Es gibt wichtigere, gefährlichere, demokratiefeindlichere Verhaltensweisen als die des Bundespräsidenten Wulff. Daß Wulff gekauft werden mußte, glaubt doch hoffentlich niemand. Er gehört unverkennbar zu jenen, die, wie die große Mehrheit der frei gewählten Abgeordneten, angefangen bei den Kommunen über Länder und Bund bis hinauf nach Europa, nicht gekauft werden müssen. Es sind Überzeugungstäter. Und diese bilden heute die größte Glaubensgemeinschaft der Welt. Ihre wirkliche Religion, zu welcher traditionellen sie sich öffentlich bekennen mögen, ist der Kapitalismus. Und ihr Gott ist das Kapital.
Dieser Glaubensgemeinschaft gehören auch die Kirchen beziehungsweise traditionellen Weltreligionen an. Deshalb zögere ich, sie selbst als Kirche zu bezeichnen. Die alten Kirchen wurden schon lange zu moralischen Fundamenten der kapitalistischen Medien und Wissenschaften umfunktioniert. Wer an Gott glaubt oder zu glauben vorgibt, hat die notwendigen Weihen der Zugehörigkeit zum Establishment und die Legitimation zur systemimmanenten Kritik. Damit ist Kirche ein ganz wesentlicher Bestandteil der dreieinigen kapitalistischen Glaubensgemeinschaft: Es sind dies die Investoren und Spekulanten, die verschleiernd als »Markt« bezeichnet werden, die kapitalfrommen Demokraten und Parteirepräsentanten, die sich – wie einst Louis XIV – mit dem Staat verwechseln, und – last not least – die professionellen Ideologieproduzenten, die nach Bedarf und Kassenlage Krisen heraufbeschwören oder schönreden. Sie treten als Lebensfreude- und Todessehnsuchtpropagandisten, letztendlich als Wahrsager auf, haben Studienabschlüsse in Theologie, Kultur-, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Und es zeichnet sie aus, daß sie die Wahrheit nicht mehr bei Kerzenlicht aus der Glaskugel gewinnen, sondern am hellichten Tag mit wirtschaftsliberal programmierten Computern aus Datenwüsten extrapolieren. Wie anders kann man sonst erklären, daß über Jahre eine neofaschistische Mörderbande, möglicherweise mit Verfassungsschutzgeldern ausgehalten, ihre Menschenjagd betreiben konnte? Wie, daß Behörden einer Demokratie ganz offenkundig faschistische Bewegungen als eiserne Reserve behandeln, die – wenn der Wirtschaft wegen ihrer kriminellen Machenschaften einmal zuviel Demokratie drohen sollte – jederzeit gegen kapitalismuskritische Demokratiebewegungen mobilisiert werden können? Wie könnte anders erklärt werden, daß allen Sonntagspredigten und Talkshowbekenntnissen zum Trotz jede wirksame Sozial-, Entwicklungs- oder Umweltpolitik verhindert, jede ernst zu nehmende Kritik am Machtmißbrauch der Wirtschaft vereinnahmt beziehungsweise zugunsten der übelsten Profitgeier umgemünzt, heruntergespielt oder völlig totgeschwiegen wird? Wie gelingt es, daß die – teils preisgekrönten – Wohltaten derer, die dagegenhalten, die bessere Gesetze machen, am Ende doch noch blamiert werden?
Um nicht alle Schuld auf die kapitale Glaubensgemeinschaft abzuwälzen: Weil die Kapitalopposition selbst keine Glaubensgemeinschaft mehr ist? Weil sie sich nach dem schlauen Machthaberrezept »teile und herrsche« auseinanderdividieren, gegeneinander aufhetzen, durch Aufstiegs- oder Karriereversprechen aus ihren Gemeinschaften herausbrechen läßt. Doch wieder einmal ist Hoffnung angesagt, die ich teile. Als der Verein Business Crime Control (BCC) im Jahr 2000 mit anderen ein Bündnis gegen Bankenmacht schmiedete, im Windschatten der Frankfurter Banken Widerstand organisierte und den Machtmißbrauch der Banken heftig kritisierte, kamen – obgleich Jean Ziegler, Gregor Gysi, Reiner Roth und andere als Redner, obgleich Konstantin Wecker und der Liedermacher Maurenbrecher auftraten – gerade mal 600 bis 800 Mitstreiter auf die Beine.
Die Occupy-Bewegung brachte es in Frankfurt locker auf 6000 bis 8000. Wird es den neuen Herrschern der Welt erneut gelingen, ihre Widersacher ins Leere laufen zu lassen? 2012 wird es zeigen. Wenn es gelänge, die kapitale Glaubensgemeinschaft zu spalten, entstünden gute Chancen, die bisherigen entpolitisierten Kassenkämpfe zu politisieren. Hierbei freilich heißt es aufzupassen, daß die Klassenkämpfe nicht in Rassenkämpfe umgemünzt werden. Nur dann ist das Stück enteignete Demokratie zurückzuerobern, nur dann kann die Solidargemeinschaft größer und stark genug werden, die Machtverhältnisse zugunsten derer, die ihre materiellen Grundlagen erarbeiten, zu verändern.