Ende September 2013 hat die griechische Justiz die Führungsgruppe des neofaschistischen Kampfbunds Chrysi Avgi, »Goldene Morgenröte«, verhaften lassen, darunter auch fünf seiner Parlamentsmitglieder. Unmittelbarer Anlaß war die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssas, den ein Anhänger der Chrysi Avgi eineinhalb Wochen zuvor erstochen hatte. Die Bluttat hatte in ganz Griechenland Entsetzen ausgelöst. In den sozialen Bewegungen, aber auch in den Medien und im Spektrum der politischen Parteien setzte sich die Erkenntnis durch, daß jetzt eine rote Linie überschritten war. Seit über drei Jahren attackieren Kommandos von Chrysi Avgi ausländische Arbeiter und Flüchtlinge, und in den letzten Monaten waren sie auch gewaltsam gegen Kommunisten, Antirassisten und linke Gewerkschaftsaktivisten vorgegangen. Nun war das Maß voll.
Zweifellos hat der Aufschrei der breiten Öffentlichkeit die marktradikal-neokonservative Regierungskoalition aus Nea Dimokratia (ND) und Panhellenischen Sozialisten (PASOK) dazu veranlaßt, jetzt endlich gegen die neonazistische Kampforganisation vorzugehen. Es müssen aber auch noch andere gewichtige Gründe mit im Spiel gewesen sein, denn die führende Regierungspartei ND stimmt – wenn auch in deutlich »gemäßigterer« Form – mit einigen Programmpunkten von Chrysi Avgi überein und soll sogar noch kürzlich für den Fall von Neuwahlen eine Koalition mit ihrer »häßlichen Verwandten« erwogen haben. Es wird noch einige Zeit dauern, bis die wirklichen innen- und außenpolitischen Beweggründe für diesen abrupten Sinneswandel zutage liegen. Und erst dann wird sich zeigen, ob sich der in Griechenland in Gang gekommene Politikwechsel auch auf die europäischen Machtkonstellationen auswirken wird. Falls es dazu kommen sollte, werden dabei zweifellos auch die atemberaubenden Erkenntnisse des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestags über die Kumpanei des deutschen sicherheitspolizeilichen Apparats mit der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) eine Rolle spielen. Möglicherweise wird dann in der Geschichte des europäischen Neofaschismus ein neues Blatt aufgeschlagen – vielleicht wird sich aber auch das immer deutlicher zutage tretende Zusammenspiel des neokonservativen Establishments mit dem Neofaschismus nach einer gewissen Schamfrist weiter fortsetzen.
Wie dem auch sei: Wir haben allen Grund, uns intensiv und in analytischer Schärfe mit dem Phänomen des europäischen Neofaschismus und dessen Verortung im herrschenden politisch-ökonomischen Machtgefüge auseinanderzusetzen.
Ein erster orientierender Überblick
In Europa sind gegenwärtig über 100 neofaschistische Terrorgruppen, Kampfbünde und Parteien aktiv – allein in Rußland treiben etwa 30 Organisationen, die diesem Spektrum zuzurechnen sind, ihr Unwesen. Wenn wir das Auf und Ab studieren, das die Netzwerke des Neofaschismus in den vergangenen Jahrzehnten geprägt und bestimmt hat, dann kristallisieren sich aus der vergleichenden Analyse vier Höhepunkte heraus, die nach Perioden der Rückschläge und der Stagnation immer wieder zu neuen Aufschwüngen geführt haben.
Im Verlauf der Weltwirtschaftskrise von 1973 bis 1976 und der bis 1982 anhaltenden Stagnationsphase gelangten in Europa die letzten faschistischen Regime, nämlich die spanische Franco-Diktatur, das portugiesische Salazar-Regime und die griechische Militärjunta, an ihr Ende. Gleichzeitig setzte aber auch ein neuer Aufbruch ein, der eine Neuformierung des von den politischen Schalthebeln entfernten oder sonstwie marginalisierten Faschismus in die Wege leitete. Dieser Prozeß konnte sich manchmal über Jahrzehnte hinziehen, wie etwa die Umwandlung des Movimento Sociale Italiano (MSI) in die unter der Regie Gianfranco Finis »modernisierte« Alleanza Nazionale ausweist.
Die zweite Phase des neofaschistischen Aufbruchs fiel mit dem Untergang der Sowjetunion und Zerfall der Staatengemeinschaft des osteuropäischen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammen. Der damit verbundene soziale, wirtschaftliche und politische Umbruch verlief so schockartig, daß er zur schlagartigen Entwurzelung, Verarmung und Demoralisierung breiter Bevölkerungsschichten führte. In den meisten osteuropäischen Ländern etablierten sich daraufhin neofaschistische Organisationen, die sich nicht scheuten, in aller Offenheit auf die aus den 1930er und frühen 1940er Jahren stammenden Traditionsbestände zurückzugreifen.
Parallel dazu kam es seit dem Ende der 1980er Jahre in Jugoslawien zu einer umfassenden Ethnisierung der sozialen und wirtschaftlichen Konflikte. Sie schlugen zu Beginn der 1990er Jahre in einen blutigen Bürgerkrieg um, der dann 1999 durch den Aggressionskrieg der NATO gegen die jugoslawische Rest-Föderation beendet wurde. Unter aktiver Beteiligung der USA und der Europäischen Union entstanden ethnisch gesäuberte Kleinstaaten oder Kleinstaaten mit starken innerethnischen Spannungen, die sich seither mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegeneinander abgrenzen und sich mit gegenseitigen territorialen Forderungen überbieten. Auf diese Weise wurde uns am Beispiel des Balkans in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, was geschehen würde, wenn die sozialen und politischen Gestaltungskräfte des Neofaschismus die Oberhand gewinnen und sich in subalterne Herrschaftseliten der hegemonialen Großmächte umwandeln.
Die vierte und jüngste Expansionsphase des Neofaschismus hat sich im Gefolge der aktuellen Euro-Krise entwickelt. Als die Regierungen der europäischen Peripherieländer unter dem Diktat der »Troika« aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank um die Jahreswende 2009/2010 krisenverschärfende Austeritätsprogramme durchsetzten, lösten sie eine soziale Katastrophe aus, die in vielem an die osteuropäischen »Schocktherapien« der 1990er Jahre erinnerte. Auch von dieser Entwicklung konnten neofaschistische Organisationsansätze profitieren. Der Neofaschismus hat inzwischen in mehreren süd- und südosteuropäischen Ländern tiefe Wurzeln geschlagen.
