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Griechenland und die Euro-Krise  (Karl Heinz Roth)

Seit fünf Jahren hat eine schwere Wirtschaftskrise Griechenland im Griff. Sie ist durch die Sparprogramme der letzten zweieinhalb Jahre vertieft und zur Depression verlängert worden. Eine beispiellose Massenverarmung hat eingesetzt. Auch das politische System ist erschüttert. Die vorgezogene Parlamentswahl vom 6. Mai 2012 ergab zunächst keine regierungsfähige Mehrheit. In einem zweiten Durchgang konnten sich die Konservativen knapp durchsetzen und zusammen mit den beiden sozialdemokratischen Parteien (PASOK und Demokratische Linke) eine Koalitionsregierung bilden. Diese »innere Troika« verabschiedete nach monatelangen Auseinandersetzungen ein weiteres Sparprogramm, von dem die Gläubiger der »äußeren Troika« (Europäische Zentralbank, EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds) die Überweisung weiterer Darlehensgelder abhängig machten. In dieser zugespitzten Situation haben sich auch die Unterklassen wieder zu Wort gemeldet. Durch Generalstreiks und Massendemonstrationen haben sie seit Ende September immer wieder ihre Wut und Verzweiflung über die katastrophalen Folgen der Sparprogramme zum Ausdruck gebracht.

Die weitere Entwicklung ist völlig offen. Von ihren Auswirkungen und ihrem Ausgang sind auch wir betroffen. Griechenland ist eine kleine Volkswirtschaft der europäischen Peripherie. Es gehört aber nicht nur der Europäischen Union, sondern auch der Euro-Zone, ihrem Kernbereich, an. In der griechischen Krise bündeln sich die sozialen, wirtschaftlichen und strukturellen Mängel des europäischen Machtblocks, die unter dem Druck der globalen Rezession von 2008/2009 zur Euro-Krise geführt haben. Insofern sind wir gut beraten, wenn wir versuchen, am Beispiel Griechenland die Hintergründe und Abläufe dieser Krise zu verstehen und Gegenperspektiven zu entwickeln, die mit den materiellen Überlebensinteressen der breiten Masse der Unterklassen – Erwerbslose, Prekäre, abhängig Beschäftigte und untere Mittelschicht – übereinstimmen.

Die Vorgeschichte
der Krise reicht bis in die frühen 1980er Jahre zurück. 1981 wurde Griechenland in die damalige Europäische Gemeinschaft aufgenommen. In diesem Jahr gelangte die griechische Sozialdemokratie (PASOK) an die politischen Machthebel. Es begann ein für Griechenland bislang einmaliger gesellschaftlicher und wohlfahrtsstaatlicher Aufbruch: Gesundheitszentren wurden eingerichtet, Basislöhne durchgesetzt, die Fundamente eines sozialen Sicherungssystems wurden geschaffen und die Frauenrechte gestärkt. Gleichwohl kam nur ein »unvollständiger Sozialstaat« zustande, weil der Aufbruch zu dieser Zeit innerhalb Europas völlig isoliert war. Es gelang nicht, das traditionelle Klientelsystem der griechischen Gesellschaft zu überwinden, und nach wie vor fehlte eine minimale Sicherung vor dem Absturz in die absolute Armut. Die prekären Arbeitsverhältnisse der Schattenwirtschaft blieben bestehen und weiteten sich allmählich wieder aus. Doch die gesamtwirtschaftlichen Verhältnisse stabilisierten sich. Die griechische Regierung war zwar der Europäischen Gemeinschaft, nicht aber dem seit 1979 bestehenden Europäischen Währungssystem beigetreten und behielt deshalb die Verfügungsgewalt über den Wechselkurs ihrer Landeswährung, der Drachme. Sie konnte deshalb die hohen Wettbewerbsnachteile gegenüber den Ländern der europäischen Kernzone währungspolitisch ausgleichen. Zwischen 1979 und 1992 wurde die Drachme um insgesamt 86 Prozent abgewertet. Dadurch wurden die Exporte entsprechend verbilligt und die Einfuhren verteuert.

Dieser Zustand endete im Jahr 1993, als sich Griechenland unter der konservativen Mitsotakis-Regierung dem Maastricht-Vertrag der Europäischen Gemeinschaft anschloß. Nun mußten im Vorgriff auf die geplante Einführung der Einheitswährung die Zinssätze, Wechselkurse, die Zahlungsbilanzen und die Obergrenze der Staatsverschuldung einem einheitlichen europäischen Standard angepaßt werden. Infolgedessen war es nur noch sehr begrenzt möglich, die weiter bestehenden Wettbewerbsnachteile währungspolitisch auszugleichen. Die Exporte gingen allmählich zurück und die Zahlungsbilanz drehte ins Minus. Die Defizite wurden in erster Linie durch eine steigende staatliche Schuldenaufnahme ausgeglichen, denn die griechische Arbeiterbewegung war auch in den 1990er Jahren noch stark genug, um die »innere Abwertung« (massive Lohnsenkungen und Streichungen im Sozialhaushalt) zu verhindern. Allerdings blieb die Reichweite des gewerkschaftlichen Widerstands begrenzt. Er reichte nicht aus, um die Ausweitung ungeschützter Arbeitsverhältnisse im Privatsektor zu verhindern, mit denen vor allem die Jugendlichen und die wachsende Schicht südosteuropäischer WanderarbeiterInnen konfrontiert waren. Hinzu kam das Wiederaufleben des Klientelismus, der traditionellen Variante der Arbeitsbeschaffung, im öffentlichen Sektor.

Trotz dieser strukturellen Schieflage wurde Griechenland 2001 in die Euro-Zone aufgenommen. Dabei wußten alle beteiligten Entscheidungsträger, daß die ökonomischen Daten geschönt waren, um den Maastricht-Kriterien formal zu genügen. Dafür, daß beide Augen zugedrückt wurden, waren geostrategische und tagespolitische Gründe maßgeblich. Griechenland bildet geographisch das südliche Glacis des Balkans, dessen Kleinstaaten sich nach der im Jahr 1999 abgeschlossenen Zerstörung der Jugoslawischen Föderation auf ihre Integration in die neue europäische Hegemonialmacht vorbereiteten; in diesem Kontext spielte Griechenland eine entscheidende Rolle als ökonomisches, politisches und militärisches Hinterland. Hinzu kam ein politischer Deal mit der deutschen Bundesregierung. Der Oberste Gerichtshof hatte einer Entschädigungsklage der Nachkommen von Opfern der deutschen Okkupationsherrschaft stattgegeben und die Konfiskation deutscher Vermögenswerte in Griechenland verfügt. Nur die griechische Regierung konnte diese Prozedur verhindern, indem sie das Urteil suspendierte. Sie tat das, und die Schröder-Regierung erklärte sich im Gegenzug bereit, den griechischen Aufnahmeantrag in die Euro-Zone zu unterstützen.

Die Einbeziehung in die Euro-Zone brachte den eng miteinander verflochtenen politischen und wirtschaftlichen Herrschaftseliten Griechenlands erhebliche Vorteile. Sie verfügten nun über eine harte Währung und konnten in Europa und auf den internationalen Kapitalmärkten Kredite zu extrem günstigen Bedingungen aufnehmen. Infolgedessen kam es zu massiven Kapitalimporten und zu einer intensiven Verflechtung der griechischen Finanzoligarchie mit den dominierenden Kapitalgruppen der Europäischen Union, die vor allem in den griechischen Infrastruktursektor und den militärisch-industriellen Komplex investierten. Die griechische Armee wurde modernisiert und aufgerüstet, wovon vor allem die französischen und deutschen Rüstungskonzerne profitierten. Hinzu kam ein gewaltiger Bauboom in der Verkehrsinfrastruktur, der zusammen mit den Bauprojekten zu den Olympischen Spielen 2004 spektakuläre Ausmaße erreichte. Demgegenüber blieben die Impulse zur Modernisierung der überwiegend klein- und mittelbetrieblichen Binnenwirtschaft weit zurück. Trotzdem wurden in den Boom-Jahren 2001 bis 2007 Wachstumsraten erreicht, die sich zwischen 3,7 und 5,2 Prozent jährlich bewegten.

Die Gewinner dieses wenig tragfähigen Aufschwungs sind leicht auszumachen. An erster Stelle rangierten die Familienclans der griechischen Finanzoligarchie aus Reedern, Bauindustrie und Bankkapital. Sie hatten traditionell kein Interesse an einer nachhaltigen Stabilisierung der griechischen Nationalökonomie, sondern reinvestierten ihre spekulativen Gewinne überwiegend im europäischen Ausland. Zur zweiten Gruppe der Profiteure gehörten die Großkonzerne der Bau-, Investitionsgüter- und Rüstungsindustrie sowie des Finanzsektors der europäischen Kernzone, die ihre Projekte zusammen mit der griechischen Finanzoligarchie realisierten. Dritter im Bunde war die griechische politische Klasse in Gestalt der beiden Volksparteien PASOK und Nea Dimokratia (ND). Sie lösten einander im Kontext einer extrem klientelistisch verfaßten repräsentativen Demokratie in der Ausübung der politischen Macht ab, waren eng mit der Finanzoligarchie verfilzt und bereicherten sich massiv, indem sie sich ihre Handreichungen bei den Operationen im Infrastruktur- und Rüstungssektor entsprechend vergüten ließen. Allein der Siemens-Konzern hat in der Boomphase jährlich 15 Millionen Euro Schmiergelder zugunsten der griechischen politischen Klasse ausgeschüttet.

