Zu Otto Köhlers Geburtstag fällt mir als erstes ein, mit welcher Freude ich seine klaren und mutigen Analysen gern versteckter Interessen, seine prägnanten Resultate hartnäckiger Recherchen lese, mit welchem Genuß seine gekonnte Entblätterung obrigkeitlicher Heuchelei. Mit besonderer Freude und Dankbarkeit denke ich an sein solidarisches, unerschrockenes Eintreten für die von der »Abwicklung« betroffenen Historiker der DDR – unter bundesdeutschen Publizisten fürwahr eine Ausnahme.
Nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 sollten »Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staate eintreten« sowie »Beamte nichtarischer Abstammung« entlassen oder in den Ruhestand versetzt werden. Das betraf Beamte der Verwaltung, der Justiz, der Schulen, der Reichsbank und vieler weiterer Institutionen, darunter viele Wissenschaftler. Die Entlassung aller jüdischen und der kommunistischen und der vergleichsweise wenigen sozialistischen und demokratischen Gelehrten war der bis dahin größte Aderlaß der deutschen Wissenschaften; die Vertreibung tausender Wissenschaftler führte in vielen Disziplinen zu einem rapiden Niveauabfall und auch zum Abbruch ganzer Wissenschaftsrichtungen.
Dieser Präzedenzfall stand Pate, als mit der Zerstörung des Wissenschaftssystems der DDR ein solcher Aderlaß wiederholt wurde. Die euphemistisch »Abwicklung« betitelte schändliche Verjagung der Wissenschaftler der DDR aus ihren Stellungen und Berufen übertraf schon quantitativ bei weitem jene von 1933. Nach dem Anschluß des »Beitrittsgebietes« an den »Geltungsbereich des Grundgesetzes« bedurfte es keines besonderen »Berufsbeamtengesetzes«, es reichten die Bestimmungen des sogenannten Einheitsvertrages. Bestimmungsmerkmale von 1933 wurden funktional angewandt: An die Stelle der »bisherigen politischen Betätigung« trat die Loyalität zur DDR, an die Stelle des »rückhaltlosen Eintretens für den nationalen Staat« rückte die Verpflichtung auf die »freiheitlich-demokratische Grundordnung«. Eine mit besonderer Verbissenheit hinausgesäuberte Wissenschaftlergruppe waren die Historiker.
Die Akademie der Wissenschaften wurde aufgelöst, die Industrieforschung weitgehend liquidiert, die Universitäten blieben bestehen. Ihre Professorenstellen galten den Scharen bundesdeutscher Pfründensucher als lukrative Beute. Am bequemsten war es für sie, wenn ein Institut offiziell aufgelöst und dann mit Westpersonal neu gegründet wurde. Das klappte an der Berliner Humboldt-Universität nicht wie geplant. Nach einem Gerichtsurteil mußte die juristische Auflösung des Bereiches Geschichtswissenschaft gestoppt, die aus der DDR überkommenen ungeliebten Wissenschaftler mußten einzeln gekündigt werden.
Zu diesem Zweck wurde eine Struktur- und Berufungskommission gegründet, die neue Lehrstühle ausschrieb, obwohl die Fachgebiete besetzt waren. Nach der Neuberufung wurden dann die alten Lehrstuhlinhaber gekündigt. Die vor Gericht anerkannten Gründe reichten von »mangelnder persönlicher Eignung« über »mangelnde fachliche Eignung«, »Verstoß gegen die Menschenrechte«, »DDR-Staatsnähe« bis »zu viel Marxismus« oder »marxistische Faschismusauffassung«. Von den an der Humboldt-Universität bis 1991 tätigen Geschichtsprofessoren, darunter weltweit bekannte, wurde kein einziger zum Professor nach bundesdeutschem Recht berufen. Einer der rabiatesten »Säuberer« war der 1991 aus Freiburg/Breisgau an die Humboldt-Universität berufene Professor Heinrich-August Winkler. Ihm konnte es gar nicht schnell genug damit gehen, die ihm zugesagte Funktion des Dekans zu übernehmen und alle Marxisten loszuwerden. So ließ er sich im Dezember 1991 von den fünf neuen Professoren – alle anderen hatten keine akademischen Rechte mehr – »bitten«, die Funktion des Direktors zu übernehmen. Nach dieser Selbsternennung ohne die statutenmäßig vorgeschriebenen Gremien glaubte Winkler, er könne seinen gewählten Vorgänger mit einem Wisch ohne Unterschrift entlassen.