Im Ergebnis dieser vier Aufschwungphasen ist der Neofaschismus wieder zu einem Machtfaktor aufgerückt, der in zunehmendem Maße auf die sozialen, kulturellen und politischen Verhältnisse Europas einwirkt. Dabei haben sich zwei miteinander konkurrierende Führungsgruppen herausgebildet, die sich in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Offenheit auf das nazi-faschistische Erbe der 1930er und 1940er Jahre beziehen.
In sozio-struktureller Hinsicht sind drei unterschiedliche Planungs- und Handlungsnetzwerke entstanden. Auf der inneren Ebene sind mehrere Untergrundorganisationen aktiv: Sie haben sich auf die Instrumente des politischen Terrors spezialisiert und greifen ihre »Feinde« – die Kollektive oder Einzelpersonen des Ausländer- und Flüchtlingsmilieus, die sozialen, religiösen und nationalen Minderheiten sowie das linke Organisationsspektrum – mit extremer physischer Gewalt an. Unter ihnen haben sich in der letzten Zeit insbesondere die Kommandos der Magyar Gárda (Ungarische Garde), der europaweit operierende Combat 18, der deutsche Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und die Miliz der Chrysi Avgi hervorgetan.
Um diesen harten Kern gruppiert sich eine zweite Ebene neofaschistischer »politischer Soldaten«, die ebenfalls ihre gesamte individuelle Existenz den Visionen des völkischen und hyper-nationalistischen Umsturzes verschrieben haben und teilweise eng mit den Terrorgruppen zusammenarbeiten. Sie bilden neofaschistische Kampfbünde, die auf der lokalen Ebene Personalstärken zwischen fünf und dreißig Mitgliedern aufweisen. Sie verfügen über flexible Kommandostrukturen und sind häufig überregional vernetzt. Typische Exponenten und Varianten dieser Kampfbünde gibt es heute vor allem in Ungarn (die Aktionsgruppen der Ungarischen Garde und ihres politischen Arms, der Jobbik), in Deutschland (Freie Kameradschaften), in Griechenland (Schlägertrupps der Chrysi Avgi) und in Rußland, wo mehrere Gruppierungen der neofaschistischen Szene um ihren hegemonialen Einfluß konkurrieren.
Zwar verfügen auch einige Kampfbünde wie etwa die Ungarische Garde und die Chrysi Avgi über politisch-parlamentarisch aktive Abteilungen, aber dessen ungeachtet läßt sich im Panorama des Neofaschismus eine weitere Ebene abgrenzen, die sich in erster Linie der politischen Agitation und Propaganda verschrieben hat. Ihre Kader und Anhänger sind es schon seit längerem gewohnt, gegen die repräsentative Demokratie mit deren eigenen Mitteln, nämlich einer in aller Form lizenzierten politischen Parteiorganisation, vorzugehen. Das hat zur Folge, daß sie ihre völkisch-nationalistischen Heilslehren immer aufs Neue in Partei- und Wahlprogramme einschreiben und sich massiv in lokale, regionale, nationale und europaweit stattfindende Wahlkämpfe einschalten. Dabei haben sich in den letzten Jahren zwei miteinander konkurrierende Hauptströmungen herausgebildet. Die erste Gruppierung beruft sich in aller Offenheit auf das nazi-faschistische Erbe der 1930/40er Jahre und orientiert sich unterschiedlich weitgehend an der damaligen Hegemonialmacht und den Hypotheken des nazistisch beherrschten Europas. Sie hat sich schon vor einiger Zeit in einer Europäischen Nationalen Front zusammengetan und auch auf kultureller Ebene – insbesondere durch die Organisation von Rechts-Rock-Festivals – grenzüberschreitende Verbindungen geschaffen. Vor allem die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die griechische Chrysi Avgi, die rumänische Noua Dreaptǎ (Neue Rechte), der Renouveau français (Französische Erneuerung), die italienische Forza Nuova (Neue Kraft), die spanische Falange und die Narodowe Odrodzenie Polski (Nationale Wiedergeburt Polens) haben Bedeutung erlangt.
Im Gegensatz dazu profiliert sich seit 2009 ein zweiter europaweit operierender Zusammenschluß, die Europäische Assoziation der nationalen Bewegungen. Um bessere Wahlergebnisse zu erzielen als ihre ältere europäische Konkurrentin, hat sie die historischen Traditionslinien teilweise zurückgefahren und ihre Botschaften den aktuellen sozioökonomischen und politischen Realitäten angepaßt. Der im Jahr 2009 in Budapest gegründeten Europäischen Allianz nationaler Bewegungen gehören die ungarische Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn), der Front National (Frankreich), die British National Party, die Nationaldemokratische Partei Bulgariens und die italienische Fiamma Tricolore an. Darüber hinaus sind als assoziierte Einzelmitglieder führende Exponenten des separatistischen belgischen Vlams Belang, des französischen Front National und des polnischen Prawo i Sprawiedlinvosc (Recht und Gerechtigkeit) eingetragen, während die Assoziation der ukrainischen Swoboda (Freiheit) inzwischen widerrufen wurde.