Der Boom hatte aber auch seine Schattenseiten. Da mit der Einführung des Euro der währungspolitische Ausgleich der Wettbewerbsnachteile hinfällig geworden war, war der weitere Rückgang der Exporte unvermeidlich. Die Salden der Zahlungsbilanz drehten dauerhaft ins Minus. Es kam zu einer schleichenden Entindustrialisierung, von der nur die global wettbewerbsfähigen Sektoren – das Reedereikapital, die Erdölraffinerien und die Pharmaindustrie – ausgenommen blieben. Die prekären Arbeitsverhältnisse nahmen weiter zu. Neben den MigrantInnen waren vor allem die Jugendlichen betroffen. Soziologen beschrieben das Aufkommen einer »700 Euro-Generation«, die zunehmend der Entwicklung in den übrigen EU-Ländern ähnelte. Die bedrohlichste Kehrseite des Booms stellte jedoch die zunehmende Staatsverschuldung dar: Zum einen mußten die Infrastrukturinvestitionen und Kriegswaffenbeschaffungen durch die gesteigerte Ausgabe von Staatsanleihen refinanziert werden; hinzu kam aber auch der sich immer stärker ausbreitende politische Klientelismus, der nach dem Wahlsieg der Konservativen im Jahr 2004 einen Gipfelpunkt erreichte: Die Wähler gaben denjenigen Kandidaten ihre Stimme, die ihnen persönliche Vorteile – so etwa einen Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst – versprachen.

Die Weltwirtschaftskrise
traf im Verlauf des Jahres 2008 auch die griechische Volkswirtschaft hart. Der Güterumschlag der Reedereibranche schrumpfte um ein Viertel. Die Umsätze des Tourismussektors gingen um ein Fünftel zurück, und auch in Griechenland konnten die Banken nur durch umfangreiche öffentliche Stützungsaktionen vor dem Kollaps bewahrt werden. Die Exporte erlebten einen massiven Einbruch, und die Zahlungsbilanzdefizite stiegen weiter an. Die Erwerbslosenquote erreichte zehn Prozent, bei Jugendlichen sogar 30 Prozent. Der dadurch bedingte Einbruch des Massenkonsums brachte die Binnenwirtschaft zum Schrumpfen. Die Entindustrialisierung der Gesamtwirtschaft beschleunigte sich.

Nun wurde es eng für die Akteure der griechischen Wirtschaftspolitik. Als sie gegenzusteuern begannen, machten sich die im vorausgegangenen Infrastrukturboom entstandenen strukturellen Mängel deutlich bemerkbar. Dabei rückte die chronische Überschuldung des Staatshaushalts immer mehr in den Vordergrund. Der Rückgang der Steuereinnahmen und der Anstieg der Sozialausgaben verstärkten die fiskalpolitische Schieflage. Diese Entwicklung wurde lange verschleiert. Als aber die PASOK die Konservativen im Oktober 2009 an den politischen Schalthebeln ablöste, mußten die Fakten auf den Tisch gelegt werden. Die jährliche öffentliche Neuverschuldung erreichte bis Ende 2009 einen Umfang von 13 Prozent der Wirtschaftsleistung, und der Gesamtumfang der Staatsschuld belief sich jetzt auf 140 Prozent. Daraufhin schnellten die Zinssätze und Risikoprämien der auf den internationalen Obligationsmärkten gehandelten griechischen Staatsanleihen sprunghaft in die Höhe. Die griechische Regierung war seitdem von den privaten Kapitalmärkten faktisch abgeschnitten.

Infolgedessen stand die neue PASOK-Regierung unter Ministerpräsident Jorgos Papandreou vor der Alternative, einen Zahlungsstopp zu verkünden und mit den Gläubigern Umschuldungsverhandlungen aufzunehmen oder sich unter Vermittlung der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie der EU-Kommission um die Beschaffung öffentlicher Darlehen zu bemühen. Wie wir wissen, wählte sie die zweite Variante. Nach hektischen Verhandlungen holten die Entscheidungsträger der EZB und der EU-Kommission den Internationalen Währungsfonds (IWF) mit ins Boot. Im Frühjahr 2010 wurde die »Troika« gegründet. Sie besteht bis heute aus drei Expertengruppen, die eng zusammenarbeiten, der griechischen Regierung Vorgaben für die Sanierung des Staatshauhalts machen und davon ausgehend weitreichende sozial- und wirtschaftspolitische Umstrukturierungsprogramme erzwingen.

Sparprogramme und Troika-Darlehen
Im Mai 2010 verabschiedete das Parlament im Anschluß an ein Regierungsprogramm vom März ein erstes Sanierungs- und Darlehenspaket. Innerhalb von drei Jahren sollte der Staatshaushalt durch Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor und durch Steuererhöhungen (Anhebung der Mehrwertsteuer auf 23 Prozent sowie der Heizöl- und Benzinsteuern) um 30 Milliarden Euro entlastet werden, um die öffentliche Verschuldung innerhalb von zwei Jahren auf eine jährliche Neuverschuldung von drei Prozent zu begrenzen. Im Gegenzug sagte die Troika ein Darlehenspaket im Umfang von 110 Milliarden Euro zu, an dem sich der IWF mit 30 Milliarden und die europäischen Gläubiger mit 80 Milliarden Euro beteiligten. Das »Memorandum« ging von der Annahme aus, daß sich die Weltwirtschaft rasch erholen und eine kurzfristige Konsolidierung begünstigen würde.

Diese Annahme war jedoch illusorisch. Parallel zu Griechenland gerieten auch andere europäische Peripherieländer in eine schwere Depression. Da die europäischen Gremien trotzdem auf einen harten Restriktionskurs umschalteten, wurde die ökonomische Krise in der gesamten Europäischen Union verstärkt. In diesem Kontext zwang die Troika der griechischen Regierung im Juli 2011 ein zweites Sparpaket auf, das auf einen Planungsrahmen bis Ende 2014 ausgelegt wurde. Es sah zusätzlich zu weiteren Lohnsenkungen auch Massenentlassungen im öffentlichen Sektor vor und verfügte drastische Rentenkürzungen und Abstriche im Gesundheitsbudget. Dadurch sollten nochmals 28 Milliarden Euro eingespart werden. Zusätzlich wurde ein groß angelegtes Programm zur Privatisierung des öffentlichen Eigentums gestartet, das bis Ende 2014 einen Gesamterlös von 50 Milliarden Euro erbringen sollte. Im Gegenzug stellte die Troika ein weiteres Darlehenspaket im Umfang von 109 Milliarden Euro in Aussicht und sondierte erste minimale Umschuldungsmaßnahmen, die sie jedoch bald darauf wieder fallen ließ. Darüber hinaus entsandte die EU-Kommission eine »Einsatzgruppe« (Task Force) nach Athen. Ihr fiel die Aufgabe zu, die laufende Restriktionspolitik mit strukturellen Eingriffen zur Rationalisierung des Verwaltungsapparats zu kombinieren.

Schon ein Vierteljahr später, im Oktober 2011, revidierte die Troika auch dieses zweite Austeritätsprogramm, da es inzwischen genauso unrealistisch geworden war wie das erste. Die zweite Darlehenszusage wurde auf 130 Milliarden Euro erhöht und ein Schuldenschnitt im Umfang von 50 Prozent der von privaten Gläubigern gehaltenen Staatsanleihen in Aussicht genommen. Im Gegenzug wurden die beiden Volksparteien PASOK und ND zur Bildung einer Koalitionsregierung unter dem Finanztechnokraten Loukas Papadimos gedrängt. Die neue Übergangsregierung sollte das im Juli verabschiedete Sparpaket beschleunigt umsetzen.

Aber auch diesen Anlauf machte die weiter vertiefte Rezession innerhalb weniger Monate zunichte. Deshalb lancierte die Troika im Februar 2012 ein drittes Programm, das einen Generalangriff auf die Löhne und Sozialeinkommen der gesamten Unterklassen und der unteren Mittelschicht darstellte. Die Mindestlöhne wurden für Erwachsene um 22 Prozent und für Jugendliche sogar um 31 Prozent gesenkt, und das hatte entsprechende Einschnitte bei den Arbeitslosengeldern zur Folge. Auch im privaten Sektor wurden durch die Abschaffung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds drastische Lohnkürzungen durchgesetzt. Hinzu kam die weitgehende Demontage der nationalen Tarifvereinbarungen und des Arbeitsrechts. Auch die Renten wurden gekürzt und die öffentlichen Ausgaben für das Gesundheits- und Bildungswesen zusammengestrichen, während im Gegenzug die Sozialabgaben erhöht und Sondersteuern auf Immobilien erhoben wurden. Unter dieser Voraussetzung gab die Troika das schon im Februar in Aussicht gestellte zweite Darlehenspaket im Umfang von 130 Milliarden Euro frei und brachte den Schuldenschnitt auf den Weg, der allerdings nur die privaten Gläubiger betraf: Sie sollten auf 53,5 Prozent des Nominalwerts der von ihnen gehaltenen Staatsanleihen verzichten, was einem Volumen von 107 Milliarden Euro entsprach. Auf diese Weise sollte die inzwischen auf 160 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung gestiegene Staatsschuld bis zum Jahr 2020 auf 120 Prozent reduziert werden.

Indessen war auch dieses rigorose Sparpaket noch nicht das letzte Wort. Obwohl es die Krisenspirale weiter beschleunigte und vor aller Augen die Verarmung der griechischen Unter- und Mittelschicht vorantrieb, ließ die Troika nicht locker. Sobald sich die aus den Juni-Wahlen hervorgegangene neue Regierung einigermaßen konsolidiert hatte, zwangen ihr die Teams des IWF, der EZB und der EU-Kommission eine neue Verhandlungsrunde auf. Zunächst war von einer offenen Haushaltsdeckungslücke im Umfang von 11,5 Milliarden Euro die Rede, die bis Ende 2014 durch weitere Rentenkürzungen, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und die Halbierung der Sozialfürsorge geschlossen werden sollte. Es kam zu monatelangen Verhandlungen, deren Zwischenergebnisse immer wieder durch die sich weiter vertiefende Rezession zu Makulatur gemacht wurden. Anfang November 2012 legten dann der konservative Ministerpräsident Antonis Samaras und dessen Finanzminister Ioannis Stournaras die Karten auf den Tisch. Sie hatten mit der Troika eine Ausdehnung des Finanzrahmens bis Ende 2016 vereinbart, innerhalb dessen weitere 18,8 Milliarden Euro eingespart werden sollen; allerdings soll die Hauptmasse der Einsparungen im Umfang von 13,5 Milliarden Euro schon innerhalb der nächsten zwei Jahre erzielt werden, vor allem durch die gestaffelte Kürzung der Altersbezüge (5,5 Milliarden Euro), Gehaltskürzungen und Entlassungen im Öffentlichen Dienst (1,5 Milliarden Euro) und weitere Kürzungen im Gesundheitssektor (1,1 Milliarden Euro). Auch die Steuerschraube wurde ein weiteres Mal hochgedreht, um zusätzliche Einnahmen im Umfang von 3,9 Milliarden Euro einzutreiben. Insgesamt sah das mittelfristige Finanzprogramm 151 Eingriffe vor, die weit über das Feld der Budgetsanierung und Sparpolitik hinausreichen und die Demontage der in jahrzehntelangen Kämpfen erworbenen Arbeitsschutz- und Sozialrechte vollenden.

Das vierte Sparpaket wurde vom Parlament am 7. November 2012 mit knapper Mehrheit gebilligt. Darauf folgte am 11. November die Verabschiedung des Haushaltsplans für 2013 mit Budgeteinsparungen im Umfang von 9,5 Milliarden Euro. Damit hatte die von der Dreierkoalition der Nea Dimokratia, der PASOK und der Demokratischen Linken (Dimar) verantwortete Austeritätspolitik ihren Gipfelpunkt erreicht. Sie war einmal mehr mit dem Argument durch das Parlament gepeitscht worden, unter allen Umständen die Vorbedingungen für die Freigabe der nächsten Darlehenstranche im Umfang von 31,5 Milliarden Euro nicht gefährden zu dürfen. Damit ließen sich die Finanzminister der Euro-Zone jedoch Zeit. Auf ihrer Sitzung am 12. November vertagten sie die Entscheidung. Um den Staatsbankrott dennoch zu verhindern, genehmigten sie die Verlängerung eines kurzfristigen Überbrückungsdarlehens im Umfang von fünf Milliarden Euro, das die EZB schon im August zur Verfügung gestellt hatte.

Durch dieses Vorgehen haben die Entscheidungsträger der Troika eine weitere Vertiefung der griechischen Wirtschaftsdepression ausgelöst. Gleichzeitig werden zunehmende Konflikte zwischen dem IWF und den beiden europäischen Partnern der Troika sichtbar. Der IWF plädiert inzwischen für einen zweiten Schuldenschnitt, für den diesmal die öffentlichen Gläubiger der Europäischen Union – EZB und EU-Kommission – aufkommen müßten. Die aber lehnen ihn vehement ab und erteilten auch einem weiteren Darlehenspaket eine Absage. Stattdessen plädieren sie dafür, die Frist zur Sanierung der griechischen Staatsfinanzen über das Jahr 2020 hinaus zu verlängern. Derweil rückt der Kollaps der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft immer näher. Dessen ungeachtet sind die Entscheidungsträger der EZB und der EU-Kommission nur zu minimalen Entlastungsaktivitäten bereit. Dazu gehören die Senkung der Darlehenszinsen, die Verlängerung der Ankaufsfrist für kurzfristige Anleihen durch die EZB und die Überweisung der Extraprofite, die die EZB und einige europäische Nationalbanken seit 2010 aufgrund weit unter Nominalwert gekaufter Staatsanleihen herausziehen, an die griechische Regierung. Als die Regierungschefs der Euro-Zone Ende November endlich die 31,5 Milliarden-Tranche freigaben, stellten sie zugunsten dieser Entlastungsmaßnahmen einen zusätzlichen Betrag von 12,2 Milliarden Euro in Aussicht.

Von der Rezession zur Depression
Mittlerweile ist Griechenland am Ende des fünften Krisenjahrs angekommen. Eine Abschwächung der Krise ist nicht absehbar. Vielmehr gelangen von Woche zu Woche immer schlimmere Daten an die Öffentlichkeit. Die Wirtschaftsleistung ist seit Krisenbeginn um 25 Prozent zurückgegangen und wird Ende 2012 um weitere 6,5 Prozent geschrumpft sein, die Investitionen wurden um 39 Prozent zurückgefahren. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote ist auf 25,4 Prozent (1,3 Millionen Personen) gestiegen, bei Jugendlichen unter 24 Jahren hat sie 58 Prozent erreicht. Die Einkommen der durchschnittlichen Arbeiterhaushalte haben sich halbiert. Der Massenkonsum ist um über ein Drittel geschrumpft, in den Großstädten sind die Einzelhandelsumsätze um 45 Prozent eingebrochen. Die griechischen Unter- und Mittelschichten leben seit drei Jahren von den Vermögensreserven, die sie im Rahmen ihrer immer noch intakten Familienverbände angesammelt hatten. Diese Überlebensreserven gehen allmählich zur Neige.

Derart dramatischen Einbrüchen vermag keine Gesellschaft länger standzuhalten, auch nicht die griechische. Ein Drittel der griechischen Bevölkerung vegetiert inzwischen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Ihre Haushalte können die Krankenversicherung, die Mieten und die Stromrechnungen nicht mehr bezahlen, ihre Hypotheken nicht mehr bedienen und kein Heizöl mehr für den Winter anschaffen. 40.000 bis 50.000 Menschen sind obdachlos. Die Kommunalverwaltungen, Hilfsorganisationen und Kirchengemeinden geben zeitweilig bis zu 250.000 Essensrationen täglich aus. Nach neuesten Angaben hat mindestens die Hälfte der Erwerbslosen – etwa 650.000 Menschen – ihre Krankenversicherung verloren. Werden bei ihnen Krebsleiden oder andere schwere Erkrankungen festgestellt, dann werden diese einfach ignoriert und nicht behandelt. Viele chronisch Kranke sterben deutlich früher, weil sie sich die – nur noch privat erhältlichen – Medikamente nicht leisten können. Der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung schreitet immer schneller voran. Trotzdem bilden weitere Kürzungen im Gesundheitsetat einen Schwerpunkt des neuesten Sparpakets.

Immer mehr Menschen versuchen, den Krisenfolgen zu entgehen, indem sie ihre Wohnorte verlassen und sich auf die Wanderschaft begeben. Inzwischen sind 80 Prozent aller Jugendlichen in ihre elterlichen Haushalte zurückgekehrt. Da die Hälfte der griechischen Familien noch über ländliche Grundstücke verfügt, beginnen sie zunehmend die städtischen Ballungsgebiete zu verlassen. Zusätzlich hat bei den höher qualifizierten Jugendlichen eine Emigrationswelle eingesetzt. Ihre Zielregionen sind vor allem Nordamerika, Australien, die Golfstaaten und die Kernzone der Europäischen Union. München ist zur Drehscheibe der Auswanderung in die Kernländer der Europäischen Union geworden.

Wir dürfen aber auch die soziale Demoralisierung nicht verschweigen, die durch die Krise ausgelöst wurde. Die Zahl der psychischen Erkrankungen hat sprunghaft zugenommen. Immer mehr Menschen bringen sich um, es handelt sich überwiegend um Männer aus der unteren Mittelschicht. In den proletarischen Quartieren breiten sich Prostitution, Kleinkriminalität und Drogenabhängigkeit aus. Gleichzeitig kommt es zu einer zunehmenden Abschottung und Gettoisierung der Arbeiter- und Armenviertel, denn ihren BewohnerInnen fehlt buchstäblich das Geld, um ihre Stadtteile verlassen zu können. Derartige Konstellationen hat es in Griechenland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Bürgerkriegs nicht mehr gegeben. Vor der Krise hatte Griechenland zu denjenigen Ländern der Europäischen Union gehört, die sich durch niedrige Kriminalitäts- und Suizidraten auszeichneten.

Hinzu kommt das Massenelend der MigrantInnen, von denen etwa 800.000 registriert und 350.000 ohne Papiere sind. Die erste Einwanderungswelle, die zu Beginn der 1990er Jahre aus den südosteuropäischen Nachbarländern einsetzte, hatte die klassische griechische Emigrationsgesellschaft erstaunlich gut verkraftet. Als dann im vergangenen Jahrzehnt Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika hinzukamen, waren massive soziale Konflikte vorprogrammiert. Die europäischen Migrationsverträge lassen die Weiterwanderung der Flüchtlinge in die europäische Kernzone nicht zu. Inzwischen nutzen die griechischen Neofaschisten diese Konfliktsituation aus. Unter den Augen der Polizei begehen sie systematisch Gewaltakte gegen die »Fremden«, flankiert durch Praktiken des institutionellen Rassismus (Razzien, Einrichtung von Internierungslagern und so weiter). Antirassistische Hilfsorganisationen und Basisinitiativen der Linken kämpfen verzweifelt gegen die arbeitsteilige Mobilisierung dieses sozialen Ventils der um sich greifenden Massenverarmung. Die neofaschistische Partei »Chrysi Afji« (Goldene Morgenröte) wird seit neuestem von Teilen der konservativen Eliten als politische Alternative eingeschätzt und offen unterstützt.

Zwischenbilanz
Die von der Troika und den griechischen Regierungen seit dem Frühjahr 2010 ausgehandelten vier Austeritäts- und Darlehensprogramme sind gescheitert. Dieses Schicksal wird auch dem letzten, am 7. November 2012 verabschiedeten Sparpaket widerfahren, das erst nach einer mehrmonatigen Hängepartie zustande kam. Dabei stießen starre finanz- und wirtschaftspolitische Doktrinen immer wieder auf die Wirklichkeit einer sich dramatisch vertiefenden Krise; sie wurden aber nie revidiert, sondern lediglich der veränderten Datenlage angepaßt. Diese doktrinäre Härte kommt nicht von ungefähr. Sie stellt unter Beweis, daß die Akteure der Troika und der griechischen politischen Klasse einseitig im Interesse der Kapitalvermögensbesitzer handeln und die Krisenkosten einseitig auf die Unterklassen und unteren Mittelschichten abwälzen. Bis heute wurden keine wirksamen Maßnahmen gegen die vor aller Augen stattfindenden Steuerhinterziehungen und illegalen Vermögenstransfers der Oberschicht und Unternehmensoligarchen unternommen. Den Schätzungen seriöser Experten zufolge sind seit Krisenbeginn aus Griechenland Kapitalvermögen im Umfang von 120 bis 150 Milliarden Euro ins Ausland transferiert und auf Schweizer Banken und bei Investmentfonds in Singapur deponiert sowie im Londoner Immobiliensektor investiert worden. Die Kapitalflucht hat inzwischen Dimensionen erreicht, die sogar das im Juli 2011 verabschiedete Privatisierungsprogramm illusorisch machen: Von den ins Auge gefaßten Erlösen im Umfang von 50 Milliarden Euro sind bislang nur 1,5 Milliarden Euro realisiert worden. Das Einzige, was einigermaßen zu funktionieren scheint, ist bezeichnenderweise die Stabilisierung des griechischen Bankensystems. Von den insgesamt 240 Milliarden Troika-Darlehen wurde über ein Fünftel – knapp 50 Milliarden Euro – zur Rekapitalisierung des Finanzsektors bereitgestellt. Auf dieser Basis wurde ein Fusionsprogramm in Gang gebracht, in dessen Ergebnis die vier als »systemwichtig« bezeichneten griechischen Großbanken überleben sollen. Dagegen wurde der öffentliche Sektor – und mit ihm das gesamte soziale Sicherungssystem – endgültig in den Ruin getrieben.

Die hinter dieser Asymmetrie der Krisenbekämpfung stehenden materiellen Interessen liegen offen zutage. Sie haben zu einer Gemengelage aus doktrinärer Verbohrtheit und realem Chaos geführt, die etwas genauer untersucht werden sollte. Dabei fallen einige Faktoren besonders ins Auge.

I. Bis heute waren die Exponenten des IWF-Teams die unangefochtenen Taktgeber des Vorgehens der Troika. Sie verfolgen ein rigoroses Modell der Haushaltssanierung, um Umschuldungsoperationen durch Strukturanpassungsprogramme zu ersetzen. Sie halten es für ihre wichtigste Aufgabe, die privaten und öffentlichen Zeichner der Staatsanleihen um fast jeden Preis vor Verlusten zu schützen, und ordnen die gesamte Haushalts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik diesem Vorrang unter. Das verleitet sie zur schematischen Anwendung jener Strukturanpassungsprogramme, wie sie schon in den 1980er Jahren während der Schuldenkrise der Schwellenländer des globalen Südens angewandt und in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks nochmals verfeinert wurden. Die Mitglieder des Athener IWF-Teams repräsentieren diese Erfahrungen auch persönlich.

II. Innerhalb dieses Rahmens agieren die Teams der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission, die beide von Deutschen geleitet werden. Sie lancieren Maßnahmen zur Senkung der Staatsausgaben und der Arbeitskosten, die massive Lohnkürzungen und einen breit angelegten Sozialabbau im öffentlichen und privaten Sektor zur Folge haben. Diese Maßnahmenbündel zielen auf eine



Phantasiegeld?
Da war großes Staunen bei den Kommentatoren in deutschen Medien, und auch ein bißchen Neid auf solch eine »Trickserei«: Der griechische Staat kauft für rund zehn Milliarden Euro eigene Anleihen im Nominalwert von circa 30 Milliarden von Anlegern zurück, das Geld dafür leiht er sich beim Europäischen Stabilisierungsfonds. Seinen Schuldenstand verringert er damit um rund 20 Milliarden, und zugleich kann er eben deshalb wieder leichter neue Schulden machen. Die griechischen Staatsmänner und die Euro-Kommissare wie auch die Staatsmänner der noch nicht in finanziellen Verruf geratenen Euro-Länder haben sich dieses Verfahren zusammen ausgedacht. Für den Laien sieht es nach Zauberei aus – da werden Riesenbeträge hin- und hergeschoben, rauf- und runtergerechnet, ohne daß zu sehen ist, wie sich dies mit irgendwelchen Realien der Wirtschaft verbinden könnte. Immerhin ist klar, wer die Zeche zahlen soll, wenn diese Finanzkunststücke sich am Ende als Schwindel herausstellen: Der gemeine Steuerzahler in Ländern, die für den Rettungsfonds bürgen. Und die großen Geldanleger, die erst griechische Staatsanleihen für teures Geld gekauft haben und diese nun für weniger Geld wieder an den griechischen Staat zurückverkaufen, weil sie befürchten müssen, daß ihre Wertpapiere demnächst noch weniger oder gar nichts mehr wert sind? Sind sie arm dran, bleiben die Verluste bei ihnen hängen? Genaueres Hinsehen empfiehlt sich, zum Beispiel in den Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen, wo in Geldsachen Nüchternheit herrscht. Berichtet wird dort, daß Hedgefonds und ähnliche Finanzunternehmen sich zum richtigen Zeitpunkt »mit hochspekulativen griechischen Staatsanleihen billig eingedeckt und ein gutes Geschäft gemacht haben«. Im Finanzmarkt sei bekannt: »Wer in der Zeit gekauft hat, als der Austritt Griechenlands aus der Währungsunion unmittelbar bevorzustehen schien, und jetzt verkauft hat, der konnte sein Geld locker verdoppeln«. Das ist tröstlich. Die phantastischen Geldströme hatten demnach doch auch ihren realen Sinn, es gab Gewinner
Arno Klönne




Anhebung der Sozialabgaben in ihrer ganzen Bandbreite gesteigert werden, und das hat einen gegenläufigen Preisanstieg (Inflation) zur Folge. Da aber die Wirtschaftsleistung kontinuierlich weiter sinkt, müssen diese Eingriffe ständig verschärft werden. Auf diese Weise ist die breite Masse der Bevölkerung in einer Schere aus Deflation und Inflation gefangen. Das Ergebnis ist eine systematisch vorangetriebene und fortlaufend radikalisierte kollektive Ausbeutung der Unter- und Mittelschichten einer ganzen Volkswirtschaft, die über den zentralen Staatshaushalt zugunsten der öffentlichen und privaten Gläubiger der Staatsanleihen entrechtet, entwertet und in die Armut getrieben werden.

