Das Superwahljahr hat begonnen. Die CDU hat sich in der zurückliegenden Vorweihnachtszeit mit einem Adventsspiel der besonderen Art darauf eingestimmt. Auf ihrem Parteitag in Stuttgart hat sie in einem Grundsatzbeschluß einen Staat, einen verschwundenen dazu, dessen »Verklärung« sie bitter beklagt, zu ihrem Hauptfeind erklärt. Zwei Ziele sollen mit einem Schlag erreicht werden. Die Linkspartei soll – deren Führung man manches vorwerfen kann, aber gewiß nicht, daß sie den untergegangenen Staat verklärt – soll als DDR-erblastig verteufelt werden; damit zugleich soll dem Volk vor Augen geführt werden, daß es zum Kapitalismus, so krisengeschüttelt er auch ist, keine Alternative gibt. Wie denn auch, wenn die CDU resümiert: »40 Jahre Diktatur, Unfreiheit und sozialistische Planwirtschaft haben katastrophale Erblasten materieller und immaterieller Art hinterlassen.«
Trotz dieser grauenhaften Gesamtbilanz sieht sich die Partei zu dem indirekten Eingeständnis gezwungen, daß es in der DDR soziale Errungenschaften gab. Aber auch für diese hat die CDU eine Erklärung: »Die Leistungen der Sozialpolitik, auf die heute die Partei ›Die Linke‹ so oft hinweist, beruhten nicht auf der eigenen Wirtschaftskraft der DDR, sondern zum erheblichen Teil auf Schulden im westlichen Ausland. Daran sollte bei heutigen Diskussionen häufiger gedacht werden ...« Da die CDU vorgibt, christlich zu sein, könnten wir sie an das 8. Gebot des Himmlischen Vaters erinnern: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten«. Freilich, das Gebot gilt hier möglicherweise nicht, da Parteichefin Merkel weder ihr Geburtsland noch die Linkspartei als ihre Nächsten betrachtet. Aber vielleicht kann der Apostel Matthäus helfen, der Jesus Christus zitiert: »Verurteilt nicht andere, damit Gott euch nicht verurteilt. Denn euer Urteil wird auf euch zurückfallen, und ihr werdet mit demselben Maß gemessen werden, das ihr bei anderen anlegt. Warum kümmerst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders und bemerkst nicht den Balken in deinem eigenen? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: ›Komm her, ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen‹, wenn du selbst einen ganzen Balken im Auge hast? Du Scheinheiliger, zieh erst den Balken aus deinem Auge, dann wirst du klar sehen und kannst dich auch um den Splitter im Auge deines Bruders kümmern.« Auch hier stört eventuell der Bruder, doch die christlichen Hinweise auf Splitter, Balken und Scheinheiligkeit treffen zu.
Wem will die CDU weismachen, daß die Leistungen der Sozialpolitik der DDR – von Vollbeschäftigung ohne Angst um den Arbeitsplatz und Chancengleichheit im Bildungswesen bis zur vorbildlichen gesundheitlichen Betreuung der Kinder und Jugendlichen – auf Auslandsschulden zurückzuführen sind? Bekanntlich betrugen diese Schulden 1989, arg genug, laut Angaben der Bundesbank zwölf Milliarden Dollar, also nach heutigem Kurs rund 8,5 Milliarden Euro. Die Verschuldung der Bundesrepublik beträgt gegenwärtig weit mehr als 1.500 Milliarden Euro, und trotzdem können sich ihre sozialen Leistungen nicht mit denen der DDR messen. Dieser BRD-Balken ist mit dem DDR-Splitter schwerlich zu vergleichen.
