Im Jahre 1909 veröffentlichte der britische Erfolgsautor Conan Doyle, Schöpfer des »Sherlock Holmes« und der »Vergessenen Welt«, seine aufsehenerregende Reportage »Das Congoverbrechen«. Die barbarischen Zustände in der als »Kongo-Freistaat« bezeichneten Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II. waren damals schon bekannt, durch dieses Buch aber erfuhr ein breites Leserpublikum davon. – Der junge Autor Andreas Kliem schildert die Geschichte Zentralafrikas seit dem Eintreffen der ersten Europäer im Jahre 1482 als eine ununterbrochene Kette von Verbrechen, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Zuerst zerschlugen portugiesische Eroberer die historisch gewachsenen afrikanischen Reiche, ersetzten bestehende Wirtschaftsstrukturen durch profitablen Sklavenhandel. Als Kompromißlösung zwischen französischen und deutschen Kolonialinteressen kam der größte Teil des Kongobeckens im späten 19. Jahrhundert unter belgische Herrschaft. Unter heuchlerischen zivilisatorischen Phrasen errichtete Leopold II. ein System gnadenloser Ausbeutung. Belgische und afrikanische Söldner dienten ihm als Schergen. Massenmorde, brutale Verstümmelungen, Niederbrennen ganzer Dörfer waren die Regel, wenn die geforderte Kopfsteuer nicht gezahlt oder befohlene Zwangsarbeit nicht geleistet wurde.
Kliem weist nach, daß die offizielle Annexion der Privatkolonie »Kongo-Freistaat« durch die belgische Regierung im Jahre 1908 keine grundlegende Änderung der Verhältnisse bewirkte, die angekündigten Reformen beschränkten sich zumeist auf Kosmetik. Die Unabhängigkeitserklärung des Kongo und der Rückzug Belgiens im Jahre 1960 gaben der afrikanischen Bevölkerung einen winzigen Moment lang Hoffnung – die mit dem Mord an Patrice Lumumba brutal zerstört wurde. Die Kolonialherren waren abgezogen, die von ihnen installierten Wirtschaftsstrukturen blieben und das einheimische Aufsichtspersonal auch. Die Demokratische Republik Kongo ist außerordentlich reich an Bodenschätzen: Uran, Kupfer, Gold, Tantal. Die europäischen Bergwerksgesellschaften waren nicht gewillt, auf ihre Gewinne zu verzichten.
Der Autor schildert ausführlich das System der Ausplünderung des Landes unter dem Diktator Joseph Mobutu. Dieser ließ zwar einen Großteil der Industrie nationalisieren, steckte die Gewinne aus dem Verkauf der Produkte aber in die eigene Tasche oder verteilte sie unter seinem Anhang. Als ihm das nicht mehr ausreichte, verordnete er dem Land ein neoliberales Schockprogramm, dem unter anderem der größte Teil des Bildungs- und Gesundheitswesens zum Opfer fiel. Die Folge war eine Erosion staatlicher Strukturen. Eine winzige Minorität scheffelte Unsummen auf europäischen Bankkonten, während das Land in Armut und Chaos versank. Polizei und Militär verkamen zu kriminellen Banden, die sich durch Plünderung ernährten, weil niemand ihre Löhnung bezahlte.
Das Ende der Herrschaft Mobutus im Jahre 1997 bedeutete kein Ende der Kleptokratie. Infolge des Staatszerfalls gebot die neue Regierung außerhalb der Hauptstadt über keinerlei Autorität; das Land war praktisch ein Flickenteppich aus Herrschaftsgebieten verschiedener Warlords, die sich auf Reste der kongolesischen Nationalarmee, ehemalige Rebellenverbände, Ethnomilizen und ausländische Truppen stützten. Daran hat sich trotz verschiedener Versuche, die Macht der Zentralregierung wieder zu festigen, bis heute wenig geändert.
Die Ausbeutung der Bodenschätze ging indes weiter: Jeder Warlord vergab gegen Bezahlung Konzessionen an Bergbaukonzerne und unterstützt diese sowohl gegen Ansprüche der Konkurrenz als auch gegen die häufig wegen mörderischer Bedingungen aufbegehrenden Arbeiter. Ein großer Teil des Geldes, das die Warlords für die Konzessionen bekommen, geben sie für Waffenkäufe aus. Für ihre marodierenden Banden ist der Bürgerkrieg mittlerweile zum Selbstzweck geworden. Massenmorde, Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen, Massenvergewaltigungen, Aids und Hunger ließen die Bevölkerung schrumpfen. Allein von 1998 bis 2004 fielen vier Millionen Menschen dem sogenannten »zweiten Kongokrieg« zum Opfer.
Kliem lehnt ausländische Einmischung in das blutige Chaos in Zentralafrika ab. An Beispielen zeigt er, wie westliche NGOs gewachsene Selbsthilfestrukturen zerstörten, wie ausländische »Friedenstruppen« die Warlords mit Waffen belieferten oder sich am profitablen Rohstoffschmuggel beteiligten. Kliems Hoffnung sind die noch immer funktionierenden zivilgesellschaftlichen Netzwerke innerhalb der afrikanischen Bevölkerung, die trotz der grauenhaften Bedingungen von Krieg und Bürgerkrieg einen winzigen Rest an Bildung, Gesundheitswesen und Sozialleistungen aufrechterhalten. Kliems Buch nennt die tatsächlich Schuldigen an den »Kongoverbrechen«: europäische Konzerne, die sich an den afrikanischen Rohstoffen und Naturressourcen bereichern und im Gegenzug Banden krimineller Mörder finanzieren und mit Waffen beliefern. Einer der Hauptabnehmer für das in Ostkongo geförderte Coltan-Erz, einen wichtigen Rohstoff für die Handy-Industrie, ist die deutsche Bayer AG.
Andreas Kliem: »Die Kongoverbrechen. Geschichte und Allgegenwart räuberischer Ausbeutungspraxis«, nomen Verlag, 271 Seiten, 16,80 €