III. Der mit dem dritten Sparpaket vom Februar 2012 gekoppelte Schuldenschnitt war weitgehend fiktiv. Es wurden 53,5 Prozent des Nennwerts der von den privaten Gläubigern gehaltenen Staatsanleihen abgeschrieben, also 107 Milliarden Euro. Aber dieses Zugeständnis wurde von der Troika durch ein Vorzugsdarlehen im Umfang von 30 Milliarden Euro und die Übernahme von 5,5 Milliarden Euro Verzugszinsen versüßt. Zudem hatten die privaten Gläubiger die griechischen Staatsanleihen seit 2009 weit unter ihrem Nominalwert gekauft. Infolgedessen wurden lediglich 32 Milliarden Euro des Gläubigerkapitals abgeschrieben – etwa 16 Prozent der Altanleihen –, und die Staatsschuld wurde um lediglich neun bis zehn Prozent verringert. Sie hat inzwischen den Ausgangspunkt, 160 Prozent der Wirtschaftsleistung, wieder erreicht und dürfte sich bis Ende 2013 auf einem Plateau zwischen 180 und 190 Prozent einpendeln.

IV. Im Gefolge der Austeritätspolitik ist die repräsentative Demokratie nachhaltig verhöhnt worden. Von Anfang an wurden die Sparprogramme unter Mißachtung elementarer Verfassungsgrundsätze durch das Parlament gepeitscht. Im November 2011 wurde dann eine technokratische Übergangsregierung eingesetzt, die über keinerlei politische Legitimation verfügte. Bei der Verabschiedung des dritten Austeritätsprogramms mußte die griechische Regierung ihre Verfügungsgewalt über den Staatshaushalt an die Troika abgeben. Seither werden die Darlehenstranchen auf ein Sperrkonto des griechischen Finanzministeriums überwiesen, das praktisch eine Außenstelle der Europäischen Zentralbank darstellt. Insgesamt haben diese Entwicklungen den autoritären, auf die Patronage der Parteiführer und deren Satrapen fixierten Charakter des politischen Systems weiter verstärkt.

V. Bei der im Frühjahr 2012 durchgeführten Umschuldung der von Privaten gezeichneten Staatsanleihen wurde die einseitige Bedienung der materiellen Klasseninteressen der Reichen auf die Spitze getrieben. Innerhalb Griechenlands wurden nur die Geschäftsbanken für ihre Verluste schadlos gehalten: Sie erhielten zum Ausgleich für ihre Anleiheverluste von der Troika eine Kapitalspritze im Umfang von 18 Milliarden Euro, gekoppelt mit weiteren Rekapitalisierungszusagen im Umfang von 30 Milliarden Euro. Auch die Träger der öffentlichen Sozialversicherung, vor allem die der deutschen AOK vergleichbare Krankenkasse IKA, hatten aufgrund gesetzlicher Vorschriften griechische Staatsanleihen im Umfang von 18,7 Milliarden Euro gezeichnet, und zwar im Gegensatz zu den Banken nicht zu den niedrigeren Marktpreisen, sondern zum Nominalwert. Im Gegensatz zu den Großbanken erhielten sie bis heute für ihre Verluste keinen Ausgleich. Da aufgrund der anhaltenden Massenerwerbslosigkeit und Lohnkürzungen sowie des Ausbleibens der Unternehmeranteile auch die Beitragszahlungen drastisch zurückgingen, wurden die Sozialkassen faktisch in den Ruin getrieben. Sie mußten ihre Zahlungen zugunsten der Versicherten, aber auch an die Gesundheitszentren, Apotheken und Krankenhäuser, weitgehend einstellen. Der Zusammenbruch des Gesundheitswesens markiert den beginnenden Kollaps des gesamten sozialen Sicherungssystems. Die Operationen der Troika und der griechischen Regierungen haben nicht nur Millionen Menschen entrechtet, enteignet und in die Armut getrieben, sondern gefährden auch konkret das Überleben hunderttausender chronisch Kranker. Diese Folgewirkungen waren von Anfang an absehbar. Die Akteure haben sie zugunsten des Vorrangs des Finanzsystems und der Renditeinteressen der Kapitalvermögensbesitzer bewußt in Kauf genommen. Sie haben damit eine rote Linie überschritten, jenseits derer ihr Handeln in ein soziales Menschheitsverbrechen umschlägt.

VI. Alle Beobachter sind sich darin einig, daß die deutsche Regierung eine besonders unnachgiebige Haltung vertritt und sich innerhalb der Euro-Zone immer wieder für ein kompromißloses Vorgehen der Troika einsetzt. Wie ist diese Härte zu erklären? Dazu werden in der internationalen Debatte zwei Thesen vertreten. Die erste besagt, daß die seit dem DDR-Anschluß zur europäischen Vormacht aufgestiegenen deutschen Wirtschafts- und Politikeliten jetzt nach zwei Jahrzehnten der Zurückhaltung Flagge zeigen wollen. Sie verschärfen planvoll die krisenhafte Entwicklung in Griechenland und den übrigen Ländern der europäischen Peripherie und ziehen immer erst im letzten Augenblick die Notbremse in Gestalt des »Europäischen Rettungsschirms«, um so die möglichst rasche Übertragung der in Deutschland seit 20 Jahren praktizierten Restriktions- und Niedriglohnpolitik durchzusetzen. Diese Einschätzung stellen die Vertreter der zweiten Hypothese nicht in Abrede. Sie meinen aber, daß die strategische Option der deutschen Eliten inzwischen im Fall Griechenland an ihre Grenzen gestoßen sei. Wahrscheinlich sind beide Argumentationslinien zutreffend: Planerischer Dogmatismus und chaotisches Krisenmanagement koexistieren und erzeugen eine Gemengelage, die auf die herrschenden Eliten Deutschlands und Europas zurückschlägt, sie in Machtkämpfe verwickelt und allmählich zu blockieren beginnt.

Dabei hätten die Deutschen gute Gründe, sich zurückzuhalten. Im April 1941 überfiel die Nazi-Wehrmacht Griechenland. Bis zu ihrem Abzug im Oktober 1944 wurde die griechische Volkswirtschaft von den Deutschen systematisch ausgeraubt, und bei ihren Rückzugsoperationen zerstörten sie größtenteils die Infrastruktur. Deshalb wurden Griechenland im Januar 1946 auf einer Interalliierten Konferenz erhebliche Reparationsleistungen zugesprochen. Sie wurden aber nur zu einem Bruchteil erstattet. Bis heute ist dieses Reparationsabkommen völkerrechtswirksam. Unter Berücksichtigung der seither eingetretenen Geldentwertung und ohne Aufrechnung der Zinsen und Zinseszinsen steht Deutschland heute gegenüber Griechenland mit einer Reparationsschuld im Umfang von knapp 80 Milliarden Euro in der Kreide.

Auch andere Peripherieländer der Euro-Zone
befinden sich seit 2008 in einer schweren Krise, die durch den Restriktionskurs ihrer Regierungen und der europäischen Institutionen ständig vertieft wird. Um die Gesamtsituation besser zu verstehen, ist ein Vergleich dringlich. Worin unterscheidet sich die Entwicklung in Griechenland von den Verhältnissen in Irland, Italien, Portugal und Spanien? Und wo gibt es Gemeinsamkeiten?

Zunächst zu den Unterschieden: Im Gegensatz zu Griechenland dominierte in den anderen Peripherieländern nach der Einführung der Einheitswährung vor allem die Verschuldung der Unternehmen und Privathaushalte. Das lag daran, daß die dortigen Regierungen schon in den frühen 1980er Jahren einen harten Restriktionskurs eingeschlagen hatten, der auch noch in den 1990er Jahren ausgeprägter war als in Griechenland. Deshalb nutzten auch die Unterschichten die seit der Einführung des Euro gegebene Gelegenheit zur billigen Kreditaufnahme, um die in den vergangenen Jahrzehnten erlittenen Lohn- und Einkommensverluste durch die Aufnahme von Hypotheken und Konsumentendarlehen auszugleichen. Dann kam 2008 die Weltwirtschaftskrise. Sie führte zum Platzen der Hypotheken- und Immobilienblase und ruinierte die Banken. Darauf folgten der Einbruch des Massenkonsums, die Schrumpfung der Realwirtschaft, Massenerwerbslosigkeit und der Zwangsverkauf der überschuldeten Immobilien. Die Wirtschaftsleistung geht seither stetig zurück, und das führte inzwischen ebenfalls zu einer steigenden Staatsverschuldung.

Es gibt aber auch gewichtige Gemeinsamkeiten: Alle Peripherieländer waren seit den 1990er Jahren einem wachsenden Lohn-, Preis- und Exportdumping seitens der Kernzone, besonders Deutschlands, ausgesetzt. Weil dort im Gefolge des anhaltenden Sozialabbaus und der Einführung des Niedriglohnsektors die Exportpreise ständig sanken. Die Konkurrenz der Peripherieländer wurde dadurch zunehmend ausgeschaltet. Der Unterschied der Lohnstückkosten belief sich bis Krisenbeginn auf etwa 30 Prozent. Eine anhaltende Entindustrialisierung der Peripherie der Euro-Zone war die Folge, denn seit der Einführung der Einheitswährung konnten die wachsenden Wettbewerbsnachteile nicht mehr durch währungspolitische Eingriffe ausgeglichen werden. Diese strukturellen Nachteile verstärkten sich nach Krisenbeginn weiter und schränkten die Handlungsoptionen der Regierungen ein. Wie in Griechenland werden seit 2010/2011 auch in den anderen Peripherieländern Austeritätsprogramme gefahren, um durch Sozialabbau und Lohnsenkungen eine Art »innere Abwertung« in Gang zu bringen und die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Durch diese einseitigen Strukturanpassungsprogramme wird auch in diesen Ländern die Krise zu einer lang anhaltenden Depression vertieft.

