Das B-System, die besondere italienische Mischung aus Cäsarismus und Populismus, hat die demokratischen Mechanismen der Republik nachhaltig geschwächt. Zudem ist es selber in die Krise geraten, die sich langsam hinschleppt. Daran hat auch das gescheiterte Mißtrauensvotum gegen Berlusconi vom 14. Dezember nichts geändert, und dessen knapper Sieg von 314 zu 311 Stimmen stabilisiert die politische Lage nicht. Denn inzwischen kumulieren und kulminieren die Widersprüche, die Grenzen Berlusconis und seiner »Antipolitik« liegen vor aller Augen, nicht nur in Gestalt neapolitanischer Müllberge oder einstürzende Altertümer des Welterbes der Menschheit. Es sind vor allem die nicht mehr wegzuredenden Folgen der Wirtschaftskrise, die die Betroffenen auf Straßen und Plätze treiben (erwähnt sei nur die immense Kundgebung der Metallergewerkschaft FIOM in Rom am 16. Oktober) und – spektakulärer – auf Fabrikschornsteine und Baukräne wie im November in Brescia, wo Arbeitsimmigranten in einer atemraubenden Aktion darauf aufmerksam machten, daß ihnen die restriktiven Einwanderungsgesetze die lebensnotwendigen Aufenthaltsgenehmigungen vorenthalten und sie in die Illegalität zwingen; 14 Tage lang hielten sie bei Wind und Wetter Tag und Nacht in schwindelnder Höhe aus, sogar das öffentliche Fernsehen war dabei.
Vor der Verabschiedung einer weiteren »Universitätsreform«, die das Recht auf öffentliche Bildung immer mehr aushöhlt, indem sie den Hochschulen wesentliche Ressourcen entzieht, fanden auch die Proteste der Studenten, Dozenten und Forscher der Universitäten seit November landesweite Aufmerksamkeit der Scheinwerfer. Studenten erkletterten die berühmtesten Bauten des Landes: den schiefen Turm von Pisa, das römische Colosseum, die venezianische Markuskirche, um nur einige zu nennen, andernorts besetzten sie, wie schon viele Arbeiter auf den Fabriken, auch die Dächer der Unigebäude.
Als sie vielerorts sogar den Zugverkehr behinderten, wurde Anfang Dezember die Abstimmung über das Universitätsdekret in der Abgeordnetenkammer verschoben, bis nach der Verabschiedung des Staatshaushalts und jenem 14. Dezember, von dem viele sich doch einen knappen Sieg der Berlusconi-Gegner erhofft hatten. Bis dahin hatte die Regierung einfach Parlamentsferien dekretiert, um weitere Abstimmungsniederlagen auszuschließen. Berlusconis selbstgeschaffener Nimbus der Unbesiegbarkeit war jedoch zerstört – und dieses Verdienst gebührt nicht etwa der »mitte-linken« Opposition, sondern seinem bisherigen Verbündeten, dem amtierenden ex-faschistischen Parlamentspräsidenten Gianfranco Fini. Der hat sich seit dem letzten Sommer aus Berlusconis Fängen der gemeinsamen Einheitspartei »Volk der Freiheit« (Pdl) befreit, um eine neue, präsentablere Rechte zu schaffen, die »Zukunft und Freiheit« (Fli) heißt. In tagtäglichem Kräftemessen hat Fini bewiesen, daß seine neue politische Gruppierung Berlusconis Parlamentsmehrheit jederzeit aufheben kann und die Regierungsfähigkeit somit prekär geworden ist.
Doch gleichzeitig hat sich am 14. Dezember erneut bestätigt, daß das Parlament nicht aus vom Volk gewählten Vertretern der Basis besteht, sondern direkt abhängig vom Partei- und Regierungschef ist. Dazu hat das Mehrheitswahlgesetz von 1994 geführt, das der relativ stärksten Partei zu einer 55-Prozent-Mehrheit im Parlament verhilft, und die Abgeordneten werden von der Parteispitze ernannt.
Berlusconis Pdl hat ohnehin keine Parteistruktur im traditionellen Sinne, sondern ist ein hierarchisch strukturiertes Unternehmen mit abhängigen Untergebenen, deren Existenz an das Unternehmen gebunden ist. Da zählt nur noch das individuelle Interesse am Machterhalt. Eine jüngst veröffentlichte Studie über die Entwicklung der Sozialstruktur der Abgeordneten während der letzten Jahrzehnte zeigt den starken Anstieg der Zahl der Manager und das Verschwinden der Gewerkschafter (von 18 Prozent nach dem Kriege auf heute noch drei Prozent) und den extrem hohen Zuwachs der Vergütungen parallel zum Absinken des Bildungsgrades.
Von den Medien des Moguls lautstark als »Verräter« beschimpft, versuchen die Fini-Leute, mit den oppositionellen Restparteien der bürgerlichen Mitte einen sogenannten Dritten Pol zu bilden gegenüber Pdl/Lega und den Demokraten der Pd – kein leichtes Unterfangen angesichts vieler Führungsansprüche. Der Partito Democratico (Pd) strebt sogar eine Art Nationales Befreiungskomitee (CNL) an, das wie 1945 das faschistische Regime nun das B-System überwinden soll. Auch eine »technische Übergangsregierung« ist im Gespräch, mit dem Ziel, vor allem den Mehrheitswahlmodus zu reformieren, der bisher Berlusconi begünstigt hat. Aber nicht einmal über die Rückkehr zu einem proportionalen System herrscht Einigkeit. Geteilt wird nur die Einsicht, daß sich der bisher versuchte »Bipartitismus« als inadäquat gegenüber der Komplexität Italiens erwiesen habe.
Doch vorerst wird Berlusconi auch im neuen Jahr den Ton angeben: Auch er versucht, seine Mehrheit zur Mitte hin zu verstärken, durch Einbindung der Christdemokraten um Casini. Anderenfalls, bei fortgesetzten Abstimmungsniederlagen im Parlament, droht er mit Neuwahl, und zwar nach dem bisherigen Wahlmodus, von dem er sich erneute Bestätigung verspricht.
Die zersplitterte Opposition zeigt sich nicht auf der Höhe der Anforderungen, Ihre stärkste Sammelpartei PD hat sich noch nicht einmal auf einen Kandidaten geeinigt, der gegen Berlusconi antreten könnte. Und auch jene bürgerlichen Kräfte (in Unternehmerverband, Finanzwelt, großer Presse und Teilen der katholischen Hierarchie), die Berlusconi heute zu Fall bringen möchten, nachdem sie ihn in den 1990er Jahren gleichsam als Zauberlehrling gerufen hatten wissen nun nicht, wie sie ihm Einhalt gebieten können.