Historische Längsschnitte: Die »Vermächtnisse« der Vergangenheit
Zahlreiche neofaschistische Parteien und Splittergruppen berufen sich in aller Offenheit auf das Vermächtnis nazi-faschistischer Kampforganisationen und Heroen aus den 1930er und 1940er Jahren. Dabei überrascht besonders der unverblümte Rückgriff auf Milizen und militärische Einheiten, die vor allem vom SS-Hauptamt und von der Waffen-SS aus den mit den Deutschen kollaborierenden Kampfbünden rekrutiert worden waren, so etwa auf die albanische und die baltischen Einheiten der Waffen-SS. Aber auch die aus einer neofaschistischen Studentenorganisation hervorgegangene Jobbik bemüht in Symbolik, Programmatik und Rhetorik die ungarischen Pfeilkreuzler als historische Identitätsstifter und stört sich nicht daran, daß diese in der Schlußphase des deutsch beherrschten Europas eine bedeutende Rolle bei der Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden gespielt haben. In anderen Fällen ist die historische Bezugnahme auf die nazistische Vormacht dagegen eher gebrochen, so etwa in Rumänien, wo die Noua Dreaptǎ sich auf das Erbe der Eisernen Garde und ihres Führers Corneliu Zerea Codreanu beruft: Die Eiserne Garde war erbitterter Gegner des Militärdiktators Ion Antonescu, des zentralen Bündnispartners der Deutschen, gewesen und deshalb vom Auslandsgeheimdienst der SS immer wieder dazu benutzt worden, sich die durch Antonescu repräsentierten Führungsschichten des Landes gefügig zu machen – und anschließend wieder fallen gelassen worden.
Es gibt aber auch Konstellationen, in denen der Satellitenstatus gegenüber der deutschen Vormacht aus den neofaschistischen Geschichtsmythen völlig ausgeblendet wird, so etwa bei der identitätsstiftenden Bezugnahme der kroatischen Neofaschisten auf den Klerikal-Faschismus der Ustaša. Hinzu kommen selektive Rückgriffe auf die Doktrinen der deutschen Nazipartei: Um ihre Bemühungen um eine möglichst systematische völkische Umdeutung der sozialen Frage historisch zu untermauern, greifen beispielsweise die Theoretiker der NPD auf spezifische völkisch-soziale Strömungen der NSDAP zurück und ergänzen diese Bezugnahmen durch Anleihen aus der Mottenkiste der nazistischen Volkswirtschaftslehre, wodurch die Doktrinen einer der »Volksgemeinschaft« optimal anzupassenden »räumlichen Wirtschaft« reaktiviert werden.
Schließlich gibt es Tendenzen, das real vorhandene historische Erbe totzuschweigen, weil es die aktuellen politischen Zielsetzungen und Legitimationsstrategien beschädigen würde. Dies ist beispielsweise bei der griechischen Chrysi Avgi der Fall. Wie neueste historische Untersuchungen nachweisen, reichen die geschichtlichen Hypotheken dieser besonders dynamischen neofaschistischen Kampforganisation bis in die Zeiten der Metaxás-Diktatur (1936–1940) zurück. Metaxás hatte eine spezifische Variante des »Faschismus von oben« kreiert, die zur Gründung einer Nationalen Jugendorganisation (E.O.N.) und zur Ausbildung eines umfangreichen sicherheitspolizeilichen Apparats geführt hatte. Aus beiden Institutionen, besonders aus den Kadern des E.O.N., rekrutierten die deutschen Okkupanten dann ab 1942/43 mehrere griechische »Sicherungsbataillone«, um sie zur Bekämpfung des erstarkenden Widerstands einzusetzen. In den Jahren des Bürgerkriegs (1946–1949) schlugen sich die Kader der Sicherungsbataillone auf die Seite der Konterrevolution, gründeten Weiße Terrorgarden und begingen gräßliche Massaker nicht nur an ihren militärischen Kontrahenten, sondern auch an der Zivilbevölkerung. Sie blieben in den 1950er und 1960er Jahren gleichwohl völlig ungeschoren, während die Überlebenden der niedergeworfenen Linken systematisch verfolgt und interniert wurden. Schließlich wurden die alten E.O.N.-Kader zusammen mit den Offizieren der Sicherheitspolizei von der pro-amerikanischen Militärjunta reaktiviert. Sie versuchten in den Jahren 1967 bis 1974 – allerdings erfolglos –, den Obristen und ihren US-amerikanischen Hintermännern zu einer Massenbasis zu verhelfen. Ihre Traditionslinien lebten auch nach dem Sturz der Junta in den Generationswechseln ihrer Familien und Klientelverbände weiter. Als zu Beginn der 1980er Jahre mit dem Wahlsieg der PASOK zeitweilig ein breiter sozialer Aufbruch einsetzte, wurde aus diesen Traditionsbeständen Chrysi Avgi begründet, um gegen die Exponenten des Demokratisierungs- und Sozialisierungsprozesses erneut Front zu machen – erst in Gestalt einer Zeitschrift gleichen Namens (1980), fünf Jahre später im Kontext der ersten Kampfbünde. Die anfänglichen Rekrutierungsaktionen von Chrysi Avgi konzentrierten sich auf genau jene Distrikte, in denen die Sicherungsbataillone und anschließend die Weißen Terrorgarden gesellschaftlich verankert gewesen waren.
Die machtpolitischen Kontexte des Neofaschismus: Werden die neokonservativen Parteien zu »Türöffnern«?
Es wäre verfehlt, die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexte aus der Analyse des Neofaschismus auszublenden – wie es in der gängigen politikwissenschaftlichen Literatur üblich ist. Der europäische Neofaschismus ist immer auch als Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen, die derzeit europaweit eindeutig nach rechts tendiert. Parallel zum Neofaschismus befinden sich seit Beginn der 1990er Jahre und nochmals verstärkt durch die Weltwirtschaftskrise von 2008/09 einflußreiche neokonservative Kräfte im Aufwind. Ihre soziale Basis bilden die Gewinner der Krise, vor allem die oberen Mittelschichten und die akademischen Funktionseliten. Sie engagieren sich offen für die Belange neokonservativer Parteien, die sich das Ziel gesetzt haben, das politische Establishment nach rechts zu verschieben und ihren Anhängern größeren Einfluß auf die zentralen politischen Entscheidungsprozesse zu verschaffen. Wer über den Neofaschismus und dessen politische Kontrollfunktionen gegenüber der breiten Masse der Krisenverlierer nachdenkt, ist infolgedessen gut beraten, wenn er / sie auch dessen Wechselwirkungen mit dem aktuellen neokonservativen Entwicklungstendenzen in den Blick nimmt.
Dabei ist jedoch Vorsicht am Platz: Pauschale Zuschreibungen oder gar Gleichsetzungen zwischen den neuen politischen Repräsentationen der Krisengewinner und Krisenverlierer trüben den analytischen Blick und beeinträchtigen infolgedessen unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten. Wir sollten deshalb versuchen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Strategien, Denkweisen und habituellen Strukturen des neofaschistischen und des neokonservativen Lagers möglichst präzis herauszuarbeiten.
Entscheidende Voraussetzung für diesen Vergleich ist eine genaue begriffliche Bestimmung der wesentlichen Merkmale, die die Ideologie, die Programmatik und die Verhaltensstrukturen des Neofaschismus bestimmen. Wir können acht wesentliche Klassifikationspunkte herausarbeiten. Die Neofaschisten von heute unternehmen erstens große Anstrengungen zur völkischen Umdeutung der sozialen Frage, und zwar in Bezug auf alle wesentlichen Manifestationsformen des aktuellen Klassenkonflikts. Davon ausgehend betreiben sie zweitens die Ausgrenzung aller »Volks- und Gemeinschaftsfremden« aus ihren sozial- und wirtschaftspolitischen Programmen zur »ethnischen Säuberung« der multikulturellen Gesellschaften und zur Durchsetzung der »Volksgemeinschaft«. Davon ausgehend bauen sie drittens zahlreiche rassistische Feindbilder auf, die von Organisation zu Organisation variieren und je nach den gesellschaftlichen Gegebenheiten eine große Bandbreite aufweisen: Antisemitismus, Antiziganismus, Antiislamismus und die sozialrassistische Ausgrenzung von »Leistungsschwachen«, »Sozialschmarotzern« und soziokulturell aktiven Minderheiten. Diesen rassistischen Feindbildern wird viertens die patriarchale Kernfamilie als positives Gegenmodell entgegengesetzt. Die Restauration der männlich dominierten Kleinfamilie bildet heute das sozial- und bevölkerungspolitische Kernstück der neofaschistischen Programmatik, zumal sie unmittelbar auf das politische System und dessen angestrebte Umwandlung in einen autoritären »Führerstaat« – das fünfte Klassifikationsmerkmal des Neofaschismus – projiziert wird. Der Neofaschismus ist sechstens darauf ausgerichtet, Gewalt und Gewaltbereitschaft zu mobilisieren: Er unterlegt seine Symbolik und die Rituale seiner Auftritte mit einem genau durchdachten Gewaltkult. Die neofaschistischen Organisationen und Kampfbünde haben sich siebtens durchgängig auf die Auflösung der Europäischen Union und ihre Ersetzung durch ein »Europa der Völker« festgelegt. Dieses »Europa der Völker« wird achtens durch ständige gewaltsame Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung und Rangfolge der völkischen Nationalstaaten bestimmt sein: Die territoriale Expansion auf Kosten der Nachbarnationen wird von zahlreichen neofaschistischen Organisationen gepredigt, so etwa die Restauration des zaristischen Rußlands, Groß-Ungarns, Groß-Albaniens, Groß-Bulgariens, Groß-Serbiens, Groß-Rumäniens, Groß-Makedoniens und Groß-Griechenlands, um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Darüber hinaus gibt es Bündnisabsprachen, die, wenn sie denn jemals realisiert werden sollten, auf die kommenden Frontlinien der binneneuropäischen Bürgerkriege hinweisen. Beispielsweise haben sich die griechischen und serbischen Neofaschisten auf eine Neuaufteilung des südlichen Balkans verständigt: Sie wollen Albanien und Makedonien unter sich aufteilen, so daß das kommende Groß-Serbien und Groß-Griechenland über eine gemeinsame Grenze verfügen werden.
In der Zusammenschau wirken die Kernpunkte der neofaschistischen Programmatik wie ein Horrorkatalog, dem jegliche Realisierungschance zu fehlen scheint. Dieser Eindruck darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es gleichwohl spezifische Anknüpfungspunkte an die programmatischen Vorstellungen des neokonservativen Lagers gibt. In mancher Hinsicht kommen diese wie abgeschwächte Varianten in einer »moderateren« Verpackung daher, so daß die Neofaschisten die Rolle von häßlichen und etwas zu ungehobelt auftretenden Verwandten der Neokonservativen einnehmen. Erinnert sei nur an die von den neokonservativen Parteien durchgängig an den Tag gelegte Ausländerfeindlichkeit und ihre damit einhergehenden Forderungen nach einer restriktiven Ausländerpolitik, die nur den höher qualifizierten MigrantInnen eine gewisse Chance zugesteht. Gemeinsam sind auch die ständig wiederkehrenden sozialrassistischen Ausfälle gegen religiöse Minderheiten (insbesondere die Muslime) sowie gegen Arme, chronisch Erwerbslose und Obdachlose. Bei den Neokonservativen steht zudem die Restauration der männerdominierten Kernfamilie hoch im Kurs, und sie werden nicht müde, mit dieser Vision Front gegen den Feminismus, gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen und gegen alle anderen Lebensgemeinschaften zu machen, die die familiäre »Keimzelle des Staates« in Frage stellen. Sie setzen darüber hinaus auf einen imperial orientierten und entsprechend gewaltbereiten Nationalismus, und wenn es nach ihnen geht, wird die Euro-Zone in Bälde aufgelöst und die Europäische Union auf ein »Europa der Nationen« zurückgestutzt sein. Schon allein dieser kursorische Blick auf die Programmatik der führenden neokonservativen Parteien Europas verweist auf erhebliche Übereinstimmungen mit Teilen der neofaschistischen Ideologie und Politik.
Dessen ungeachtet gibt es auch gravierende Unterschiede. Die neokonservativen Parteien und Organisationen sind erstens durchgängig entschiedene Anhänger einer marktradikalen Schleifung des Sozialstaats und der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, und sie haben sich darauf verständigt, die absehbaren sozialen Folgen mit Hilfe einer harten und kompromißlosen Repressionspolitik unter Kontrolle zu halten; ihr Marktradikalismus ist derart einseitig auf das Korsett des Repressionsstaats fixiert, daß die transnationalen Wirtschaftsbeziehungen auf reine Freihandelsabkommen reduziert werden. Zweitens haben die Neokonservativen keine Scheu vor einer ständig zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und einer sich entsprechend polarisierenden Klassengesellschaft. Und drittens halten sie einen offen autoritären Umbau des politischen Systems für unnötig: Sie vertrauen darauf, daß eine schrittweise an die Interessen der Macht- und Funktionseliten angepaßte und in ihren Überwachungs- und Bestrafungsfunktionen auf den neuesten Stand gebrachte repräsentativ-parlamentarische Demokratie zur Absicherung ihrer Herrschaftsinteressen ausreicht.
