Wer keine Lust mehr verspürt auf silvesterliches Bleigießen – ein Relikt aus magisch-orakelnden Zeiten – oder die rituelle Vorsätzemacherei leid ist, dem bietet die Neujahrsausgabe der Süddeutschen Zeitung philosophisch angehauchten Trost in Gestalt eines »rationalen Optimismus«.
Doch zunächst der Befund: In seinem Artikel »Ein Plädoyer für Optimismus« konstatiert Adrian Kreye ein »konträres Zeitgefühl« auf dem amerikanischen und dem europäischen Kontinent. »Europäer empfinden die Gegenwart als Endpunkt der Geschichte. Amerikaner empfinden die Gegenwart als Beginn der Zukunft.« Man muß nicht lange herumrätseln, welches der Zeitkonzepte geeigneter ist, Optimismus zu verbreiten. Dabei, so versichert uns Kreye, haben die Bewohner der Neuen Welt durchaus auch einen Sinn für Vergangenes, wie schon ein flüchtiger Blick auf die aktuelle Bestsellerliste zeige. Denn da fänden sich »Werke über Cleopatra, Theodore Roosevelt ... und die Autobiographie von Mark Twain«. Diese »historischen Figuren«, das weiß sogar ein durchschnittlich gebildeter US-Amerikaner, sind allesamt tot – eben historisch. Und doch unterscheidet sich nach Kreye »das amerikanische Interesse an Geschichte deutlich von der europäischen Obsession mit der Vergangenheit, die sich nicht zuletzt in der Feier von Jahres-, Gedenk- und Geburtstagen niederschlägt«. Aus solcher Feierlaunigkeit entstünde ein »morbides Geborgenheitsgefühl, das der Gesellschaft und ihren Bürgern stets die eigene Sterblichkeit vor Augen hält«. – Dann doch besser zukunftsselig konsumieren, bis der letzte Kredit platzt. Und sich für unsterblich halten.
Um seinen Plattheiten noch eine weitere hinzuzufügen, präsentiert Kreye den geneigten LeserInnen den allerneuesten Theorietrend jenseits des Atlantiks, genannt »rationaler Optimismus«. Der Wissenschaftsjournalist Matt Ridley hat ihn auf den Meinungsmarkt geworfen. Und diese Zuversichtslogik funktioniert so: Man betrachte unterschiedliche Phänomene und Zeiträume, gehe zurück in die Steinzeit und wieder zurück zum Wirtschaftswunder (ohne Anführungsstriche) der fünfziger Jahre. Dann kommt man – beziehungsweise Matt Ridley – immer wieder zu dem Schluß, daß die Menschheit sich zu ihrem Besten entwickelt hat: »Mein Optimismus ist keine Laune und keine Veranlagung, sondern das Fazit von Beweisketten.« Ganz anschaulich: »Als ich in den siebziger Jahren hier in Oxford studierte, war es um die Zukunft der Welt nicht gut bestellt. Die Bevölkerungsexplosion war nicht aufzuhalten. Globale Hungersnot schien unvermeidlich. Saurer Regen entlaubte unsere Wälder. Die Wüste breitete sich mit einer Geschwindigkeit von zwei Meilen pro Jahr aus. Das Öl wurde knapp. Ein nuklearer Winter würde uns den Garaus bereiten. Nichts davon trat ein.« Da möchte man freudig ausrufen: Wie schön ist es doch, daß heute die Bevölkerungsexplosion gestoppt, der Hunger beseitigt, der Regen süß, die Wüste eingedämmt, Öl reichlich vorhanden und atomare Strahlung kein Problem mehr ist!
Rationaler Optimismus? – Die »Rationalisten« innerhalb der mittelalterlichen Scholastik betrieben metaphysische Spekulationen mit dem schönen Ergebnis, daß göttliches Wollen und Handeln letztgültig erkennbaren logischen Regeln folge. – Kündigten sich schon hier die Ridley’schen »Beweisketten« an?