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Der »Fall« Herrnstadt  (Thomas Kuczynski)

Rudolf Herrnstadt (1903–1966) war zweifellos einer der brillantesten politischen Journalisten deutscher Zunge im 20. Jahrhundert und von schärfstem analytischen Verstand. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er Auslandskorrespondent des Berliner Tageblatts, während des Krieges Chefredakteur der Zeitung des Nationalkomitees Freies Deutschland in Moskau und nach dem Krieg Chefredakteur zunächst der Berliner Zeitung, sodann des Neuen Deutschland. Sein im November 1948 publizierter Artikel »Über ›die Russen‹ und über uns« schlug damals wie eine Bombe ein und rief stürmische Diskussionen hervor, nachzulesen in einer Broschüre mit dem Untertitel »Diskussion über ein brennendes Thema«. Der Artikel hat Geschichte gemacht, und zu Recht wird er noch heute in jeder Darstellung der Vorgeschichte der DDR erwähnt.

Herrnstadt arbeitete ab 1930 viele Jahre für die GRU, den Nachrichtendienst der Roten Armee, und war ab 1950 Mitglied des Zentralkomitees der SED sowie Kandidat des Politbüros. Nach dem 17. Juni wurde er, zusammen mit Wilhelm Zaisser (1893–1958), dem ersten Staatssicherheitsminister der DDR, der Fraktionsmacherei beschuldigt, aus der SED ausgeschlossen und sogleich an das Deutsche Zentralarchiv nach Merseburg verbannt. Seine Arbeit über den Kölner Kommunistenprozeß durfte er zwar publizieren, aber nicht als Dissertation einreichen, der erste Band seines unvollendet gebliebenen Werks über »Die Entdeckung der Klassen« erschien 1965 und blieb nahezu unbeachtet.

Kaum ein SED-Mitglied oder gar DDR-Historiker wagte sich in seine Nähe; einem dieser wenigen, der sich nie gescheut hatte, ihn im Archiv aufzusuchen und zu Hause zu besuchen, schenkte er ein Exemplar seines letzten Buches mit der Widmung »Jürgen Kuczynski, dem Freund der Mühseligen und Beladenen, in alter Herzlichkeit«. Eine andere, die alte Rätekommunistin Erna Büttner (1911–1990), verließ nach Herrnstadts Rauswurf unter Protest das ND, blieb in der SED, wurde Kaderchefin der Akademie der Wissenschaften und kam auch zu Herrnstadts spärlich besuchter Beerdigung. All das gab es in der DDR und in der SED.

Nun hat Irina Liebmann eine Biographie über diesen Mann, ihren Vater, geschrieben. Dem Buch ist anzumerken, wie sich die Autorin bei der Abfassung des Manuskripts zu einem größeren Verständnis seiner Aktivitäten durchgearbeitet hat. Sie ist keine Historikerin, sondern Schriftstellerin, hat gar manche Quelle ungenutzt gelassen, ist selten in der Lage, sich in die inneren Beweggründe der Akteure hineinzuversetzen, und auch ihr politischer Verstand reicht nicht sehr weit. Daß ein auf diese Weise entstandenes Buch Herrnstadts Leben und Werk kaum gerecht werden kann, liegt auf der Hand. Einerseits. Andererseits ist das Buch so geschrieben, daß die darin Lesenden dem Annäherungsprozeß der Tochter an den Vater folgen können und somit am Einzelbeispiel vielleicht ebenfalls zu einem größeren Verständnis der Lebensleistung deutscher kommunistischer Intellektueller geführt werden, Interesse für diese Seite deutscher Geschichte gewinnen und in den Quellen weiterlesen. Würde dieser (sicherlich gar nicht beabsichtigte) Zweck des Buches erreicht, wäre das nicht ganz wenig für die heutige Zeit. Ein nützliches Buch; vielleicht.

Daß das Buch auch ganz anders bewertet werden kann, zeigt nicht nur der der Autorin verliehene Preis der Leipziger Buchmesse 2008, sondern auch die Philippika von Klaus Huhn, mit der er meint, den Vater gegen die Tochter in Schutz nehmen zu müssen. Da ich Liebmanns Buch nicht ganz unkritisch sehe und – im Unterschied zu Huhn – auch nicht der Meinung bin, daß »schon viel über Rudolf Herrnstadt geschrieben worden« ist, griff ich nach seinem Büchlein.