Gleichwohl hat sich die Entwicklung in Griechenland besonders zugespitzt. Deshalb ist dieses Land zum Experimentierfeld der Troika geworden. Die bei der Revision und Radikalisierung der Sparprogramme gemachten Erfahrungen werden laufend auf die übrigen Peripherieländer übertragen, und zwar unabhängig davon, ob sie sich – wie etwa Irland und Portugal – im direkten Zugriff der Troika befinden oder nicht. Aufgrund der fatalen Wechselwirkung zwischen Depression und Sparpaketen nehmen die Ungleichgewichte gegenüber den Kernländern der Euro-Zone weiter zu. Trotzdem lassen es sich deren Regierungen nicht nehmen, über den Transfermechanismus der Europäischen Zentralbank Extraprofite aus den überschuldeten Peripherieländern herauszuziehen. Eine weitere Zunahme der Ungleichgewichte ist die Folge, die sich letztlich auf die gesamte Region negativ auswirkt. Inzwischen ist die gesamte Euro-Zone in die Rezession zurückgefallen, und die gesamtwirtschaftliche Erholung beschränkt sich mehr und mehr auf Deutschland, den Hauptmotor der europäischen Restriktionspolitik.

Ausschluß oder Austritt Griechenlands?
Seit der Durchsetzung des ersten Spar- und Darlehenspakets im Mai 2010 spekulieren die Massenmedien der europäischen Kernländer über einen Austritt oder Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone. Dabei werden vor allem in Finnland, den Niederlanden und Deutschland sozialrassistische Vorurteile mobilisiert, um den harten Restriktionskurs ideologisch abzusichern. Gleichzeitig wird eine gezielte Politik der Nicht- und Desinformation betrieben. So wird nicht etwa über die Konzepte und Praktiken der Troika-Delegationen berichtet, sondern »unsere Jungs in Athen« werden als wackere Beamten dargestellt, die unerschrocken im Dienst der Gläubiger ihre Pflicht tun. Wichtige Entwicklungstendenzen, so etwa die um sich greifende Massenverelendung oder die Methodik der Umschuldungsoperationen, werden völlig ausgeblendet.

Diese Techniken sind nicht neu. Neu ist aber die Mobilisierung sozialrassistischer Stereotypen, mit denen die griechische Bevölkerung pauschal abgewertet und ausgegrenzt wird: »Die Griechen sind faul, korrupt, zahlen keine Steuern und wollen sich auf unsere Kosten mästen«, heißt es. Deshalb müssen sie raus aus der Euro-Zone, denn Griechenland ist ohnehin ein Land der Dritten Welt und des südeuropäischen »Olivengürtels«.

Dabei arbeiten die griechischen Unterklassen länger und härter – wenn auch nicht produktiver – als die ArbeiterInnen der europäischen Kernzone. Ihre Steuern werden ihnen genauso automatisch vom Lohn abgezogen wie hierzulande; professionelle Steuerhinterzieher sind nur die oberen Mittelschichten und die Reichen, die dafür bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Auch die – unbezweifelbar massive – klientelistische Korruption der griechischen Eliten ist nur anders strukturiert als die »politisch korrekt« abgesicherte Pfründenwirtschaft der hiesigen Manager- und Politikerschichten. Und schließlich wurde den europäischen Steuerzahlern bis heute kein einziger Euro zugunsten Griechenlands abgezogen. Vielmehr haben die durch die Troika repräsentierten öffentlichen Gläubiger seit Mitte 2010 erhebliche Extraprofite aus Griechenland herausgeholt.

Noch wirksamer und folgenreicher ist die sozialrassistische Instrumentalisierung von Existenzängsten durch die Medien. Von der Bild-Zeitung über die FAZ bis zum Spiegel verbreiten die Meinungsmacher seit dem Frühjahr 2010 immer wieder die Behauptung, »die Griechen« bezögen Luxusrenten und gefährdeten durch ihre Transferforderungen die Altersbezüge der kleinen Leute hierzulande. Das ist eine perfide sozialrassistische Projektion. Es wird der Eindruck erweckt, als ob »die Griechen« und nicht etwa die seit den 1990er Jahren amtierenden deutschen Regierungen – besonders die Schröder-Fischer-Regierung – der breiten Masse der hiesigen erwerbsabhängigen Bevölkerung den Weg in die Altersarmut aufgezwungen hätten.

Im Kontext dieser Medienpropaganda wurde direkt oder indirekt der Austritt oder Ausschluß Griechenlands aus der Euro-Zone gefordert. Verschwiegen wurde dabei geflissentlich, welche Folgen dies für die griechische Volkswirtschaft hätte. Wie interne Untersuchungen übereinstimmend belegen, würde die Wirtschaftsleistung nochmals um 35 Prozent schrumpfen. Die Erwerbslosigkeit würde um weitere 30 Prozent zunehmen. Nach der Wiedereinführung der nationalen Währung käme es sofort zu einem Inflationsschub um 40 Prozent, der sich binnen Jahresfrist auf mindestens 65 Prozent steigern würde. Es käme zum endgültigen Zusammenbruch des Bankensystems. Da keine Devisen mehr verfügbar wären, könnten keine Lebensmittel, Medikamente, Energierohstoffe und industriellen Vorprodukte mehr eingeführt werden. Griechenland würde auf den Status eines Entwicklungslands zurückgeworfen, und noch im Winter 2012/2013 käme es zu einer Hungerkatastrophe, die an die Ausmaße der von der deutschen Besatzungsherrschaft verantworteten Hungerkatastrophe des Winters 1941/1942 heranreichen könnte.

Inzwischen sind auch die wahrscheinlichen Auswirkungen auf die übrigen europäischen Peripherieländer untersucht worden. Die bis jetzt bekanntgewordenen Gutachten – zuletzt eine von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebene Studie der Prognos AG – halten vor allem einen Domino-Effekt für wahrscheinlich. Ein Austritt aus der Euro-Zone hätte auch für die anderen Peripherieländer, insbesondere Portugal und Spanien, vergleichbar katastrophale Folgen. Da ein solches Szenario zum Kollaps der gesamten Euro-Zone führen würde, wird angenommen, daß die Europäische Zentralbank und die inzwischen geschaffenen Instrumente des »Europäischen Rettungsschirms« weitaus entschiedener gegensteuern würden als im Fall Griechenland. Ein Erfolg gilt allerdings als fraglich, denn zur Unterbrechung eines tatsächlich in Gang gekommenen Domino-Effekts müßten etwa zwei Billionen Euro mobilisiert werden.

Seit längerem wird auch über die Auswirkungen eines Austritts Griechenlands und der übrigen Peripherieländer auf die Volkswirtschaften der Kernländer nachgedacht. Den bis jetzt bekanntgewordenen Simulationsmodellen zufolge könnten die unmittelbaren und mittelbaren Folgen eines Griechenland-Austritts (»Grexit«) beherrscht werden, nicht aber der sich daraus mit großer Wahrscheinlichkeit ergebende Domino-Effekt. Die Europäische Union würde mindestens in die Krisenkonstellation der Jahre 2008/2009 zurückfallen und eine lang anhaltende Massenerwerbslosigkeit durchmachen. Eine Kapitalflucht würde einsetzen, die Einheitswährung entwerten und Europa mindestens ein Jahrzehnt lang in die Depression treiben. Dadurch würde auch die Weltwirtschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Infolgedessen sind sich die Akteure der europäischen Entscheidungszentren grundsätzlich einig, Griechenland in der Euro-Zone zu halten. Dafür sind aber auch politische und militärische Gründe maßgeblich. Griechenland ist nicht nur für die politische Kontrolle der Balkan-Region wichtig, sondern stellt auch eine geostrategische Brücke der NATO zum Nahen und Mittleren Osten dar. Ein wirtschaftspolitischer Ausschluß könnte diese Schlüsselfunktionen gefährden und Konkurrenten wie China oder Rußland auf den Plan rufen. Zumindest solange die Türkei nicht vollkommen in die Europäische Union integriert ist, würde ein solcher Schritt elementare Interessen der Großmächte der Transatlantikregion aufs Spiel setzen.

Nach außen geben die hinter der Troika stehenden Entscheidungsträger diese grundsätzlichen Festlegungen allerdings nicht gern preis. Sie nutzen das Ausschluß-Szenario immer wieder als Drohgeste, um die griechischen Herrschafts-eliten unter Anpassungsdruck zu setzen und vor der erstarkenden linken Opposition zu schützen, indem sie einen Automatismus zwischen der Zurückweisung der Austeritätspolitik und einem EU-Ausschluß suggerieren. Darüber hinaus benutzt vor allem die deutsche Regierung das Spiel mit dem »Grexit«-Szenario, um ihren nationalkonservativen Flügel bei der Stange zu halten. An ihrer Taktik, die Krise zur beschleunigten Durchsetzung ihres in Deutschland seit über 20 Jahren praktizierten Sozialabbaus zu nutzen und erst im Augenblick des drohenden Zusammenbruchs einige Zugeständnisse zu machen, ändert sich nichts.

