Menschen auf der Flucht sind in den Staaten der Europäischen Union nicht willkommen. EU-Binnenstaaten, wie beispielsweise Deutschland, entziehen sich ihrer Verantwortung für eine solidarische Flüchtlingspolitik. Mit einer ständig perfektionierten Abschottungspolitik an ihren Außengrenzen baut sich die Europäische Union zur Festung aus: Hochtechnisierte Mauern – zunehmend unüberwindbar – schrecken Flüchtlinge ab. So nimmt die EU Menschen, die vor Verfolgung, Krieg und Hunger flüchten, die Möglichkeit, Asyl zu beantragen. Trotzdem versuchen Flüchtlinge in ihrer verzweifelten Lage, in kleinen Booten über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.
Ein perfides Instrument zur Flüchtlingsabwehr ist die Europäische Grenzschutzagentur »Frontex«. Mit viel Geld baut man Grenzanlagen und Zäune, installiert High-Tech-Überwachung und drängt Menschen aufs Meer zurück. Seit 2009 beträgt das jährliche Budget für »Frontex« etwa 88 Millionen Euro. Die Organisation Human Rights Watch hat kürzlich darauf hingewiesen, daß »Frontex«-Beschäftigte häufig MigrantInnen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung aussetzen.
Durch die systematische Abriegelung der EU-Außengrenzen haben sich in den letzten Jahren die Fluchtrouten verschoben. Immer mehr Menschen aus Afrika, Asien, Afghanistan und den arabischen Staaten versuchen, über die Türkei an die griechische EU-Außengrenze zu gelangen, vor allem in der Evros-Region. An dieser Grenze werden durch Polizei und die Grenzschutzagentur FRONTEX aufgegriffene Flüchtlinge teilweise monatelang in menschenunwürdigen Lagern festgehalten. Nach offiziellen Schätzungen leben derzeit mehr als eine Million Flüchtlinge in einer für sie aussichtslosen Situation in Griechenland. Viele von ihnen wollen eigentlich in einem anderen EU-Land ihren Asylantrag stellen, dürfen jedoch aufgrund der Dublin-II-Verordnung Griechenland nicht verlassen.
Dublin II – Abschottung der EU-Kernstaaten
Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) geht davon aus, daß in der gesamten Europäischen Union etwa 2,8 bis sechs Millionen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus leben. Wenn reaktionäre Journalisten und Politiker von »Flüchtlingsströmen« sprechen, ist das bloße Demagogie; mit den realen Flüchtlingszahlen hat das nichts zu tun. Die große Mehrzahl der Flüchtlinge lebt in armen außereuropäischen Ländern, so 1,9 Millionen Flüchtlinge in Pakistan und 1,1 Millionen im Iran. Die Dublin-II-Verordnung regelt, daß AsylbewerberInnen grundsätzlich nur in dem EU-Mitgliedsstaat ein Asylverfahren beantragen dürfen, in dem sie das Gebiet der Europäische Union erreicht haben. Mit dieser Verordnung haben sich vor allem die Staaten ohne EU-Außengrenze immer weiter aus der Verantwortung für die europäische Flüchtlingspolitik zurückgezogen. In Deutschland sind die Asyl-Erstanträge von über 438.000 im Jahr 1992 auf 27.600 im Jahr 2009 und 41.000 im Jahr 2010 zurückgegangen. Dublin II hat dazu beigetragen, daß es Flüchtlingen heute faktisch nicht mehr möglich ist, direkt nach Deutschland zu fliehen und dort ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen. Gleichzeitig weigern sich die EU-Binnenstaaten, eine solidarische Verteilung der in der EU ankommenden Flüchtlinge zu vereinbaren. Wäre Deutschland in der gleichen geographischen Lage wie Griechenland, hätte es längst durchgesetzt, daß die Dublin-II-Verordnung so geändert würde, daß alle Flüchtlinge gerecht auf die EU-Staaten verteilt werden.
Ökonomische und soziale Lage verschärft sich
Die fatale Troika-Fiskalpolitik trifft Griechenland mit aller Härte. Mehr als 20 Prozent der griechischen Bevölkerung sind arbeitslos, mindestens 50 Prozent aller Jugendlichen in Griechenland haben keinen Arbeitsplatz. Aufgrund der zunehmenden Armut hat sich in Griechenland eine hochexplosive Stimmung gegen Flüchtlinge entwickelt. Aus dem gastfreundlichen Land, das Menschen mit Migrationshintergrund traditionell freundlich empfangen hat, ist ein überfordertes Land mit einem sich ausbreitenden ausländerfeindlichen und rassistischen Grundtenor geworden. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Kommunen in die Pleite treibt, soziale Einrichtungen systematisch zerstört, Massenarbeitslosigkeit fördert und immer mehr Menschen in die Armut treibt, hat Griechenland deutlich verändert. Auf der politischen Linken wurde eine solidarische und demokratische Kraft (Syriza) gestärkt, die sich dafür einsetzt, daß die zerstörerische Sparpolitik der Troika sofort beendet wird. Gleichzeitig greifen aber bei einem Teil der GriechInnen auch offen faschistische und rassistische Stereotype. Profiteur dieser gefährlichen Entwicklung ist die neo-faschistische Partei Chrysi Avgi (deutsch: Goldene Morgenröte). Sie erhielt bei den letzten Wahlen fast sieben Prozent der Wählerstimmen und stellt jetzt 18 Abgeordnete im Parlament. Laut Umfragen würde sie aktuell mindestens zehn Prozent der Wählerstimmen erhalten.
Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund sind in den griechischen Städten alltäglich geworden. Neonazis jagen AusländerInnen durch die Straßen Athens. Mitte August lieferten sich einige Dutzend Kämpfer der Partei in Korinth Prügeleien mit der Polizei. Sie polemisierten gegen die Unterbringung von 300 Flüchtlingen in einer Kaserne. Die Schläger hatten sich mit armdicken Holzknüppeln bewaffnet – eingewickelt in die griechische Flagge. Politische Vorbilder sind die autonomen Nationalisten in Deutschland und die NPD. Mit ihren uniformierten Auftreten erinnern die Schlägertrupps, ähnlich wie Neonazis in Ungarn, Bulgarien und Rumänien, an das Auftreten der SA.
Menschen ertrinken im Evros
Der griechisch-türkische Fluß Evros ist der moderne Festungsgraben der EU. Auf 185 Kilometern trennt er die Europäische Union von der Türkei. Heute gelangen etwa 80 Prozent aller Flüchtlinge, deren Ziel die EU ist, in Griechenland auf EU-Gebiet. Die Situation von Flüchtlingen an der griechisch-türkischen Grenze ist dramatisch. Die meisten stammen aus Afghanistan, dem Irak, aus Pakistan, Syrien und anderen asiatischen und nordafrikanischen Ländern. Viele haben sich in der Türkei auf dem Landweg durchgeschlagen, andere kommen per Flugzeug nach Istanbul. Von dort werden sie häufig mit Hilfe von Schleppern an die türkisch-griechische Grenze gebracht und überqueren mit kleinen Booten den Evros. Von den 128.000 Menschen, die 2010 über die Grenze nach Griechenland geflüchtet sind, haben die meisten in der Evros-Region die Grenze überschritten. Nicht wenige Menschen jedoch – niemand weiß deren Zahl genau – sterben in den Fluten des Evros, weil sie bei dem Versuch, die EU-Außengrenze zu überqueren, ertrinken.
Flüchtlingslager Amygdaleza
Griechenland reagiert mit immer neuen restriktiven Maßnahmen gegen die »Illegalen«. Die griechische Regierung läßt 30 ehemalige Militärkasernen als Flüchtlingslager einrichten, in denen mehr als 30.000 MigrantInnen untergebracht werden sollen. Diese Lager sind hoch gesichert und werden von der Polizei überwacht. Auch die sogenannten Aufnahmezentren für illegale Einwanderer sind bewachte Massenunterkünfte. Viele Flüchtlinge verbringen Monate oder Jahre in solchen völlig überfüllten Auffanglagern. Die Ungewißheit ist zermürbend und führt zu gravierenden psychologischen Belastungen. Manche wollen, obwohl wegen der Situation in ihrer Heimat bereits traumatisiert, wieder zurück, Sätze wie »Lieber in meiner Heimat sterben, als hier in Griechenland von Faschisten erschlagen zu werden«, habe ich mehr als einmal gehört.
Eines der Lager bei Athen habe ich besucht. Das Flüchtlingslager Amygdaleza wurde im Jahr 2012 für die Containerunterbringung der kurzfristig in Athen benötigten Polizeikräfte geschaffen, die während der Olympischen Spiele für Sicherheit sorgen sollten. Die spartanisch eingerichteten Container sind für einen längeren Aufenthalt ungeeignet. Hinter hohen Stacheldrahtzäunen unter ständiger Polizeibewachung müssen sich die etwa 1.000 Flüchtlinge aus Bangladesch, Afghanistan und Pakistan eher wie Strafgefangene vorkommen. Ihre Handys werden konfisziert, so daß sie keine Chance haben, mit ihren Familien oder Anwälten Kontakt zu halten. Auch die hygienische Situation ist inakzeptabel. Viele der Flüchtlinge leiden an Hautkrankheiten.
Europäische Lösung suchen
In Thessaloniki habe ich erlebt, wie die Flüchtlinge stundenlang vor der zuständigen Einwanderungsbehörde warten, um ihre Anträge abzugeben. Nur wenige Bewerber werden aufgerufen, die anderen in ihre Unterkünfte zurückgeschickt. Ich habe mit ihnen gesprochen. Viele versuchen seit drei Monaten vergeblich, ihre Asylanträge abzugeben. Die griechische Politik reagiert hilflos. Auch auf Druck der deutschen Bundesregierung verschärft Athen immer mehr seine Flüchtlingspolitik. Der Bau eines neuen Grenzzaunes an der griechisch-türkischen Grenze ist nur eine der Abschottungsmaßnahmen. Kritik an der griechischen Regierung ist hier selbstverständlich richtig, aber schuld an der Misere sind die Regierungen aller EU-Staaten, die sich ihrer Verantwortung für eine solidarische Flüchtlingspolitik nicht stellen wollen. Solidarische Flüchtlingspolitik bedeutet, daß die in der EU ankommenden Flüchtlinge auf alle 27 Mitgliedsstaaten gleichmäßig verteilt werden müssen. Eine Million Flüchtlinge in Griechenland sind für die EU mit ihren über 500 Millionen EinwohnerInnen kein Problem. Deutschland sollte den ersten Schritt tun und freiwillig Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen.
Annette Groth ist menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke und Vorsitzende der deutsch-griechischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestags.