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Die Russen und ihr Oktober (2)  (Leonhard Kossuth)

Mit einem Beitrag von Alexander Solshenizyn begann in der Moskauer Literaturnaja Gaseta eine kontroverse Diskussion über die Oktoberrevolution. Leonhard Kossuth faßte in Ossietzky 1/08 einige Beiträge zusammen und berichtet hier über den Fortgang dieser Diskussion.

»Wie konnte das geschehen?« fragt der Historiker und Publizist Alexander Gorjanin und antwortet: Die Bolschewiki hätten zunächst weder großen Einfluß gehabt, noch hätten sie selbst mit einer baldigen Revolution gerechnet. Den Weg hätten ihnen aber die überflüssige Abdankung des Zaren sowie Fehler und Unentschlossenheit Kerenskis gebahnt. Die Verschiebung der Verfassungsgebenden Versammlung durch den mit der Februarrevolution zum Regierungschef gewordenen Kerenski sei ebenso unbegreiflich wie die Freilassung der nach einem gescheiterten Versuch der Machtergreifung verhafteten Bolschewiki (Trotzkis und anderer), die daraufhin auf den bewaffneten Umsturz orientiert hätten (»und das in einem kriegführenden Land!«) Noch am 24. Oktober 1917 sei die Machtergreifung der Bolschewiki zu verhindern gewesen, wenn Kerenski so entschlossen gehandelt hätte wie in Frankreich Clemenceau, der hundert meuternde Regimenter durch Gewehrfeuer von Sperr-Kommandos zurücktreiben und in ganz Frankreich über tausend unzuverlässige Personen vorbeugend verhaften ließ. Die damals noch nicht vorhersehbaren Schrecknisse der Sowjetgeschichte hätte es nicht gegeben. »Wir könnten in einem bevölkerungsreichen blühenden Land leben.« Schuld seien auch die Utopien der zwei »Russophoben« Marx und ­Engels.

Der Kapitalismus in Rußland, so der Historiker Leonid Medwedko, habe keine einzige der von Friedrich Engels genannten Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution erfüllt. Deshalb habe sich die Revolution gegen Rußland gekehrt. Die Entwicklung hätte aber einen anderen Weg nehmen können, wäre die russische Dorfgemeinde zum Ausgangspunkt einer sozialistischen Umgestaltung geworden. Der Oktober 1993 habe den Weg für die Restauration des Kapitalismus eröffnet, aber im Gegensatz zu den von Engels formulierten »historisch-progressiven« Zielen des Kapitalismus seien dadurch die unter der Sowjetmacht qualifizierten Arbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler disqualifiziert worden; statt einer Bürgergesellschaft habe eine kriminell-korrupte Kaste obsiegt.

Alexej Muchin, Direktor des Zentrums für politische Information, weist darauf hin, daß die Bolschewiki anfangs von den USA und Europa unterstützt wurden, die statt der Revolution eine Teilung Rußlands erwarteten und sich davon eine erleichterte Kolonisierung seiner Rohstoffe erhofften. Lenins Krankheit, Kaltstellung und Tod ließen Stalin zur Macht kommen, der etwa in Analogie zu Iwan IV. in die Geschichte des Russischen Imperiums (der UdSSR) eingehen wollte. Während er mit Industrialisierung und Kollektivierung heroische Fünfjahrplan-Zyklen inszenierte, wiederholte sich in ihm das Schicksal des »schrecklichen Zaren« – von den Massenrepressionen bis zur familiären Tragödie. Am Ende des 20. Jahrhunderts sei unter Gorbatschow und Jelzin durch Zerfall der UdSSR, Hunger und radikale Deregulierung etwas entstanden, was »Marktwirtschaft« genannt wurde. Mit Putin, der ökonomische und soziale Stabilität stimuliere, hätten sich für Rußland historische Chancen eröffnet.

Angesichts eines Fiaskos der »von Halbgebildeten inszenierten Perestroika« hält es der Historiker Anatoli Gromyko, Sohn des langjährigen Außenministers der UdSSR, für unseriös, vom Tod des Sozialismus und Kommunismus zu sprechen. Der Kommunismus könne schon deswegen nicht gestorben sein, weil es ihn noch gar nicht gegeben habe. Wohl aber habe es sichtbare Fortschritte im Heranwachsen des Sozialismus gegeben, ehe sich Millionen Menschen wegen der Entartungen der Parteiobrigkeit von diesem Prozeß abwandten. Rußland brauche nun eine starke, aber verantwortungsbewußte Führung, die alle demokratischen Mechanismen aktiviert. »Möge Rußland alles Positive von Sozialismus und Kapitalismus in sich aufnehmen.« Zur objektiven historischen Einordnung staatlicher Gewalt in der Sowjetunion verweist Gromyko auf solche Beispiele wie Frankreich, das seine Revolution nicht auf die Jakobinerdiktatur reduziert, oder die USA, die nicht wegen des Genozids an den Indianern oder des Abwurfs von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki nur Trauerkleidung tragen. Die Oktoberrevolution, schreibt Gromyko, sei unabwendbar herangereift, und nur die Bolschewiki hätten damals ein schöpferisches Programm gehabt. Der Sieg über den Faschismus habe die slawischen Territorien davor bewahrt, zur deutschen Kolonie zu werden, und die Juden Europas vor völliger Vernichtung. Jedoch habe eine Theorie für den Aufbau des Sozialismus gefehlt, die nur der 1924 verstorbene Lenin hätte schaffen können. Unter den späteren Bedingungen des »Führertums«, das die Entwicklung von Alternativen verhinderte, und der Abwanderung oder Vernichtung vieler talentierter Menschen habe die Macht der Bolschewiki den Arbeitern und Bauern doch die Möglichkeit geschaffen, ohne ökonomische Ungleichheit zu leben. Als eine besonders schwerwiegende Folge der Oktoberrevolution nennt Gromyko die Zerstörung der zuvor entstandenen Werte-Hierarchie. Die Lehre von den »zwei Kulturen« – der bürgerlichen und der proletarischen – habe die Weitergabe kultureller Errungenschaften von einer Generation an die andere beeinträchtigt.

Unter der Überschrift »Wir werden noch kämpfen« rühmt der Philosoph und Politologe Sergej Kara-Mursa den bäuerlichen Kommunismus der Dorfgemeine, der, von ein wenig Marxismus übertüncht, die philosophische Grundlage der Oktoberrevolution gewesen sei. Und es seien die Bauern gewesen (zum Teil im Soldatenrock oder zu Arbeitern geworden), die die Revolution vollbracht hätten. Das russische Volk bestehe nicht nur aus den satten Intellektuellen der Gorba-tschow-Jahre oder den heutigen selbstsüchtigen Marktwirtschaftlern. Die Sowjetgesellschaft habe sich über vier bis fünf Generationen entwickeln können, bis massenhafte Urbanisierung und westlicher Einfluß zur Krise geführt hätten. Kara-Mursa warnt davor, dem Westen bei der Vernichtung der UdSSR behilflich zu sein, um ein »verlorenes Rußland« wiederherzustellen. Er prophezeit, die Erben der Sowjetordnung würden darum kämpfen, die wesentlichen Strukturen der Sowjetordnung wiederherzustellen.

Der Sozioökonom Jewgeni Paschinzew schreibt, Rußland habe in Gestalt der Sowjetunion den historischen Weg der großen Zivilisation des Ostens (despotische Macht des staatlichen Ganzen, Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum) bis ans Ende verfolgt. Aber auch der Westen sei in eine Sackgasse geraten: Die ökonomische Macht der Monopole überschwemme mit ihren Magensäften die politische Macht, die Sphäre des Geistes sei unter die totale Kontrolle der politischen Parteien und der Massenmedien geraten. Rußland stehe vor der Aufgabe, einen Ausweg zu finden, indem es zwei »moralisch veraltete soziale Einrichtungen« ersetzen müsse: das Privateigentum und die nomenklatorische Kaderauswahl. Eine humanistische Perspektive könne sich nur auf die Institution der Selbstverwaltung gründen.

Der Philosoph Wladilen Burow weist auf die Verelendung der Bauern unter Zar Nikolaus II. hin, die sie zur entscheidenden Kraft im Widerstand gegen die Fortführung des 1. Weltkriegs gemacht habe. 1917 hätten sie nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung dargestellt, sondern auch selbständige Komitees der Bauern- und der Soldatendeputierten (Bauern in Uniform) gebildet, und die Oktoberrevolution sei ebenfalls eine Bewegung der von der Provisorischen Regierung enttäuschten (vor allem bäuerlichen) Volksmassen gewesen. Nicht aus Sympathie folgten die Bauern den Roten, sondern aus Furcht vor den Weißen, die eine Macht erstrebten, in der wieder der Adel, die Gutsbesitzer und die Kapitalisten ihre eigenen Interessen vertreten hätten. Doch die Interessen der Bauern wurden auch von den Bolschewiki mißachtet, deren Führungskräfte in der Emigration vor allem mit europäischen Sozialdemokraten kommuniziert hatten; in jenen Diskussionen hatten die Bauern keine wesentliche Rolle gespielt. Bei dieser Unterschätzung der Bauern blieb es auch in der UdSSR – nicht zuletzt durch Verabsolutierung von Lenins theoretischem Ansatz, daß der Kleinproduzent – also der Bauer – täglich Kapitalismus hervorbringt. Im alleinigen Vertrauen auf das Industrieproletariat als fortschrittlichste Kraft ist nach Burows Darstellung auch die Tragödie der russischen Bauernschaft in den 20er und 30er Jahren begründet. Dieser Politik der KPdSU stellt er die der chinesischen Kommunisten entgegen: Nach Niederlagen in den Städten gab Mao Zedong die Losung aus »Das Dorf umgibt die Stadt«, und an dieser Erkenntnis hielten auch seine Nachfolger fest – bis heute.

Mit diversen Vorwürfen gegen die Oktoberrevolution setzt sich der Philosoph Boris Slawin auseinander. So dem, die Oktoberrevolution sei ein Verbrechen gewesen – als ob nicht jede Revolution ein Bruch mit den Gesetzen der vergangenen Macht wäre. Oder dem, die Oktoberrevolution sei das Werk einer kleinen Gruppe von Verschwörern gewesen – als wäre sie nur ein Putsch gewesen, nicht aber Teil einer schon 1905 begonnenen Volksrevolution zur Machtablösung einer Klasse durch eine andere. Mit den Gesetzen über den Boden und über den Frieden habe die Oktoberrevolution noch bürgerlich-demokratische Forderungen erfüllt, sie sei aber darüber hinausgegangen, indem sie den Räten der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten die Macht übergab und den Boden, den Eisenbahn-Transport, die großen Banken und Werke nationalisierte. So geht der Autor die Geschichte der UdSSR durch und sieht zwei gegensätzliche Tendenzen wirken: eine demokratische und eine bürokratische. Den Beginn des Übergangs vom Totalitarismus zur Demokratie setzt er mit dem 20. Parteitag der KPdSU an. Ein bürokratischer, autoritärer Sozialismus sei dem Wettbewerb mit dem Kapitalismus nicht gewachsen gewesen. Der Anfang der 90er Jahre etablierte liberale Fundamentalismus werde inzwischen von der Mehrheit des Volkes abgelehnt. Slawin plädiert dafür, die besten Züge von Kapitalismus und Sozialismus miteinander zu verbinden – einen Weg, wie ihn China gehe. Dafür findet er Wurzeln schon in der Geschichte Rußlands: die Artele (eine Art Genossenschaften; L. K.) und Kooperativen, denen die Teilhabe am Besitz, Brigade-Verträge, Aktiengesellschaften und selbstverwaltete Arbeitskollektive zu Grunde lagen.

Andrej Woronzow, Schriftsteller: Zwanzig Bronze-Skulpturen, die seit den 30er Jahren die damals erbaute Metro-Station »Platz der Revolution« bevölkern, wecken in dem mitternächtlichen Besucher vielfältige Gedanken über die von zwei Bildhauern verallgemeinerten Sowjetmenschen: über das schwere Dasein dieser Menschen wie auch über ihre Leistung, den Faschismus zerschlagen und eine Großmacht geschaffen zu haben. Beim Verlassen des »Reichs der Toten« sieht er einen Obdachlosen, vom Frost gezeichnet, in einer Pose wie die Skulpturen dasitzen. Er fragt sich: Werden so die Denkmale unserer Epoche aussehen?

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Soweit in geraffter Form eine Diskussion, die dazu anregen mag, über die eigene Sicht auf einen Vorgang nachzudenken, dessen Ursprung, Verlauf und Abbruch die ganze Welt berührt hat. Bemerkenswert finde ich, wie vorbehaltlos Meinungen aufeinander prallen – während in Deutschland eine solche Frage allenfalls in Nischen erörtert wird, wie es auch bisher an einer tabufreien Beurteilung der DDR fehlt. Wertvolle Erfahrung, die in kritisch-schöpferischer Aufarbeitung von Geschichte zu gewinnen wäre, wird mißachtet. Für die Bundesrepublik selbst wäre es eine Bereicherung gewesen, sich Leistungen der DDR – von der Kinderbetreuung bis zum Gesundheitswesen und zur Kulturförderung – nutzbar zu machen. Die vielfache Reduzierung der Freiheit auf Bezahlbarkeit und die Teilnahme an Kriegen in vielen Teilen der Welt sind allein schon Gründe genug, sozialistischen Träumen nicht abzuschwören.