Hartnäckig hält sich das Gerücht, Kurt Tucholsky ruhe seit 75 Jahren in schwedischer Erde. Dem ist nicht so. Tucholsky lebt. Immer wieder suchen namhafte Persönlichkeiten den Kontakt. So Roger de Weck als Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Rainer Esser, Geschäftsführer ebendieses Blattes, Josef Niedermeier, Verlagsleiter des Tagesspiegel, Andreas Apelt vom Europäischen Informationszentrum Berlin – um nur einige zu nennen. Sie alle kennen die genaue Adresse: Schloßstraße 6 in 16831 Rheinsberg und teilen ihm bis heute Interessantes mit. Der Geschäftsführer Esser zum Beispiel dies: »Sehr geehrter Herr Tucholsky, Jede Epoche hat ihre Verbrechen.« Das hätte der Adressat ihm sicherlich bestätigt. Ob er sich allerdings für die offerierten »Historischen Kriminalromane – Krimis auf höchsten Niveau und ungewöhnliche Einblicke in die Vergangenheit« und für die Aufforderung »Werden Sie Mitwisser!« interessiert hätte, weiß man nicht. Denn nicht einmal auf die Empfehlung: »Schnellsein lohnt sich. Wenn Sie jetzt bestellen, sichern Sie sich alle Vorteile und sparen 29,90 Euro!« hat Tucho reagiert. Selbst die Einkratze des Hochwohlgeborenen Botho Prinz zu Sayn-Wittgenstein, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, hat keine Resonanz gefunden: »Die Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft haben sich dramatisch verändert. Längst droht der Egoismus den Gemeinsinn zu verdrängen. Dennoch gibt es Zeichen der Hoffnung, Menschen setzen sich uneigennützig ein für Bedürftige. Sie gehören zu diesen Menschen der Tat, zum Deutschen Roten Kreuz. Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit und Freude, daß Sie sich auch in dieser Zeit in unserer weltweiten Bewegung engagieren. Ihre persönliche Mitgliedskarte weist sie weltweit als treuen Förderer der Rotkreuzidee aus. PS: Ihre Mitgliedskarte ist bis zum Ende der Mitgliedschaft gültig.«
Die Persönliche Mitgliedskarte mit der Mitgliedsnummer 1630027809 des DRK-Kreisverbandes Neuruppin e.V., lag und liegt dem Brief vom November 1993 bei. Mit diesen und ähnlichen Dokumenten ist im Schloß Rheinsberg eine Wand im Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum tapeziert, wo jeder Besucher sein Wissen über den Schriftsteller und unbestechlichen politischen Journalisten erweitern und vertiefen kann. In der Ausgabe der Weltbühne vom 10.8.1926 kann er sogar Tucholskys Meinung über das DRK nachlesen: »Das Rote Kreuz ist eine durchaus wilhelminische Einrichtung geblieben. In den leitenden Stellen wimmelt es von Adligen, von ehemaligen hohen Militärs und andern Rentenempfängern, von Oberstabsärzten, von Leuten, die aus dem Kriege her in unangenehmster Erinnerung sind. Der Damenflor setzt sich aus Blüten zusammen, die viel zu wenig karikiert werden: diese maßlos hochmütige, egoistische, rafferische Kastenfrau, die Alles vom Staat beansprucht, weil sie ihn als ihr gehörig ansieht, und ihm nichts gibt als ein Rudel Jungen, die Mamachen flott imitieren. Es ist das jene Gattung, für die Wohltun Zinsen bringt – 6 Prozent –, und die das Almosen dem Armen nur darreicht, wenn der die Hacken zusammenschlägt, also ›eine ordentliche Gesinnung‹ hat. Vorgesetzte einer Nation, die sich still und dämlich nachsetzen läßt ... Das Rote Kreuz ist seiner Organisation, seiner Personalzusammensetzung, seiner Fürstenverehrung nach: militärisch, reaktionär, antidemokratisch. Man muß also abraten, dieser Einrichtung auch nur einen Groschen zukommen zu lassen. Sie verdient ihn nicht. Wer für die öffentliche Pflege der Unfallsverletzten etwas tun will, der gebe den Arbeiter-Samaritern oder der Roten Hilfe. Nicht dem schwarz-weiß-roten Kreuz.«
Ein weiterer schöner Satz aus Tucholskys Feder: »Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.« Man darf aber auch Adreßkarteien, selbst wenn man sie gut bezahlt hat, aufmerksam durchforsten. Oder um die Namen Peter Panter, Theobald Tiger, Kaspar Hauser und Ignaz Wrobel erweitern.