat seiner Kindheit (»Am Brückenwehr«, 1994) und erkundete auf einer Italienreise die längst verschwommenen Bilder seiner Kriegsjahre (»Sonnenflecken über Pisa«, 2000). Cibulka reflektierte dabei die Erinnerungen mit den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland, er fragte nach den wirklichen Werten des menschlichen Daseins. Auch in seinem letzten Werk »Späte Jahre« (2004) richtete Cibulka diese Fragen an uns und unsere Zeit. In 45 meisterhaften Miniaturen bilanzierte er seine Lebenserfahrungen. Mit sicherem Sprachgespür und Verdichtungen von hoher Intensität fragte er, was die Biografie eines Menschen ausmacht. Zu seinem 100. Geburtstag ist dieser »Schwanengesang« mit anderen Texten aus den späteren Schaffensjahren im Notschriften-Verlag erschienen – illustriert mit einigen Grafiken des im Vorjahr verstorbenen Malers und Restaurators Gunter Herrmann. Wie der Herausgeber Heinz Puknus in seinem Nachwort betont, meldet sich hier noch einmal »der Kritiker der Gegenwart zu Wort, schon resignativ, dennoch unvermindert engagiert«. Hanns Cibulka, der für sein schriftstellerisches Werk mehrfach ausgezeichnet wurde, starb am 20. Juni 2004 in Gotha.

 

Er wird als Lyriker, aber vor allem als Autor literarischer Tagebücher in Erinnerung bleiben. In seinen Aufzeichnungen finden sich zwar Tages- und Monatsangaben, aber nur selten eine Jahreszahl. Das kalendarische Datum war ihm nicht wichtig, sondern die Jahreszeit, die Schauplätze, die Landschaft, die Natur. In »Sanddornzeit« findet sich eine Hiddensee-Beschreibung: »Im Norden stößt der Dornbusch aus dem Inselkörper hervor, ein bewaldeter Lehmblock mit ausgewaschenen Buchten, in der Mitte liegt die Heidelandschaft, im Süden die exemplarische Ebene, Schilfplätze, Weideland und Röhricht. An die Vegetation schließt sich der Küstenstreifen an, weiße Dünen, leuchtendes Schwemmland. Es ist eine stille, zurückhaltende Landschaft, Farbe und Form treten in den Hintergrund. Doch im Herbst, wenn die Sturmflut über die Insel hereinbricht, wird auch hier das Dämonische sichtbar.« Was für ein Bild!

 

 

Hanns Cibulka: »Sanddornzeit«, Matthes & Seitz Verlag, 86 Seiten, 18 €; Hanns Cibulka: »Späte Jahre. Tagebuchprosa«. Ausgewählt und neu herausgegeben von Heinz Puknus. Mit Graphiken von Gunter Herrmann, Notschriften-Verlag, 232 Seiten, 13,90 €