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Titel012014

Was ich nicht verstehe  (Thomas Rothschild)

Das Wort »verstehen« hat mehrere Bedeutungen, die sich zwar ähneln, aber nicht decken. Einmal meint es »begreifen« (»eine mathematische Formel verstehen«), dann »Verständnis aufbringen, billigen« (»Beate Klarsfeld verstehen, die Kurt Georg Kiesinger ohrfeigt«). Ich kann, in der ersten Bedeutung, verstehen, warum jemand, jedenfalls in den frühen dreißiger Jahren, Nationalsozialist wurde. Ich kann sogar, wenn ich von meinen persönlichen Interessen absehe, den Antisemitismus verstehen. Jedenfalls scheint er mir nicht mehr gegen rationales Denken zu verstoßen als die Ansicht, daß die Konstellation der Sterne bei der Geburt das Leben bestimmt oder daß Beten gegen Unbill helfen könnte. Ich kann verstehen, daß ein überzeugter Nationalsozialist wie der Dirigent Clemens Krauss 1935 von Österreich ins Deutsche Reich ging. Ich kann jedoch weder in der ersten, noch in der zweiten Bedeutung verstehen, warum auch der österreichische Komponist Gottfried von Einem, der stets beteuert und dem man abgenommen hat, ein Gegner Hitlers gewesen zu sein, 1937 freiwillig ins nationalsozialistische Deutschland übergesiedelt ist, während seine jüdischen und antifaschistischen Kollegen, wie Arnold Schönberg, Hanns Eisler, Erich Wolfgang Korngold, Kurt Weill, Oscar Straus, Ernst Toch, Alexander von Zemlinsky, Ernst Krenek oder Paul Hindemith und unzählige weitere, sich im Exil über Wasser halten mußten oder bald darauf, wie Viktor Ullmann oder Erwin Schulhoff, im KZ ums Leben kamen. Ich kann verstehen, daß Mitglieder der NSDAP nach der Machtergreifung ihr Land gegen Kritik aus dem Ausland verteidigt haben, aber ich kann nicht verstehen, wieso das auch Leute taten, die kurz zuvor noch »Hitler bedeutet Krieg« skandiert hatten, wie ich jene Sozialdemokraten nicht verstehen kann, die zum »Schulterschluß« aufriefen, als europäische Staaten zu Sanktionen gegen ein Österreich aufriefen, an dessen Regierung Jörg Haiders Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) beteiligt war, statt sich über die ausländische Schützenhilfe gegen eine rechtsradikale Politik zu freuen.

Gerade wenn man, was man in der zweiten Wortbedeutung nicht versteht, bekämpfen will, weil es undemokratisch oder menschenfeindlich ist, muß man sich darum bemühen, es in der ersten Bedeutung zu verstehen. Offenbar ist der längst überwunden geglaubte Nationalismus des 19. Jahrhunderts nach wie vor virulent. Patriotismus oder was man dafür hält hat bei vielen – wenn nicht bei den meisten – Menschen offenkundig einen höheren Stellenwert als Demokratie und Menschenrechte. »Right or wrong – my country« scheint nicht nur in den USA ein anerkannter Grundsatz zu sein.

Viktor Orbán wurde von einer Mehrheit in sein Amt gewählt. Daran ist nicht zu zweifeln. Man muß davon ausgehen, daß auch hinter dem weißrussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka, selbst wenn man Manipulationen bei den Wahlen berücksichtigt, eine Mehrheit der Bevölkerung steht. Mehrheiten sind keine Garantie für Demokratie. Eine Wählermehrheit kann ebenso antidemokratisch oder faschistisch sein wie eine Regierung. Aber um Mißverständnisse zu vermeiden: Ungarn, von dem im folgenden die Rede sein soll, ist nicht faschistisch. Es hieße, den Faschismus verniedlichen, wenn man die besorgniserregenden Zustände in Ungarn mit diesem Etikett belegte. Aber man darf sich schon an die späten Jahre der Weimarer Republik erinnert fühlen, in denen staatliche Institutionen dem Treiben nationalsozialistischer Truppen hilflos oder sogar mit Sympathie gegenüberstanden. Daß Fidesz nicht Jobbik ist, müssen wir uns nicht von einem Springer-Korrespondenten erklären lassen. Aber das Verhalten von Fidesz gegenüber Jobbik läßt sich nicht mit der Rücksicht auf die jeweilige Klientel exkulpieren, wie das Boris Kálnoky von der Welt tut.

Ich kann Orbáns Erfolg bis zu einem gewissen Grad verstehen. Die europäische Idee klingt verlockend, besonders für mächtige Staaten wie Deutschland. Die Überwindung der Nationalstaaten ist eine verführerische Utopie – wenngleich man sich fragen muß, warum deren Befürworter dem nationalistischen nun einen europäischen Eigennutz entgegensetzen wollen, statt auch die Interessen der sogenannten Dritten Welt im Auge zu haben. Der Grund ist selbstverständlich, daß die Europäische Union in erster Linie ein ökonomisches Bollwerk gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und dann, perspektivisch, gegen Rußland und China ist. Gerade aber weil die EU wirtschaftlichen Interessen dient und da vor allem jenen der großen multinationalen Konzerne, weil ihr eine Europäisierung sozialer Standards kaum am Herzen liegt, sind Ressentiments, zumal aus der Bevölkerung kleinerer Staaten, mehr als nur verständlich. Die Linke hat den Fehler gemacht, die Kritik am europäischen bürokratischen Zentralismus den Rechten zu überlassen.

