Als kaiserlicher Generalfeldmarschall mit Pickelhaube verkleidet nahm er an einer Veranstaltung im Rahmen des Programms »Weimar – Kulturhauptstadt Europas« teil. Nicht nur sein Kostüm, auch seine politischen Ansichten waren weit rechts angesiedelt. Der »Nationalsozialismus« habe »gute und auch schlechte Seiten« gehabt. Und die heutigen Neonazis seien im Gegensatz zu linken Autonomen »unproblematische Gruppen«, so seine Überzeugung.
Die Rede ist hier von Helmut Roewer, Offizier der Panzertruppe, Jurist und von 1994 bis 2000 Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. Die Verfassung sah Roewer nur von einer Seite aus als bedroht an: von links. Ein in Roewers Auftrag gedrehter Lehrfilm für den Schulunterricht über »Jugendlichen Extremismus in der Mitte Deutschlands« stellte entsprechend linke Antifaschisten als gewaltbereit da, während ein Neonazi in dem Film unkommentiert erklären durfte: »Wir sind prinzipiell gegen Gewalt.« Da Linke aus der Sicht Roewers so gefährlich sind, ließ er ein umfangreiches Dossier über den PDS-Politiker Bodo Ramelow anlegen, der 1999 in den Thüringer Landtag einzog. Und da Neonazis so »unproblematisch« sind, warb der Thüringer Verfassungsschutz eine Reihe von ihnen als Inoffizielle Mitarbeiter an – in der Bundesrepublik werden diese V-Leute genannt. Und nicht nur das: Einer dieser V-Leute mit Decknamen »Otto« durfte gar eine neue Nazitruppe namens »Thüringer Heimatschutz« (THS) gründen. »Otto«, der mit wirklichem Namen Tino Brandt heißt und vorübergehend auch dem Thüringer Landesvorstand der NPD angehörte, bekam zwischen 1994 und 2001 über 200.000 DM für seine Dienste, die er nach eigenen Angaben in den Aufbau des THS steckte. Dem so an der langen Leine des Geheimdienstes hängenden THS gehörten auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe an, bis sie sich wegen des Baus von Rohrbomben 1998 dem polizeilichen Zugriff durch Abtauchen entzogen. Der Fürsorge des Verfassungsschutzes konnten sie sich offenbar weiter sicher sein. V-Mann »Otto« kaufte dem Nazi-Trio, das sich seine Untergrundaktivitäten anfangs durch eine menschenverachtende Eigenkreation eines Spiels namens »Pogromly« finanzierte, mehrere dieser Brettspiele für seine Dienststelle ab. Vom Verfassungsschutz erhielt »Otto« auch 2000 DM zur Weitergabe an die abgetauchten Nazis. Das Geld sollte zum Kauf falscher Ausweispapiere dienen. Als die Polizei das Haus von »Otto« observierte, warnte ihn sein V-Mann-Führer und beschrieb ihm die Fahrzeuge der polizeilichen Überwacher. Verfassungsschutzpräsident Roewer selber wurde nach einer Reihe von Affären unter anderem wegen der hohen Geldzahlungen an »Otto« im Jahr 2000 vom Dienst suspendiert. Er publiziert inzwischen im als extrem rechts geltenden Ares-Verlag in Graz.
Die unter seiner Ägide in die Illegalität abgetauchten Mitglieder des THS Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bildeten in den folgenden Jahren eine Terrorzelle namens »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Dem NSU werden unter anderem eine deutschlandweite Mordserie an neun türkisch-kurdisch-griechischen Kleinunternehmern durch gezielte Pistolenschüsse in den Kopf, der Mord an einer Polizistin in Heilbronn, zwei Rohrbombenanschläge auf Migranten sowie 14 Banküberfälle zur Finanzierung des Lebens in der Illegalität vorgeworfen. Ans Licht kam das erst, als Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem Banküberfall in ihrem Wohnmobil erschossen aufgefunden wurden und Beate Zschäpe die Zwickauer Wohnung, in der das Trio jahrelang unerkannt lebte, offenbar zur Verwischung von Beweisen in die Luft jagte. In den Trümmern wurden unter anderem die Tatwaffen für die Morde an den migrantischen Kleinunternehmern und der Polizistin sowie zynische Bekennervideos gefunden. Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten nach eigener Darstellung weder Erkenntnisse, die auf einen neofaschistischen Hintergrund der Mordserie hindeuteten, noch auf die Aufenthaltsorte der abgetauchten NSU-Mitglieder. Dagegen galten die NSU-Mitglieder in der faschistischen Szene als »bekannte, große Figuren«, berichtet die Süddeutsche Zeitung vom 9. Dezember 2011. Hat der Verfassungsschutz mit seinen zahlreichen V-Leuten in der Naziszene das nicht mitbekommen? Beim Mord an einem türkischen Besitzer eines Internetcafes in Kassel und beim Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn waren Verfassungsschützer während der Tat vor Ort. Zufall?