Aus diesen drei strategischen Optionen ergeben sich klare Unterschiede zur Programmatik ihrer häßlichen neofaschistischen Verwandten: Der Marktradikalismus läßt keinen Spielraum für »volksgemeinschaftliche« Inszenierungen, da diese ohne sozialpolitische Konzessionen zur Eindämmung des Klassenkonflikts nicht auskommen. Noch vehementer werden alle damit verbundenen Optionen auf die Einführung von Verfahren der Wirtschaftslenkung und die Stärkung des öffentlichen Sektors abgelehnt. Aber auch die von den Neofaschisten angestrebte diktatorische Umgestaltung des politischen Systems wird als zu riskant, ineffizient und letztlich unnötig verworfen.
Wenn wir nun einen Schritt weitergehen und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten gegeneinander abwägen, stoßen wir auf zahlreiche Schnittmengen, denen nicht weniger zahlreiche Widersprüche gegenüberstehen. Die Wechselwirkungen zwischen Neofaschismus und Neokonservatismus bilden eine vielschichtige und schwer durchschaubare Gemengelage, die nur unter den jeweils vorfindlichen Konstellationen der realen Gesellschaftsprozesse austariert werden kann. Dabei kommen so viele externe Variable ins Spiel, daß sich verbindliche Prognosen als unmöglich erweisen. Aus der Erfahrung des historischen Faschismus der 1920er bis 1930er Jahre können wir jedoch schlußfolgern, daß das Ausmaß des Zusammenwirkens zwischen dem neofaschistischen und neokonservativen Lager wesentlich durch die Stärke oder Schwäche der politischen Repräsentation der Unterklassen bestimmt wird. Und damit kommt die Linke ins Spiel, und zwar in ihrer gesamten Bandbreite. Dazu gleich weiter unten.
Gleichwohl ist es möglich, die fließenden Übergänge und Wechselwirkungen zwischen dem sich gegenwärtig entwickelnden Neofaschismus und Neokonservatismus anhand einiger konkreter Fallstudien auszuloten.
Ein gutes erstes Untersuchungsobjekt liefert uns die aktuelle Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in Großbritannien. Dort ist die – institutionelle wie außerparlamentarische – Linke heute weitgehend marginalisiert. Infolgedessen kommt der soziale und politische Druck, der auf die regierende Konservative Partei, die Tories, ausgeübt wird, fast ausschließlich von rechts. Die wesentlichen Akteure sind die Neofaschisten – National Party und National Front –, die die Regierung mit ihren Parolen zur Marginalisierung und möglichst sogar Deportation aller Nicht-Weißen (»English Workers First«) sowie mit ihrer Forderung nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union konstant herausfordern. Dieser Druck bliebe sicher in engen Grenzen, wenn es nicht inzwischen einen neokonservativen Transmissionsriemen gäbe, der sich zwischen den Neofaschisten und den Tories etabliert hat: die United Kingdom Independence Party. Die Exponenten der Partei votieren ebenfalls für eine extrem restriktive Ausländerpolitik und für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Sie fordern alternativ dazu die Restauration des British Empire in Gestalt eines wieder ausschließlich von London dominierten Commonwealth, wofür vor allem massive Steigerungen im Militär- und Rüstungsetat für unumgänglich gehalten werden. Somit wird deutlich: Die sozialimperialistische Agitation der britischen Neokonservativen verhilft dem Anliegen der British National Party – gewollt oder ungewollt – zu einem enormen Aufschaukelungseffekt; zugleich wird der Neofaschismus aber auch zu einem Spielball der Politik, an der er als »häßlicher« Juniorpartner mitwirkt.
Ähnliche Tendenzen zur neokonservativen Instrumentalisierung der neofaschistischen Parteien sind auch in mehreren ost- und südosteuropäischen Ländern zu beobachten. Sie werden von den dort herrschenden neokonservativen Machteliten dazu benutzt, um die durch die Deregulierungs- und Verarmungspolitik der letzten Jahrzehnte aufgestaute Wut und Frustration der Unterklassen in gut steuerbare Ventilfunktionen umzuleiten und in politischen Pattsituationen als diskrete Mehrheitsbeschaffer tätig zu werden.
Angesichts dieser brisanten Wechselwirkungen nimmt es nicht wunder, daß sich inzwischen auch die neokonservativen Parteien auf europäischer Ebene zusammengeschlossen haben, um die beiden europäischen Dachverbände des Neofaschismus – die Europäische Nationale Front und die Europäische Allianz nationaler Bewegungen – vor ihren Karren zu spannen. Im Oktober 2010 schlossen sich die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), der mittlerweile ins neokonservative Lager zurückgeschwenkte französische Front National, die belgisch-flandrische Separatistenpartei Vlams Belang und die Sverigedemokraten (Schwedendemokraten) zur Europäischen Allianz für Freiheit zusammen; darüber hinaus wurden enge Kontakte mit Silvio Berlusconis »Il Popolo della Libertà« (Das Volk der Freiheit) und der von Geert Wilders kommandierten niederländischen Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) geknüpft. Wir können darauf gespannt sein, wie sie künftig ihre auf das EU-Parlament fokussierte Hebelfunktion einsetzen wird, um unter dem Druck ihres wachsenden politischen Einflusses und im stillen Zusammenspiel mit ihren beiden häßlichen Schwestern das europäische Integrationsprojekt endgültig zu Fall zu bringen.