Aber auch massive materielle Eigeninteressen lassen einen Austritt oder Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone als kontraproduktiv erscheinen. Mit den auf das Sperrkonto des griechischen Finanzministeriums überwiesenen Darlehenstranchen refinanziert sich in erster Linie die Troika laufend selbst: Die Hauptmasse der Überweisungen dient der Bedienung der Zinsen und Tilgungsraten der Troika-Darlehen und wird in der Regel schon nach wenigen Tagen wieder abgerufen, wobei wegen der auf den Nominalwert der Staatsanleihen bezogenen Zahlungsverpflichtungen erhebliche Extraprofite anfallen. Hinzu kommen die laufenden Beträge zur Rekapitalisierung des griechischen Bankensektors, insgesamt knapp 50 Milliarden Euro. Diese beiden Posten machen zusammen 85 Prozent der sich auf insgesamt 240 Milliarden Euro belaufenden Troika-Darlehen aus. Der Rest wird zur Deckung der griechischen Haushaltsdefizite benutzt. Die griechische Realwirtschaft selbst erhält nichts und wird weiter in die Depression getrieben. Warum sollten also die Troika und die hinter ihr stehende deutsche Bundesregierung ein Interesse daran haben, Griechenland aus der Euro-Zone herauszuwerfen?

Dieses Argument gewinnt weiter an Gewicht, wenn wir uns vergegenwärtigen, was letztlich mit den Austeritätsprogrammen bezweckt wird. Um das zu verstehen, will ich einen Blick auf den griechischen Haupthafen in Piräus werfen. Dort hat im Jahr 2010 der chinesische Logistikkonzern Cosco die Hälfte des Containerhafens zu einem Preis von 500 Millionen Euro gepachtet. Cosco hat kräftig investiert, um die Anlagen auf den neusten Stand der Technik zu bringen. Parallel dazu haben die chinesischen Manager ein hartes Arbeitsregime errichtet, so wie es derzeit in dem führenden Schwellenland üblich ist. Sie haben die Größe der bislang pro Kran-Umschlagplatz eingesetzten Arbeitsgruppen von neun auf vier Mann verkleinert, ein rund um die Uhr laufendes Dreischichtensystem eingeführt, die Löhne auf ein Drittel zurückgefahren und die Arbeitsschutzbestimmungen durch die Einführung von Subkontraktfirmen ausgehebelt. Gewerkschaftliche Interessenvertretungen sind verboten. Als einige Arbeiter kürzlich ein Komitee gründeten, um sich gegen die lebensgefährlich gewordenen Arbeitsbedingungen zu schützen, wurden sie umgehend entlassen. Auf diese Weise nimmt das Cosco-Experiment eine Konstellation vorweg, die nicht nur auf eine Anpassung an die Verhältnisse in den führenden europäischen Containerhäfen hinausläuft, sondern sie durch die Einführung der in den Schwellenländern üblichen Ausbeutungsmethoden (»chinesische Zustände«) weitertreibt. Wenn die ArbeiterInnen der europäischen Kernländer die in Griechenland und den anderen Peripherieländern der Euro-Zone durchexerzierte Spar- und Deregulierungspolitik der Troika widerstandslos hinnehmen, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie demnächst ihrerseits mit »griechischen Zuständen« konfrontiert sein werden.

Sozialer Widerstand und Gegenperspektiven
Die griechischen Unterklassen haben die Austeritätspolitik der Troika und ihrer Kollaborationsregierungen nicht kampflos hingenommen. Es kam zu Sozialrevolten, zur Besetzung von Fabriken und öffentlichen Gebäuden und zu über 20 befristeten Generalstreiks. Zeitweilig gelang den neuen Initiativen der Prekären ein Schulterschluß mit den Organisationen der Arbeiterlinken und Gewerkschaften, da schließlich alle Segmente der Arbeiterklasse vom Sozialabbau, von den Lohnkürzungen und den Steuererhöhungen betroffen sind. Das sich abzeichnende Bündnis driftete jedoch seit Mai 2010 wieder auseinander und begünstigte bei der Mehrheit der Betroffenen das Aufkommen von Gefühlen der Ohnmacht und starker resignativer Tendenzen.

Trotzdem hält bis heute eine entschiedene Minderheit am sozialen Widerstand fest. Ihre Aktionen sind eng mit dem Rhythmus verknüpft, in dem die Sparpakete durchgesetzt wurden. Auf den »Aufschrei« der prekären Jugendlichen vom Dezember 2008 folgten Massendemonstrationen, Generalstreiks und Besetzungsaktionen in Athen und den anderen Großstädten im Mai 2010, Juni/Juli 2011, November 2011 und Februar/März 2012. Ende August 2012 begann eine neue Streikwelle, einen Monat später folgten weitere befristete Generalstreiks und Massendemonstrationen, die sich bis zur Verabschiedung des neuesten Sparprogramms mehrfach wiederholten.

Der soziale Massenwiderstand übertrug sich aber auch klar erkennbar auf die politische Ebene. In dieser Hinsicht ist die griechische Situation in Europa einmalig. Dem Bündnis der radikalen Linken (Syriza) ist es gelungen, sich aufgrund seiner pluralistischen Binnenstruktur breit auf die Massenproteste zu beziehen und sie in einen entschiedenen politischen Oppositionskurs zu übersetzen. Das hat Syriza bei den Wahlen vom 6. Mai und 17. Juni zu einem politischen Durchbruch verholfen und sie zur zweitstärksten Parlamentsfraktion werden lassen.

Mit ihrem oppositionellen Konzept ist Syriza zu einem politischen Hoffnungsträger geworden. Sie fordert den sofortigen Stopp des Sozialabbaus, vor allem die Rücknahme der Lohn- und Rentenkürzungen sowie der Einschränkungen im Gesundheitswesen. Die dafür erforderlichen Mittel sollen durch die Verstaatlichung der Banken, die Verkündung eines Schuldenmoratoriums und die Einleitung von Umschuldungsverhandlungen frei gemacht werden. Dabei soll auch die Legitimität der Staatsschuld untersucht werden: In der Tat dürften 70 bis 80 Prozent der Schuld durch wirtschaftspolitisch unsinnige Infrastrukturinvestitionen und durch korrupte Geschäftspraktiken zustandegekommen und entsprechend zurückzuweisen sein. Hinzu kommen spezifisch griechische Forderungen. Dazu gehören die Säkularisierung der orthodoxen Staatskirche mit ihrem riesigen Grundbesitz, ein massives Abrüstungsprogramm, die konsequente Demokratisierung des autoritär-klientelistischen Parteisystems, die Ausgabe von Papieren an die Flüchtlinge zur freien Weiterreise in die Kernzone der Europäischen Union, die Rückführung der illegal ins Ausland geschafften Vermögenswerte, eine entschiedene ökologische Wende und eine effiziente sowie nachhaltige Besteuerung der Reichen.

Dieser radikale Reformansatz zeigt, daß sich das Spektrum der griechischen radikalen Linken in den vergangenen zwei Jahren auf eine überzeugende Krisenantwort verständigt hatte. Die hinter der Troika stehenden Akteure setzten daher alles daran, um dieses Programm vor der breiten Bevölkerungsmehrheit mit der Behauptung zu neutralisieren, daß ein Wahlsieg von Syriza zum Ausschluß Griechenlands aus der Europäischen Union führen würde. Andererseits ist den Akteuren von Syriza bewußt, daß sie nur im Kontext der Euro-Zone – und der Europäischen Union im weiteren Sinn – eine Chance haben. Wie wir bei der Erörterung der möglichen Folgen eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone sahen, ist diese Option wirklich alternativlos. Das bedeutet aber auch:
Das Syriza-Projekt hat nur dann eine Chance, wenn es von einer breiten europäischen Massenbewegung unterstützt wird. Dabei geht es um mehr als die traditionellen Formen der Solidarität, so wichtig diese im Kampf gegen die sozialrassistische Medienpropaganda auch sein mögen. Eine europaweit aktive Massenbewegung hat nur dann eine Chance, wenn sie auf kontinentaler Ebene das konzipiert, was Syriza für die griechische Konstellation artikuliert hat: ein glaubwürdiges Programm der radikalen Kehrtwende, das der seit den 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren praktizierten Politik des Sozialabbaus, der strategischen Unterbeschäftigung und der Durchsetzung prekärer Arbeitsverhältnisse ein Ende setzt.



Solidaritätserklärung der Teilnehmer einer DGB-Kundgebung
am 14. November 2012 in Hamburg


Liebe Kolleginnen und Kollegen in Griechenland,

mehr und mehr Menschen hier in der Bundesrepublik Deutschland beginnen zu verstehen, daß Euer Kampf auch unser ist. Was Ihr erleidet, droht uns. Die Umverteilung von unten nach oben trifft nicht nur sozial Schwache – Familien Erwerbsloser, Kranker, Rentner und vieler anderer –, sie trifft vor allem die uns nachfolgendenden Generationen: Kinder und Jugendliche. 58 Prozent Eurer Jugendlichen haben keine Arbeit mehr – eine hier noch unvorstellbare Tatsache.