In gewisser Weise wiederholt sich in Ungarn in der antieuropäischen Politik, was sich im 19. Jahrhundert gegen die Hegemonie der deutschsprachigen Verwaltung im Habsburgerreich richtete. Der Nationalismus, nicht nur in Ungarn, war damals eng verbunden mit demokratischen Forderungen, das Streben nach Souveränität in der kleineren politischen Einheit keineswegs reaktionär. Ob es den demokratischen Kräften nützt, wenn die EU restriktiv in die Wirtschaftspolitik kleinerer Staaten eingreift, ist noch nicht ausgemacht. Von einer Solidarität aus Deutschland ist wenig zu hören, wenn Arbeitsplätze in Kroatien, in Polen, im Baltikum oder auch in Ungarn vernichtet werden.

Kann man also – in beiden Bedeutungen des Wortes – verstehen, daß Viktor Orbán mit seinem nationalistischen Widerstand gegen europäische Einmischungen auf Sympathien bei der Bevölkerung stößt, so ist nicht zu erkennen, mit welcher Notwendigkeit diese Unabhängigkeitsbestrebungen mit Chauvinismus nach innen, mit der Einschränkung demokratischer Rechte und der Diskriminierung von Minderheiten verknüpft sein müssen. Sie, nicht die Außenpolitik, rücken Orbáns Ungarn in die Nähe faschistischer Regime. Und wiederum kann man verstehen, daß dies von gestandenen Rechtsradikalen, von Horthy-Anhängern und Rassisten goutiert wird. Aber was bewegt Demokraten, was bewegt Intellektuelle, die zu einem guten Teil vor 25 Jahren noch im »kommunistischen« Ungarn Karriere gemacht haben, Orbáns Politik, jedenfalls nach außen, zu verteidigen? Das ist es, was ich nicht verstehe – in keiner Bedeutung des Wortes.

In einer Sendung des österreichischen Fernsehens wurde der über jeden Verdacht der Feigheit oder gar der Kollaboration erhabene Péter Esterházy auch nach der gegenwärtigen Entwicklung in Ungarn befragt. Der bekannte Schriftsteller, bestimmt einer der klügsten und profiliertesten seines Landes, sagte ganz offen, daß er keine Lust habe, darüber zu sprechen – »Warum gerade jetzt und warum gerade hier?« Nicht die Regierung sei das Problem, sondern die Frage, wieso so viele Menschen mit ihr einverstanden seien. Dafür habe er keine Antwort. Als der Moderator nachhakte und den Antisemitismus in Ungarn erwähnte, meinte Esterházy, es gebe in Ungarn nicht mehr Antisemitismus als in Österreich oder sonstwo in Europa. Nur die Art, darüber zu sprechen, sei anders. Das sei schon unangenehm und auch gefährlich, »aber ...« – und damit brach der so beredte Péter Esterházy ab. Wie soll man das verstehen (im Sinne von: begreifen)?

Elizabeth Csicsery-Rónay, langjähriges Präsidiumsmitglied des ungarischen PEN und Sekretärin des Writers-for-Peace-Komitees des Internationalen PEN, der seine Mitglieder in seiner Charta immerhin dazu verpflichtet, »das Äußerste zu tun, um Rassen-, Klassen- und nationalen Haß zu beseitigen und das Ideal einer in Frieden auf der Welt lebenden Menschheit zu verfechten«, schreibt:
»Es herrschen Heuchelei und ein doppelter Maßstab in der Kritik, wonach die Orbán-Regierung mit der extremen Rechten verbunden sei und daß sie antisemitisch und anti-Roma sei. In Wahrheit ist einer der Hauptpunkte des Mediengesetzes das Verbot ›der Aufwiegelung zu Haß und Diskriminierung auf der Grundlage von Ethnizität, Rasse, Sprache, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung‹. Die Kritiker können nicht beides haben. (Es muß, im Zusammenhang mit Rassismus, erwähnt werden, daß es Fidesz war, die die Roma-Strategie für die EU ausgearbeitet hat, und das einzige Roma-Mitglied im Europäischen Parlament, Lívia Járóka, ist Mitglied von Fidesz. Zudem hat Ungarn die größte, dynamischste Jüdische Gemeinde in Mittel- und Osteuropa, und viele Kinder von ungarischen Juden, die nach Israel gezogen waren, beginnen zurückzukehren. Ferner wird der Holocaust-Tag in ganz Ungarn, insbesondere in den Schulen, gefeiert.) Darüber hinaus schneidet das Gesetz das Thema der menschlichen Würde an.«

Daß nach einer Untersuchung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 48 Prozent der ungarischen Juden an Auswanderung denken, verschweigt Csicsery-Rónay. 1933, beim Kongreß des Internationalen PEN in Dubrovnik, wollten die deutschen Delegierten nichts von Bücherverbrennungen und ins Exil gejagten Juden wissen.

Was die Sache nicht besser macht: Dies ist kein ungarisches Phänomen. Nichts spricht gegen die Annahme, daß sich in einem Österreich mit einem Bundeskanzler Strache oder einem Frankreich mit einer Staatspräsidentin Le Pen »Intellektuelle« fänden, die der Welt erklären, daß man ihr Land zu Unrecht durch den Dreck ziehe.