An dieser Stelle erscheint auch ein kurzer Blick auf die politischen Verhältnisse in Deutschland, der europäischen Hegemonialmacht, angebracht. In Deutschland fehlte bislang ein neokonservativer »Türöffner«, wie er sich mittlerweile in zahlreichen EU-Ländern – vor allem in einigen Ländern der europäischen Kernzone – etabliert hat. Trotz des seit Jahren betriebenen Zusammenspiels der deutschen Geheimdienste mit der neonazistischen Szene ist deren politische Repräsentation, die NPD, öffentlich geächtet. Wird es bei dieser Konstellation bleiben, wenn sich wie in den Nachbarstaaten ein starker neokonservativer Transmissionsriemen etabliert hat? Die nächsten Monate werden zeigen, inwieweit die im Frühjahr 2013 gegründete »Alternative für Deutschland« (AfD) diese Rolle übernehmen wird. Bislang repräsentiert die AfD den marktradikalen antieuropäischen Flügel der deutschen Krisengewinner in den mittleren Familienunternehmen, den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und in einigen Medienkonzernen; bei der Bundestagswahl vom 22. September 2013 erhielt sie vor allem Zulauf von seiten der abgehalfterten Neoliberalen der bisherigen Regierungskoalition (FDP) und von 340.000 ostdeutschen Protestwählern. Diese soziale Zusammensetzung kann sich durchaus noch ändern und vollends auf die von den etablierten Neoliberalen und den Grünen enttäuschten akademisch qualifizierten Funktionseliten sowie auf weitere Protestwählerschichten ausgreifen, die über den neoliberalen Anpassungskurs der in einigen ostdeutschen Bundesländern mitregierenden Linkspartei frustriert sind. Das wäre dann in der Tat eine soziale Konstellation, die den Stoff für eine neokonservative Partei liefern könnte, welche offen deutsch-national auftritt. Und sie wird dann wahrscheinlich auch nicht davor zurückschrecken, den bislang geächteten Neonazismus ein Stück weit hoffähig zu machen und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Der Neofaschismus und die soziale Frage
Damit komme ich zum Kernproblem meiner Analyse, zur Frage nämlich, warum es dem europäischen Neofaschismus erneut zu gelingen scheint, sich aus den Unterklassen und unteren Mittelschichten einen Massenanhang zu rekrutieren. Wir verfügen zwar über keine ausreichend gesicherten statistischen Daten, aber viele Einzelphänomene, Fallstudien und Beobachtungen sprechen dafür, daß sich in ganz Europa die Deklassierten aus allen Segmenten der Unter- und Mittelschichten zunehmend auf die programmatischen und politischen Versprechen des Neofaschismus einlassen. Das war in den eingangs skizzierten Umbruchsphasen – Stagflation Ende der 1970er Jahre, Osteuropäische »Schocktherapie« 1990–1993, Jugoslawischer Bürgerkrieg und europäische Austeritätspolitik seit 2009/10 – eindeutig der Fall. Zwar bröckelte der Massenanhang in den Phasen der Zwischenerholung wieder ab. Aber es blieb doch immer ein Sockel bestehen, der sich seit den 1990er Jahren in vielen Regionen Europas stetig vergrößert. Vor allem weniger qualifizierte erwerbslose Jugendliche männlichen Geschlechts wenden sich den neofaschistischen Kampfbünden und Organisationen zu, ohne ihnen später wieder abzuschwören, weil ihnen meistens nur der Weg in die chronische Unterbeschäftigung offensteht. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, die europaweit durch die stetige Zunahme der Jugenderwerbslosigkeit verstärkt wird. Parallel dazu werden aber auch immer größere Gruppierungen der großindustriellen Betriebsbelegschaften für den Neofaschismus anfällig, und zwar besonders in Regionen, wo seit längerem massive Deindustrialisierungsprozesse laufen. Im Gegensatz zu den in die chronische Arbeitslosigkeit übergehenden erwerbslosen Jugendlichen unterstützen die mit dem sozialen Abstieg konfrontierten Industriearbeiter eher »moderatere« Varianten des Neofaschismus, die sich teilweise mit den neokonservativen Tendenzen überlagern, so etwa den französischen Front National, die italienische Lega Nord und die Freiheitliche Partei Österreichs.
Trotz der bislang noch fehlenden massenstatistischen Daten über den Zusammenhang zwischen sozialer Enteignung, Pauperisierung und kultureller Verelendung und der damit korrespondierenden Entwicklung des politischen Verhaltens sind diese Tatbestände eindeutig. Wie können sie aber erklärt werden? Warum gelingt es dem Neofaschismus, sich in zunehmender Breite in den Unterklassen eine soziale Basis zu verschaffen? Es gibt dazu zahllose Erklärungsansätze aus der Geschichte des »alten« Faschismus in Europa, und einige davon sind auch heute noch durchaus valide. Trotzdem wäre es verfehlt, sie umstandslos auf die aktuellen Entwicklungstendenzen zu übertragen. Ich möchte mich der Fragestellung empirisch nähern. Dazu werde ich eine Fallstudie vorstellen und anschließend versuchen, daraus einige verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen.
Nach den Wirren der Jahre 1990 bis 1993 gelangte 1994 die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) an die politischen Machthebel und konnte sich in dieser Position bis 1998 behaupten. Im Anschluß an ein vierjähriges bürgerliches Intermezzo wurde sie 2002 wieder gewählt und hielt diesmal bis 2010 zwei Regierungsperioden durch. In diesen zwölf Jahren verfocht sie eine besonders extreme Variante des Marktradikalismus, was eine weitgehende Deregulierung des öffentlichen Sektors, umfassende Privatisierungen, die Rest-Demontage der sozialen Sicherungssysteme und die breite Durchsetzung prekärer Arbeitsverhältnisse zur Folge hatte. Als die Weltwirtschaftskrise 2008 auch Ungarn erreichte, befand sich die Gesellschaft am Rand des Zusammenbruchs. Es kam zu spektakulären Verarmungsprozessen, und eine Million – überwiegend auf der Basis von Fremdwährungskrediten aufgenommene – Immobilienhypotheken wurden notleidend. Da Ungarn schließlich zur Abwendung eines Staatsbankrotts umfangreiche internationale Hilfsgelder in Anspruch nehmen mußte, geriet das Land jetzt auch unter die Kuratel einer »Troika« aus Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank, deren Austeritätskataloge die sozialistische Regierung willig umsetzte.