Neu ist das Verfahren nicht, abfällig und verleumderisch auf die DDR zu zeigen, ganz vergessend, daß dabei drei Finger auf die Verleumder selbst gerichtet sind. An Beispielen mangelt es nicht, vier weitere mögen genügen:
Fast 20 Jahre nach dem Ende des ostdeutschen Staates werden mit Hilfe der Gauck-Birthler-Behörde immer wieder – je nach politischem Bedarf – personenbezogene Akten des Ministeriums für Staatssicherheit den Medien, sogenannten DDR-Aufarbeitern und anderen Interessierten zugänglich gemacht und Hetzkampagnen entfacht. Einsicht in die Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes wird hingegen sogar denjenigen verweigert, über die sie angelegt wurden, und »geheime« Akten über den Massenmörder Eichmann bleiben mindestens 60 Jahre unter Verschluß (Ossietzky 23/2008). Inoffizielle Mitarbeiter des 1989 dahingeschiedenen DDR-Geheimdienstes werden noch heute gejagt und verfemt, aber V-Leute des sehr lebendigen BND und des Verfassungsschutzes werden geschützt, nicht selten reich honoriert und im Verborgenen geehrt. An die mittelalterliche Inquisition erinnert der jüngst vorgelegte Bericht des sogenannten Ehrenrates der Berliner Zeitung über die Jahrzehnte zurückliegende IM-Tätigkeit von Redakteuren, durch die die Glaubwürdigkeit des Blattes gelitten habe. Nach aktiven V-Leuten in der Redaktion hat der »Ehrenrat«, dem neben dem zutiefst unparteiischen Pfarrer und Vorsitzenden der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Rainer Eppelmann (CDU) und seltsamerweise auch Thomas Langhoff, langjähriger Intendant des Deutschen Theaters, angehörte, nicht gesucht.
Verbissen weigerte sich die CDU, gemeinsam mit der Linkspartei eine Entschließung des Bundestages zum 70. Jahrestag der Pogromnacht und zum Kampf gegen den Antisemitismus zu verabschieden, da die DDR angeblich eine verkappte antisemitische Politik betrieben habe. Die Weigerung kam ausgerechnet von jener Partei, deren erster Vorsitzender, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Hans Maria Globke, den juristischen Vorbereiter des Holocaust, zum Chef des Kanzleramtes und obersten Personalchef der Bundesrepublik erkor.
Jahr für Jahr erinnert die CDU am 21. August an die Teilnahme der Volksarmee der DDR an der Niederschlagung des »Prager Frühlings«. In der Regel wird dabei unterschlagen, daß sie sich nicht am Einmarsch beteiligte, sondern lediglich – und das gehört gewiß nicht zu ihren Ruhmestaten – durch Truppenkonzentrationen an der Nordgrenze der CSSR den Druck auf das Nachbarland erhöhte. Doch wann erinnert die gleiche Partei am 24. März, am Jahrestag des NATO-Überfalls auf Jugoslawien, an die aktive Teilnahme der Bundeswehr an der verbrecherischen Aggression gegen das Balkanland?
Schon jetzt ist zu erwarten, daß im »Gedenkjahr 2009« im Fernsehen wieder und wieder die bekannten Bilder vom rigiden Vorgehen der Volkspolizei zwischen dem 2. und 9. Oktober 1989 gegen friedliche Demonstranten gezeigt werden. Daß sich unter den Protestierenden zahlreiche Rowdies und Provokateure befanden, die mit Fäusten, Steinen und Eisenstangen gegen die Sicherheitskräfte vorgingen, wird vermutlich keine Erwähnung finden, um so mehr aber deren teilweise übermäßige, empörende Reaktionen und die Verhaftungen. Und in der Bundesrepublik? Hier vergeht kaum ein Monat, in dem die Polizei nicht mit brutaler Gewalt, mit Einkesselung, Knüppeln, Wasserwerfern und Reizgas gegen Demonstranten vorgeht. In der DDR wurden nach den einmaligen Vorfällen Untersuchungsausschüsse gebildet und öffentliche Anhörungen abgehalten; die Polizeipräsidenten, der Innenminister und selbst das Staatsoberhaupt entschuldigten sich vor der Volkskammer. Dagegen ist es in der Bundesrepublik üblich, daß Regierungspolitiker das gewaltsame Vorgehen der Polizei rechtfertigen und Demonstranten vor Gericht gestellt werden. Was würde wohl erst geschehen, wenn im Rechtsstaat BRD gewalttätige Demonstranten versuchen würden, den Ort einer Festveranstaltung mit zahlreichen ausländischen Staatsoberhäuptern, wie im Falle der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR im Palast der Republik geschehen, zu stürmen? Selbstverständlich würden sie mit Samthandschuhen angefaßt und höflichst gebeten, von ihrem Tun abzulassen.