Ich dachte zunächst, einen Druckfehler in der Anzeige entdeckt zu haben. Aber nein, Huhn titelt genauso wie der von ihm gescholtene Politologe Helmut Müller-Enbergs sein 1991 erschienenes Buch. Es gab aber nur den konstruierten und daher in Anführungszeichen zu setzenden »Fall« Rudolf Herrnstadt. Die Schludrigkeiten und Sachfehler setzen sich mit dem ersten Absatz fort, wo Huhn die Schwester der Autorin, Nadja Stulz-Herrnstadt, die 1990 das »Herrnstadt-Dokument« bei Rowohlt herausgab, in deren beider Mutter, Valentina, verwandelt, und zwar durchgängig, bis zum Schluß. Sie enden mit dem fiktiven Brief des Verfassers an Herrnstadt, den er ehrlicherweise mit seinem damaligen Autorennamen, Klaus Ullrich, hätte unterzeichnen müssen.

So hat er, Klaus Huhn, sich nur hinter einen vor Jahrzehnten abgefahrenen Zug geworfen.

Schlimmer jedoch sind die politischen »Richtigstellungen«. Huhn behauptet, Liebmann schreibe, die KPD-Führung sei Ende April 1945 gegen eine Rückkehr Herrnstadts gewesen, weil er Jude war. Das Gegenteil ist wahr: Ulbricht übermittelte lediglich eine sowjetische Anordnung (die übrigens auch Friedrich Wolf betraf). Zwar kann ich die Anordnung selbst nicht billigen, aber sehr wohl verstehen, daß es sowjetischerseits teilweise Bedenken gab, deutsch-jüdische Kommunisten zum Ende des Krieges in dieses judenmordende Land zu schicken.

In schlechtem Deutsch gegen Liebmann polemisierend dekretiert Huhn: »Die deutsche Teilung ›scheint‹ nicht nur nicht ›unwiderruflich‹, sie wurde am 18. Juni 1948 besiegelt«, als die Einführung der Westmark beschlossen wurde. Damit verwandelt er Herrnstadt wie die gesamte SED-Führung in einen Deppen, der bis weit in die 50er Jahre einem »Schein« hinterher jagte, indem er für die Einheit Deutschlands kämpfte.
Bei seiner Polemik gegen Liebmanns Sicht auf Herrnstadts »Über ›die Russen‹ und über uns« zitiert er ausführlich aus dem Artikel und läßt Entscheidendes weg. Die im ersten Absatz genannte »Zukunft des deutschen Volkes« darf natürlich nach dem 18. Juni 1948 nicht vorkommen. Warum der Artikel wie eine Bombe einschlug, wird nicht klar, darf offenbar nicht klar werden, denn Huhn schneidet aus dem zweiten Absatz heraus, daß »der Komplex Sowjetunion ... von Teilen der Partei – als ›Belastung‹ empfunden wird«. Herrnstadt hatte sich, wohl zu Recht, die korrekte Quantifizierung »von großen Teilen der Partei« verkniffen.

Ich breche an dieser Stelle ab. Solche Inschutznahme kostet heute nur die Ausgaben für Papier und Druckerei, nicht die Karriere. Der Journalist, erst recht der Kommunist Herrnstadt hätte das Pamphlet samt Autor allein schon der Sachfehler und der verlogenen Argumentationen wegen in der Luft zerrissen.

Nach Lage der Dinge bleibt dreierlei zu wünschen: Eine Neuauflage des nach 1990 zu schnell wieder in der Versenkung verschwundenen »Herrnstadt-Dokuments«, die Publikation seiner Fragment gebliebenen Erinnerungen und eine aus den derzeit erreichbaren Quellen gearbeitete Biographie, die sich eben nicht auf den »Fall« Herrnstadt konzentriert, sondern den gesamten, vielfach gebrochenen und doch so gradlinigen Lebensweg dieses aufrechten Kommunisten darstellt und einer kritischen Würdigung unterzieht.

Klaus Huhn: »Der Fall Rudolf Herrnstadt«, edition ost, 91 Seiten, 5,95 €;
Irina Liebmann: »Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt«, Berlin Verlag, 412 Seiten, 19,90 €