Im Mai/Juni 2010 bekam die MSZP die Quittung für ihre desaströse Sozial- und Wirtschaftspolitik präsentiert. Bei der Wahl errang der oppositionelle Ungarische Bürgerbund Fidesz zwei Drittel der Parlamentssitze, und Jobbik, die Bewegung für ein besseres Ungarn, erreichte knapp 17 Prozent. Es kam zu einem beispiellosen politischen Machtwechsel, der die institutionelle Linke in einem noch nie dagewesenen Ausmaß diskreditierte und marginalisierte.
Dagegen machte sich die neokonservative Regierung unter ihrem Spitzenexponenten Viktor Orban unverzüglich daran, das Austeritätsdiktat der Troika mitsamt den durch die MSZP geschaffenen Vorgaben entlang einer klaren klassenpolitischen Interessenlinie zu modifizieren. Sie forcierte einerseits die soziale Ausgrenzung des unteren Drittels der Gesellschaft, indem sie das Arbeitslosengeld drastisch kürzte und die Bezugszeiten auf drei Monate reduzierte, eine die unteren Einkommen benachteiligende pauschale Einkommensteuer von 19 Prozent (Flat Tax) einführte und ein umfassendes Gesetzespaket zur Internierung und Kriminalisierung der Obdachlosen auf den Weg brachte. Zum andern begann die Fidesz-Regierung, sich konsequent für die materiellen Belange ihrer mittelständischen Klientel einzusetzen. Sie erzwang die Rückverstaatlichung der Pensionskassen für die Angehörigen des öffentlichen Diensts, leitete die Rekommunalisierung lokaler Infrastrukturbetriebe ein und verschaffte durch die Einführung der Flat Tax allen Beziehern von Einkommen über umgerechnet 800 Euro monatlich erhebliche Steuervergünstigungen. Darüber hinaus setzte sie gegen die Troika einen zeitlich befristeten festen Wechselkurs der Landeswährung Forint gegen die führenden Auslandswährungen durch, so daß die besser betuchten Inhaber notleidend gewordener und in Fremdwährungen gehaltener Immobilienkredite der Falle ihrer Hypothekenüberschuldung entrinnen konnten. Die etwa 400.000 überschuldeten Unterklassenhaushalte gingen dagegen leer aus und müssen mit allfälligen Zwangsräumungen rechnen.
Inzwischen ist die Fidesz-Regierung über drei Jahre an der politischen Macht. In dieser Zeit ist es ihr gelungen, die pauschal angreifende soziale und ökonomische Konterrevolution der Sozialistischen Partei durch eine zweite Konterrevolution abzulösen, die an einer klaren klassenpolitischen Interessenlinie orientiert ist. Ihr erbarmungsloses Vorgehen gegen den sich mühsam neu formierenden sozialen Widerstand wird durch ihre informellen neofaschistischen Bündnispartner, die Magyar Gárda und die Jobbik, abgesichert.
Läßt sich der Fall Ungarn verallgemeinern? Gibt es also hinreichende Belege für die Hypothese, daß sich nicht nur die Ungarische Sozialistische Partei, sondern auch die gesamte europäische institutionelle Linke so weit von den materiellen Interessen der Unterklassen entfernt hat, daß diese sie nur noch als politischen Mitgestalter ihrer sozialen und ökonomischen Verelendung wahrnehmen? Und hat das nicht nur wesentlich zur (Selbst-)Zerstörung der Linken beigetragen, sondern aufgrund der damit einhergehenden Demoralisierungs- und Desorientierungsprozesse auch das Aufkommen des Neofaschismus begünstigt? Nach einem längeren Abwägen des Pro und Contra bin ich zum Ergebnis gekommen, daß dies in der Tat der Fall ist. Der weitgehend selbstverschuldete Niedergang des linken Parteien- und Gewerkschaftsspektrums und der Wiederaufstieg des Faschismus bedingen sich wechselseitig.
Dies zeigt ein kurzer Rückblick auf die eingangs skizzierten vier Perioden des neofaschistischen Aufbruchs. In der ersten Austeritätsperiode Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre haben die sozialistischen Parteien Süd- und Westeuropas einen abrupten Kurswechsel zugunsten einer restriktiven Sozial- und Wirtschaftspolitik vollzogen, der den sozialen Absturz breiter Schichten der Unterklassen zur Folge hatte. In dieser Zeit kehrten beispielsweise die französischen Immigranten der zweiten Generation massenhaft der Sozialistischen Partei den Rücken und avancierten ausgerechnet in den industriellen Ballungsgebieten zum wichtigsten sozialen Rückhalt des Front National. Da sich aber auch einige Kommunistische Parteien unter der Parole des »Eurokommunismus« der scheinbaren Sachlogik einer restriktiven Sozial- und Wirtschaftspolitik unterwarfen, zerbrach zu dieser Zeit auch der noch teilweise intakte Zusammenhang zwischen den kommunistisch orientierten politischen Repräsentationen und den proletarischen Milieus.
Dieser Prozeß wiederholte sich zu Beginn der 1990er Jahre im Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der ost- und südosteuropäischen RGW-Staaten. Die arbeitenden Klassen Osteuropas wurden im Ergebnis radikal greifender sozialökonomischer »Schocktherapien« schlagartig enteignet und pauperisiert: Eine Hyperinflation brachte sie um ihre jahrzehntelang ersparten Konsumansprüche, und gleichzeitig wurden ihre Arbeitsplätze vernichtet, so daß sie den nun neu entstehenden deregulierten Arbeitsverhältnissen schutzlos ausgeliefert waren. Auch in Rußland und Osteuropa wurden diese Praktiken – wenn auch nicht durchgängig – von den »Reformflügeln« des gewendeten »realsozialistischen« Parteiensystems in der Absicht vorangetrieben, sich am Ausverkauf der öffentlichen Güter zu bereichern und die neue Ära des Marktradikalismus aktiv mitzugestalten. Das ist ihnen auch weitgehend gelungen, wenn man von einigen wenigen Ausnahmen absieht, in denen die alten Systemgegner (in Polen) oder die westdeutschen Herrschaftseliten (in Ostdeutschland) das Rennen machten. In Rußland wie auch im übrigen Osteuropa hat die institutionelle Linke den materiellen Interessen der arbeitenden Klassen in einem Ausmaß den Rücken gekehrt, wie dies selbst für diejenigen, die sich nie Illusionen über die wirklichen Machtverhältnisse im »realen Sozialismus« gemacht hatten, vor 25 Jahren einfach unvorstellbar gewesen war.
