In Berlin praktizierte der junge Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter noch in der Halbruine eines zerbombten Hauses, als ringsum schon die Fassaden eines neuen Wohlstands hochwuchsen. Später hat er den ehrenvollen Ruf an die Universität Heidelberg ausgeschlagen; das nüchterne, geschundene Gießen war ihm gemäßer als der traditionsverklärte Symbolort kultureller Kontinuität. Richter war entschlossen, sich vom schönen Schein eilfertiger Harmonisierung nicht täuschen zu lassen und den ungelösten Widersprüchen der Zeit standzuhalten.
Auf die Bestialitäten des Krieges, in den er als Achtzehnjähriger geworfen wurde, hatte er mit einem psychischen Zusammenbruch reagiert, der den Weg wies zu lebensbestimmenden Einsichten. Die scheinbare Schwäche erwies sich als befreiende Kraft: eine Lebendigkeit, die sich nicht in rigide Anpassungsmuster pressen läßt. Und am eigenen Leib erfuhr Richter, daß nicht zu trennen ist zwischen seelischem Leiden und körperlicher Krankheit, zwischen privater Existenz und politisch-gesellschaftlichem Schicksal. Er wurde einer der bedeutendsten Psychosomatiker, und er wurde ein Psychoanalytiker, für den es nicht »Anwendung« seines Fachwissens auf fremde Gebiete war, wenn er politische Zustände analysierte und sich einmischte in die Tagesaktualität; es war vielmehr Widerstand gegen künstliche Aufspaltungen der Wirklichkeit und Ausdruck des Bedürfnisses, im paranoischen Klima des Kalten Krieges und dann in den Verblendungen des entfesselten Kapitalismus die Integrität als Mensch zu bewahren. Richter wurde zum konsequentesten Friedensarbeiter der Republik.
Die »sokratische Offenheit bis zum äußersten durchzuhalten« – so hat Richter einmal die Aufgabe der Psychoanalyse definiert. Das sokratische Prinzip gewinnt aus der Schwäche eine Kraft: nicht in der Macht des Wissens, sondern in der Ohnmacht des eingestandenen Nichtwissens liegt die Chance zur Wahrheit. Daß Richter dies auch auf sich selbst bezog, die Pose des Bescheidwissers mied und die eigene Expertenrolle stets kritisch hinterfragte, hat zu seiner inspirierenden Breitenwirkung ebenso beigetragen wie sein persönlicher Einsatz in der Friedensbewegung und in der Arbeit mit sozialen Randgruppen. Die Kraft aus dem Annehmen der Schwäche aber blieb Leitlinie seiner Erkenntnisarbeit wie seines therapeutischen Wirkens und durchzieht als Kernbotschaft alle seine zahllosen Bücher, von »Eltern, Kind, Neurose«, dem wirkungsmächtigen Erstling, über »Lernziel Solidarität«, »Flüchten oder Standhalten«, »Der Gotteskomplex« und viele andere bis zu »Die seelische Krankheit Friedlosigkeit ist heilbar«, seinem letzten Werk. »Wer nicht leiden will, muß hassen« hieß eines der Bücher. Wenn wir aber unsere Endlichkeit annehmen, uns gegen die Angst vor Ohnmacht nicht abpanzern mit Größenwahn und imaginärer Stärke, wenn wir die eigene Hilflosigkeit wie die eigene Aggressivität nicht auf andere projizieren und an ihnen bekämpfen, dann werden wir fähig zum Frieden, zur individuellen wie sozialen Heilung.
So formelhaft verkürzt, mag das simpel klingen. Es war aber alles andere als eine schlichte »Heilslehre« oder naives »Gutmenschentum«. Es war die Einladung zu unablässiger gemeinsamer Arbeit auf dem mühseligen Weg zum Lernziel Solidarität. In einem eminent politischen Sinn war Horst-Eberhard Richters Leben exemplarisch. Schonungslos zog er die Konsequenzen aus der deutschen Katastrophe. In einer Zeit der »organisierten Unverantwortlichkeit« (Ulrich Beck), die den Einzelnen ohnmächtig den Sachzwängen verselbständigter Apparate auszuliefern scheint, hat er, der nicht nur Seelenarzt war, sondern auch promovierter Philosoph und passionierter Bergsteiger, den keine Herausforderung schreckt, Wege gewiesen zur Rückgewinnung der Menschlichkeit. »Die Chance des Gewissens« hieß ein früher Lebensrückblick. Das Gewissen aber fordert nicht den moralischen Kraftakt, sondern Wahrhaftigkeit im Wahrnehmen unserer Verletzbarkeit, die der Preis gesunder Lebendigkeit ist.
Kurz vor Weihnachten ist Horst-Eberhard Richter im Alter von 88 Jahren gestorben. Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, für den er prädestiniert schien wie kein anderer, hat er nie erhalten. Er war zu unbequem.