Meiner Meinung nach handelt es sich hier nicht nur um Fahndungspannen. Der Verfassungsschutz ist auch nicht einfach »auf dem rechten Auge blind«, wie ihm manche noch fast wohlwollend unterstellen. Vielmehr ist die ganze Institution der Verfassungsschutzämter strukturell und weltanschaulich gänzlich ungeeignet zur Bekämpfung von Neonazis und Rechtsterrorismus. Das ergibt sich schon aus der Geschichte dieses Inlandsgeheimdienstes.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde mitten im Kalten Krieg 1950 aus einem von der US-Army zur Beobachtung der Kommunistischen Partei geschaffenen »Amt für Verfassungsschutz« geschaffen. Viele seiner Mitarbeiter waren bereits unter dem Hitlerfaschismus erprobte Antikommunisten aus dem Sicherheitsdienst (SD) und der SS. 1955 wurde der ehemalige SA-Mann und NS-Jurist Hubert Schrübbers mit CDU-Parteibuch zum Präsidenten des Verfassungsschutzes. Erst 1972 wurde der Alt-Nazi aufgrund seiner Rolle als NS-Staatsanwalt gegen politisch und rassisch Verfolgte in den Ruhestand versetzt. Unter Schrübbers stiegen besonders viele Altnazis in hohe Positionen im Verfassungsschutz auf. Ebenso wie ihre Kameraden, die Ende der 1960er Jahre die NPD als neue, legale Nazipartei gründeten, waren diese Geheimdienstbeamten stramm rechts eingestellt. Der Feind steht links – so lautete das antikommunistische Credo von Verfassungsschutz und NPD gleichermaßen. Bei den ersten V-Leuten des Geheimdienstes innerhalb der NPD dürfte es sich so weniger um geheime Unterwanderer gehandelt haben, als vielmehr um alte Kameraden, denen die Verfassungsschützer mit Staatsgeldern wohlwollend unter die Arme griffen. Als das erste NPD-Verbotsverfahren im Jahr 2003 an der Durchsetzung der Nazipartei mit V-Leuten der Verfassungsschutzämter scheiterte, beklagte das Bundesverfassungsgericht zurecht eine »mangelnde Staatsferne« der NPD. Dieses Verhältnis von Teilen des Staatsapparates und der rechtsbürgerlichen Parteien zu den Neonazis wurde vom langjährigen CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsident Franz-Josef Strauß wie folgt formuliert: »Mit Hilfstruppen darf man nicht zimperlich sein.« Und er fügte hinzu: »Man muß sich der nationalen Kräfte bedienen, auch wenn sie noch so reaktionär sind ... Hinterher ist es immer möglich, sie elegant abzuservieren.« Als eine solche Hilfstruppe betrachtete FJS offenbar auch die neonazistische Wehrsportgruppe Hoffmann, die er noch nach ihrem Verbot durch das Bundesinnenministerium im Januar 1980 als eine Art harmlosen Wanderverein verteidigte. Ein Mitglied der Wehrsportgruppe zündete auf dem Münchner Oktoberfest 1980 eine Bombe, die den Attentäter Gundolf Köhler und zwölf Festbesucher in den Tod riß. Dieser Anschlag kurz vor der Bundestagswahl, bei der sich FJS als Retter des Vaterlandes präsentierte, war der schwerste rechtsterroristische Anschlag auf deutschem Boden. Es gibt auch Hinweise auf eine Verwicklung der aus Geheimdiensten und Faschisten gebildeten NATO-Konterguerilla Gladio in den Anschlag. So betrieb Gladio etwa in Italien und der Türkei eine »Strategie der Spannung« um autoritäre Regime an die Macht zu bomben. Ein Attentat, »könnte man es den Linken in die Schuhe schieben, dann wird der Strauß gewählt«, hatte Oktoberfestbomber Köhler vor seiner Tat geäußert.
Manchmal allerdings laufen »Hilfstruppen« auch aus dem Ruder. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an den V-Mann der Reichswehr Adolf Hitler. Nach der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik wurde der Gefreite 1919 in die neugegründete Deutsche Arbeiterpartei eingeschleust. Er stieg alsbald zum »Führer« der fortan als »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« firmierenden antisemitischen Krawalltruppe auf.