Zuletzt griff die Abkehr der institutionellen Linken von den materiellen und kulturellen Überlebensinteressen der arbeitenden Klassen im Kontext der seit 2009 eskalierten Euro-Krise auf das gesamte Europa aus. Soweit sie Regierungsverantwortung mittrugen, haben sich die europäischen sozialistischen Parteien krisenverschärfenden Austeritätsprogrammen verschrieben und die Vorgaben der »Troika« aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds willig befolgt. Dabei diente ihnen das von den deutschen Sozialdemokraten und Grünen im Jahr 2003 auf den Weg gebrachte Programm zur Skelettierung der sozialen Sicherungssysteme und zur Einführung eines Niedriglohnsektors als Vorbild, ohne daß ihnen bislang eine Kopie dieses raffiniert austarierten Systems von Arbeitserzwingung und minimalen Sozialstandards gelungen wäre. In den europäischen Peripherieländern dominieren heute Massenerwerbslosigkeit und Verarmungsprozesse, wie sie dort seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr bekannt waren. Besonders betroffen sind die Jugendlichen: Eine ganze Generation ist unter aktiver Mitwirkung der institutionellen Linken um ihre Zukunft betrogen worden.
Wenn wir diese Geschehnisse vor unserem geistigen Auge Revue passieren lassen, dann ist die Schlußfolgerung unvermeidlich: Die institutionelle Linke hat den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Überlebensinteressen der unteren Klassen und Schichten den Rücken gekehrt. Sie hat dafür – wenn auch teilweise mit erheblicher Verzögerung – auf der politischen Ebene die ihr gebührende politische Quittung erhalten. Das Dilemma ist jedoch, daß die nicht-institutionelle, außerhalb des parlamentarisch-politischen Systems agierende Linke bis jetzt zu schwach war, um dem selbstzerstörerischen Treiben der institutionellen Linken Einhalt zu gebieten und glaubwürdige Alternativen zu erarbeiten. Das wird ihr nicht zuletzt dadurch erschwert, daß die unteren Klassen in der Regel die außerparlamentarische Linke mit den sozialdemokratischen Parteien und den durch diese kontrollierten Gewerkschaften gleichsetzen. Und das wiederum hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß sich immer größere Segmente der Unterklassen und unteren Mittelschichten dem Neofaschismus (und teilweise auch dem Neokonservatismus) zuwenden. Sicher spielen hier auch autoritäre Dispositionen eine Rolle, insbesondere bei den vom sozialen Abstieg bedrohten Restkernen der großindustriellen Arbeiterklasse.
Diese Einschränkung kann uns aber nicht vor der bitteren Einsicht bewahren, daß wesentliche Teile der institutionellen Linken seit Jahrzehnten für den sozialen Absturz und die nachfolgende sozio-kulturelle Demoralisierung der Unterklassen wesentlich mitverantwortlich sind. Die daraus resultierende Orientierungslosigkeit hat immer größere Teile der sozial abgestürzten oder vom sozialen Abstieg bedrohten arbeitenden Klassen und Schichten dazu gebracht, sich mit dem Neofaschismus zu identifizieren. Denn in Konstellationen des abrupten sozialen Zusammenbruchs haben die modernen Unterklassen immer nur vier alternative Handlungsoptionen verfügbar:
Sie können sich erstens individuell oder in kleinen Gruppen selbst zerstören (Drogen, Alkohol, Prostitution, Psychiatrisierung, Selbsttötung oder Flucht in die organisierte Kriminalität). Sie können zweitens auswandern und in einer anderen Weltregion einen ungewissen Neuanfang versuchen; diese klassische Flucht- und Vermeidungsreaktion der Arbeiterbewegung ist heute durch die weltweit greifende restriktive Ausländerpolitik gegenüber den Armen und weniger Qualifizierten weitgehend versperrt und zudem lebensgefährlich geworden. Sie können sich drittens selbstverständlich auch heute zu selbstbestimmten, sozial gerechten und egalitären Alternativprojekten und Kooperativen zusammenschließen und davon ausgehend neue antisystemische politische Perspektiven entwickeln. Allerdings werden sie mittelfristig kaum über erste osmotische Ansätze hinauskommen, solange die durch die institutionelle Linke aufgehäuften politischen Hypotheken so übermächtig in die Unterklassen hineinwirken, wie dies gegenwärtig noch der Fall ist. Und schließlich bleibt den Unterklassen viertens die neofaschistische Option. Zunehmend tendieren sozial demoralisierte und in ihrer individuellen Identität bedrohte Jugendliche und Erwachsene dazu, sich in Gestalt der neofaschistischen Kampfbünde und Organisationen ein äußeres Korsett zuzulegen, das sie paramilitärisch diszipliniert, ihren Alltag neu ordnet und ihnen einen hierarchisch strukturierten und entsprechend überschaubaren »kameradschaftlichen« Halt bietet. Davon ausgehend ist es dann nicht mehr so weit zu den Visionen »ethnisch gesäuberter« und »national befreiter Gebiete«: Die Geschundenen und Erniedrigten gehen ihrerseits dazu über, die in ihrer Reichweite befindlichen noch schwächeren Menschen und Gesellschaftsgruppen zu erniedrigen und zu beleidigen.
Das alles sind bedrückende Perspektiven. Aber sie sind analysierbar und können von uns auch auf der individual- und sozialpsychologischen Ebene durchaus nachvollzogen werden.
Schluß
Der Neofaschismus ist dabei, sich in Europa zu einem von erheblichen Teilen der Unterklassen mitgetragenen Phänomen der sozialen Regression und des neuerlichen Wegs in die Barbarei zu entwickeln. Sein politischer Hauptfeind ist und bleibt die Linke in allen ihren Schattierungen – obwohl sie durch ihren übermächtigen institutionellen Flügel bis zur Unkenntlichkeit deformiert ist. Wenn wir uns den damit einhergehenden Herausforderungen stellen wollen, müssen wir zuallererst mit einer radikalen Selbstkritik anfangen.