Grundsätzlicher Widerspruch gegen das »Abwicklungsverfahren« war von westdeutschen Mitgliedern der historischen Zunft nicht zu hören. Die »abgewickelten« Wissenschaftler der DDR erfuhren von seiten ihrer westdeutschen Fachkollegen nur äußerst selten Solidarität. Allein die Hamburger sozialhistorische Zeitschrift 1999 dokumentierte laufend die Schändlichkeiten. Auch jene Publizisten, die sich über Winklers Grobschlächtigkeit und seinen Zynismus beklagten, verbanden damit keine würdigende Anerkennung der Leistungen jener, die hier verdrängt wurden. Otto Köhler jedoch packte den Stier bei den Hörnern und entlarvte öffentlich die Anmaßungen und die Heuchelei der »Abwickler« – und das am Beispiel Winkler.
Im Dezember 1992 empfing der Professor für Neueste Geschichte den Journalisten in der Humboldt-Universität. Der professionelle Historiker fühlte sich zur politischen Publizistik prädestiniert, der professionelle Journalist hatte ein Faible für die Historie und selbst mehrere historische Bücher verfaßt. Beide waren füreinander keine Unbekannten, Köhler hat sich wiederholt öffentlich mit Winklers politischem Wirken auseinandergesetzt. Winkler gab die Rolle des gerechten Rächers der verfolgten Unschuld und fragte seinen Gast: »Würden Sie einen Professor ... im Amt belassen, der aus politischen Gründen dazu beigetragen hat, daß Studenten die Universität verlassen mußten?« Köhler fragte seinerseits, ob nicht vielleicht auch Winkler selbst – »auf freiheitlich-demokratischer Grundlage selbstverständlich« – an Relegationen beteiligt gewesen sei gegen Leute, die in seiner Vorlesung Diskussionen über den Universitätsbetrieb verlangten. Winkler gab sich ehrlich überrascht. Seine Darstellung der Ereignisse und seiner eigenen Rolle dabei widersprach eklatant den Aussagen ehemaliger Freiburger Studenten, für deren Relegierung aus politischen Gründen Winkler zwischen 1974 und 1978 als Dekan in Freiburg verantwortlich war. Als Otto Köhler den »gnadenlosen Ankläger« daraufhin mit den Aussagen seiner ehemaligen Studenten konfrontierte, beendete Winkler das Gespräch und warf den hartnäckigen Frager hinaus.
Köhler verfaßte über Winklers »Säuberungen« 1974–78 in Freiburg und ab 1991 in Berlin einen Artikel, der zuerst in der Reihe ZeitZeichen des WDR gesendet und dann in konkret publiziert wurde. Darin präsentierte er im Wortlaut die Aussagen jener Freiburger Studenten, die nicht nur relegiert, sondern unter Mitwirkung Winklers körperlich angegriffen worden waren. Ausführlich analysierte Köhler die Verfahrensweise der an der Humboldt-Universität beteiligten Gremien, vor allem des zuständigen Senators, der von ihm eingesetzten Struktur- und Berufungskommissionen und der neuen Ordinarien sowie das Zusammenspiel mit den Westberliner Arbeitsgerichten.
Gewöhnlich ignorierte Winkler die Vorwürfe der Kollegen und Journalisten. Köhlers Text aber war von solcher Wirkung, daß er sich nicht mehr zurückhalten konnte. In seiner Wut über die nicht aus der Welt zu schaffenden Belege aus Freiburg publizierte der Saubermann in der weitverbreiteten Fachzeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht eine Entgegnung, in der er sich als Opfer der Studenten präsentierte.
Hinsichtlich seines gewählten Gegners hat Otto Köhler ein gutes Gespür bewiesen. Heinrich August Winkler, »Preuße und Protestant« (als solcher bei seiner Emeritierung gefeiert), trägt zwar nach kurzer Phase in der CDU seit 1962 das Parteibuch der SPD in der Tasche – wie Noske –, doch er ist unbeirrt ein streitbarer Konservativer. Treffend nannte ihn Otto Köhler einen »Türöffner nach rechts«. Immer ging es Winkler auch um seine persönliche Karriere: In den 16 Jahren, in denen er an der Humboldt-Universität lehrte, verschaffte er sich den Nimbus des offiziösen Staatshistorikers dieser »Berliner Republik«.