Die Mehrheit der Deutschen ist seit langem gegen den Krieg der NATO in Afghanistan und vor allem gegen die Teilnahme deutscher Truppen an einem Unternehmen, das Verteidigung Deutschlands am Hindukusch heißt und als alternativlos dargestellt wird. Sie hat ein Gespür dafür, daß der Erdball mit Bomben und Granaten nicht zu humanisieren ist. Nur trägt diese Majorität ihre Ablehnung nicht auf die Straße. Mit den Zahlen der Befragungsinstitute konnten die Regierung und die Bundeswehrführung bisher gut leben. Bisher: bis Kundus, dem von einem deutschen Oberst befohlenen Massenmord an Zivilisten.
Im staatstreuen Journalistendeutsch heißt das Ereignis »der folgenschwerste von Deutschen zu verantwortende Militärschlag der Nachkriegsgeschichte«. Das meint nicht die Geschichte nach dem Krieg gegen Jugoslawien, sondern die Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg.
Apropos Folgen: So viel haben die Deutschen aus ihrem Unterricht über die Geschichte zweier Weltkriege doch behalten: Historische Rechnungen sind zu begleichen – meist weniger von den Verursachern als von den Mitwirkenden. Damit diese Befürchtung nicht durchschlägt und damit sich die Ablehnung des Krieges nicht zur massenhaften Friedensaktion steigert, wird der Bundesbürger bearbeitet, beruhigt, hingehalten.
Die das erledigen, führen zwei Argumente ins Feld, die zugleich das Entscheiden und Handeln der Regierenden rechtfertigen sollen. Das eine knüpft sich an die angeblich neue Strategie des Friedensnobelpreisträgers von 2009, der die Entsendung weiterer Krieger seines Landes befohlen und die folgsamen Verbündeten zum Mitmachen aufgefordert hat. Die Truppenverstärkung werde, behauptet Obama, den Tag des Rückzugs, also des Friedens, gleichsam vorverlegen. Wer in deutscher Kriegsgeschichte ein wenig bewandert ist (aber wer ist das noch?), der könnte sich an die Parole erinnern, die an den Rängen des Berliner Sportpalastes prangte, als Propagandaminister Joseph Goebbels dort 1943 nach der verlorenen Stalingrader Schlacht die Gefolgsleute des Regimes aufrichtete und zu verstärktem Kriegseinsatz zu mobilisieren suchte. Sie lautete: »Totaler Krieg – kürzester Krieg«.
Auch das zweite Argument macht die rasch verblassende Autorität des Preisträgers geltend: Er habe befohlen, die Zivilisten in Afghanistan zu schonen. Da drängt sich freilich die Frage auf, ob es bisher an einem solchen Befehl mangelte. Und wiederum: Wer sich ein wenig in deutscher Kriegsgeschichte auskennt – diesmal aber ist ein wenig mehr verlangt –, mag sich an eine Rede des »Führers« erinnern, die er am 19. September 1939, Polen war militärisch bereits geschlagen, vor Menschenmassen in Danzig hielt. Dort erklärte Adolf Hitler: »Ich habe der deutschen Luftwaffe den Auftrag gegeben, daß sie diesen Krieg human, das heißt nur gegen kämpfende Truppen führt.« Uns Deutschen liege es nicht, Krieg gegen Frauen und Kinder zu führen. »Wenn natürlich eine Kolonne über einen Marktplatz marschiert, und sie wird von Fliegern angegriffen, dann kann es passieren, daß dem leider auch ein anderer zum Opfer fällt. Grundsätzlich haben wir das Prinzip der Schonung durchgehalten.« Da waren längst schon am frühen Morgen des ersten Kriegstages in der polnischen Kleinstadt Wielun unter dem Bombenhagel deutscher Sturzkampfflugzeuge 1.200 der 16.000 Einwohner gestorben, und die Stadt lag unter Trümmern.
Schonung der Zivilisten? Darauf werden erneut nur faule Ausreden folgen: »Die Situation« habe Unterscheidung und unterschiedliche Behandlung leider nicht gestattet, weshalb ein gewisser Kollateralschaden entstanden und hinzunehmen sei, woran die hinterhältige Kampfführung des Gegners die Schuld trage. Was zur Beruhigung der den Krieg ablehnenden Bevölkerung vorgetragen wird, sind Lügen, und zwar solche von einer Größenordnung, welche die der Untat von Kundus erheblich übertrifft. Die Überlebenschancen der Zivilpersonen sind in den Kriegen der Neuzeit stets erst wieder gestiegen, als die Waffen schwiegen, und auch da nicht sogleich nach dem letzten Schuß.