Heute Griechenland – morgen wir. Noch nie in der Nachkriegsgeschichte Europas war Internationale Solidarität so gefordert wie jetzt.

Die uns ausbeuten, sagen: Ihr seid nur wenige. Unsere Antwort kann, wenn es einen Ausweg geben soll, nur lauten: Wir werden viele.

»Laßt uns« – dem Aufruf von Mikis Theodorakis folgend – »zusammen ein neues Europa bauen: ein demokratisches, wohlhabendes, friedliches, das seiner Geschichte, seiner Kämpfe und seines Geistes würdig ist.«

Nicht die Banken, die Völker müssen gerettet werden.



Ein solches Programm würde einerseits europaweit an den genuinen Eigeninteressen der Unterklassen ansetzen und andererseits indirekt mit seinen Folgewirkungen zu einer alternativen Krisenüberwindung in den europäischen Peripherieländern beitragen. Ausgehend davon lassen sich die

Umrisse einer alternativen europäischen Perspektive
unschwer skizzieren. Sie sollte erstens dazu beitragen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den Kernländern der Euro-Zone durch Lohn- und Sozialabbau entstandenen Wettbewerbsvorteile gegenüber der Peripherie zu beseitigen; in Deutschland wäre folglich die Rücknahme der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze der entscheidende erste Schritt, gefolgt von einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, von Lohnerhöhungen um mindestens 25 Prozent und dem Neuaufbau demokratisierter sozialer Sicherungssysteme. Zweitens könnten dann europaweit neue Arbeits- und Sozialstandards auf die Tagesordnung gesetzt werden, die den prekären Arbeitsverhältnissen, der Arbeitshetze und anderen gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen, den Niedriglohnsektoren und der Altersarmut ein Ende bereiten. Eine solche Kehrtwende wird nicht kostenlos zu haben sein. Die Mittel dazu könnten durch eine einmalige Vermögensabgabe der Reichen sowie die progressive Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen unschwer beschafft werden.

Zweifellos ist eine solche arbeits-, sozial- und verteilungspolitisch durchdachte Kehrtwende nur möglich, wenn sie durch weitreichende strukturelle Eingriffe in das finanz- und wirtschaftspolitische System flankiert wird. Dazu gehören die Einführung eines europäischen Schuldentilgungs- und -Liquidierungsfonds, die Abschmelzung des Finanzsektors durch die Zerschlagung der Großbanken und die Auflösung des Schattenbankensystems, die Entflechtung der Großkonzerne, eine radikale Demokratisierung und Föderalisierung der politischen Strukturen einschließlich des Zentralbanksystems und die Liquidierung des militärisch-industriellen Komplexes. Auf diese Weise könnten von einem sich demokratisch erneuernden Europa Impulse ausgehen, die eine weltweite Kehrtwende einleiten und die heute kaum mehr vorstellbare Perspektive der Systemüberwindung wieder auf die Tagesordnung setzen.

Bislang wurde die Perspektive der Systemüberwindung immer innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens gedacht. Letztlich gilt dies auch noch für die supranationale Ebene und somit auch für ein demokratisch-föderalistisch konzipiertes Europa. Von Anfang an sollte deshalb eine transnationale, die eurozentristische Dimension überschreitende Perspektive mitgedacht werden. Gerade Griechenland ist dafür ein gutes Beispiel. Griechenland liegt im Schnittpunkt mehrerer Regionen: der Mittelmeerregion und des Nahen Ostens, des Balkans, der Peripherieländer der Euro-Zone, der Euro-Zone insgesamt und der Europäischen Union. Der soziale Widerstand sollte seine Grenzen deshalb in alle Richtungen überschreiten. Die Migrationsprobleme und Abrüstungsfragen lassen sich nur in ihren mediterranen und nahöstlichen Kontexten lösen. Der auf dem Balkan grassierende ethnische Nationalismus kann nur durch eine föderative Perspektive überwunden werden. Eine Assoziation der noch immer auf ihre Nationalstaaten fixierten Protestbewegungen der Peripherieländer steht als besonders dringliche Aufgabe auf der Tagesordnung. Darüber hinaus wird alles davon abhängen, ob sich auch die im Kern des europäischen Machtzentrums lokalisierten Sozialbewegungen über ihre nationalen Käfige hinausbewegen und das ihrige tun, um die Isolation der Massenproteste in Griechenland und den übrigen Peripherieländern zu durchbrechen. Auf diese Weise könnte die über den Kontinent hinausreichende Vielschichtigkeit der Grenzüberschreitungen dazu beitragen, daß eine reformistische Konsolidierung des EU-Imperialismus und seiner menschenverachtenden Schengener Grenze verhindert wird. Ein von den sozialen Widerstandsbewegungen ausgehender europäischer Föderalismus hat nur dann eine Perspektive, wenn er von Anfang an seine eurozentristischen Ränder aufsprengt.

Letztlich ist diese Kehrtwende jedoch nur denkbar, wenn sie zugleich »von unten her« gedacht wird und von den elementaren menschlichen Bedürfnissen nach Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und selbstbestimmtem Leben und Arbeiten ausgeht. Diese Bedürfnisse lassen sich nur realisieren, wenn sie über eine entsprechende materielle Basis verfügen, die nur in lokalen und kleinräumigen Zusammenhängen entstehen und sich konsolidieren kann. Ihre Strukturen sind vielfältig. Neue Formen der alternativen Ökonomie sind im Entstehen. Ihre Tragfähigkeit sollte jedoch nicht überschätzt werden, denn wie die Erfahrungen der 1980er und 1990er Jahre zeigen, handelt es sich oft nur um aufgezwungene Nischen des Überlebens, die nach dem Ende der Wirtschaftsdepression wieder aufgegeben werden. Es gibt aber auch Konstellationen, in denen sich Netzwerke der alternativen Ökonomie und der Ökologiebewegung (Landbaukommunen, Handwerkerkooperativen, selbstverwaltete lokale Energienetzwerke, Hilfskassen, Tauschketten, Mietergenossenschaften und so weiter) mit Initiativen zur sozialen Wiederaneignung der öffentlichen Güter zusammenschließen. An solchen Schnittstellen wird die konkrete Utopie einer Systemüberwindung sichtbar, die das Regime der natur- und menschenzerstörenden Kapitalakkumulation beendet und die damit verbundenen Regulationssysteme aushebelt. Wenn sich die Netzwerke der alternativen Ökonomie und der Ökologiebewegung beispielsweise mit Initiativen zur Selbstverwaltung kommunaler Betriebe und / oder mit Mieterinitiativen und Kampagnen gegen die Zwangsräumungen und mit Hausbesetzerbewegungen zusammenschließen, dann können sie sich soziale Räume aneignen, in denen die Bedürfnisse zur Überwindung der kommandierten Arbeit und für selbstbestimmte Lebensweisen ein Stück weit Wirklichkeit werden. Und dann ist auch der Brückenschlag zu den klassischen Formen des Arbeiterwiderstands möglich: Dann wird es denkbar, daß die Rituale eines auf wenige Tage befristeten Generalstreiks oder der Besetzung von Schlüsselbetrieben und Zentralbehörden zum Systembruch umschlagen. Dann kann aus den vielen lokalen und regionalen Aufständen eine transnational vernetzte Umsturzbewegung hervorgehen, die ihre eigenen, basisdemokratisch verfaßten Rätestrukturen hervorbringt.

Es mag vermessen erscheinen, so weit vorauszudenken und einen lokal verankerten Systemwechsel zu konzipieren, der transnational vernetzt ist und die nationalen und supranationalen Machtstrukturen des europäischen Kolosses aufsprengt. Aber die Zeit drängt: Da die breite europäische Massenbewegung auf sich warten läßt, ist Syriza dabei, sich in eine parlamentarische Partei der linken Mitte zu transformieren und die bisherige kompromißlose Ablehnung der Spardiktate zugunsten einer realpolitischen Linie der »Neuverhandlung« aufzugeben. Die Schnittstellen, an denen sich die kommunalen und regionalen Prioritätssetzungen eines erneuerten europäischen Föderalismus mit den aus dem sozialen Widerstand hervorgehenden Rätestrukturen verbinden könnten, sind für eine konkret werdende Utopie des Systemwechsels entscheidend. Wir sollten sie als erste Zielmarken eines konvergierenden transnationalen und lokalen Prozesses definieren. Dann könnten wir unter Beweis stellen, daß wir dazu in der Lage sind, dem natur- und gesellschaftszerstörenden Projekt der herrschenden Eliten Paroli zu bieten. Nur wenn sich der soziale Widerstand ein glaubwürdiges operatives Ziel setzt, wird es seinen AktivistInnen gelingen, die breite Masse der in die Verarmung getriebenen Unterklassen aus ihrer Resignation und Passivität herauszureißen.

Karl Heinz Roth, Historiker und Mediziner, ist Mitarbeiter der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Bremen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozial-, Arbeiter-, Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte. Sein derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist die aktuelle Weltwirtschaftskrise.