Mitte Oktober 2013 gewinnt Laurent Lopez, Kandidat des Front National, bei der vorgezogenen Kantonalwahl im südfranzösischen Brignoles mit 53,9 Prozent klar seinen Sitz im Generalrat. Der ehemalige Boxer schaffte damit das bisher beste Ergebnis für die radikale Rechte, die sich für die eigentlichen französischen Kommunalwahlen im Februar 2014 ähnliche Resultate erhofft. Wie sind solche Wahlerfolge zu erklären?
Bis Anfang der 1980er Jahre bleibt der 1972 gegründete Front National eine marginale Partei. Dann, 1982, bei der Kantonalwahl erreicht der Kandidat des Front National in Dreux Jean-Pierre Stirbois sensationelle 12,6 Prozent. 1984 gewinnt die Le-Pen-Partei zehn Sitze im Europaparlament. 1986, nachdem François Mitterrand das Wahlverfahren geändert hatte, zogen 35 Abgeordnete in das französische Parlament ein. 1988 bekommt Jean-Marie Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 14,4 Prozent der Stimmen. In den 1990er Jahren gelingt es der Partei, in der politischen Landschaft an Boden zu gewinnen. Bei den Kommunalwahlen 1995 erobert sie auch größere Städte wie Toulon. Die Stichwahl anläßlich der Präsidentschaftswahl 2002, bei der Le Pen den Sozialisten Jospin hinter sich läßt und nur gegen Chirac verliert, wird sein größter Triumph. Bei der folgenden Präsidentschaftswahl 2007 erreicht er jedoch nur noch 10,5 Prozent. 2009 kündigt der nunmehr 81jährige Frontführer seinen Rückzug an. Im Januar 2011 wird der Patriarch zum Ehrenpräsidenten ernannt, seine Tochter Marine Le Pen wird zu seiner Nachfolgerin gewählt. Die Erbfolge ist somit gesichert, das neue Gesicht der Front ist weiblich, blond, eloquent.
Wer ist diese Frau, die sich vorgenommen hat, die rechte Rabaukenpartei ihres Vaters für breite Schichten wählbar zu machen? – 1968 als jüngste von drei Töchtern geboren, wächst sie in einem Milieu auf, daß von der Partei des Vaters dominiert wird. Sie schlägt den in vielen westlichen Ländern typischen Weg ein, um eine politische Karriere zu beginnen: Sie studiert Jura. Und sie wird – selbstverständlich – mit 18 Jahren Mitglied der Partei des Vaters. 1992 erhält sie ihre Zulassung als Anwältin in Paris. 1998 wechselt sie in die juristische Abteilung des Front National. Die zweifach geschiedene Mutter dreier Mädchen erringt ihr erstes politisches Mandat 1998 in der Region Pas-de-Calais (Ärmelkanal) als Regionalrätin. Ab 2000 ist sie auch Mitglied im Politbüro der Partei. Im gleichen Jahr wird sie Chefin der Bewegung »Genération Le Pen«, die einen ersten Versuch darstellt, die rechtsextreme Partei populär zu machen. Diese Bewegung war zwei Jahre zuvor von ihrem Schwager Samuel Maréchal gegründet worden, dem Vater der derzeitigen FN-Abgeordneten Marion Maréchal-Le Pen. Im Mai 2002 tritt Marine Le Pen als Ersatzfrau zum ersten Mal für den FN im Fernsehen auf.
Innerparteilich propagiert sie weiter die »Entdiabolisierung« der Partei und trifft zunehmend auf Widerstand. Vor allem ihre Forderung nach einem »französischen« Islam, aber auch ihre Einstellung zur Abtreibung und ihre kritische Haltung zu den Rechtskatholiken der Lefebvre-Bewegung werden kritisiert. 2004 wird sie zum ersten Mal ins europäische Parlament gewählt. Ein Jahr später werden zwei ihrer schärfsten Kritiker aus dem Politbüro ausgeschlossen. Auf dem Parteitag im November 2007 wird sie von ihrem Vater zur Vizepräsidentin für innere Angelegenheiten ernannt und kümmert sich nun um Kaderbildung, interne und externe Kommunikation sowie Propaganda. Für die Kandidatur ihres Vaters zur Präsidentschaftswahl 2007 leitet sie bereits die gesamte Wahlwerbung. Ihr Slogen: »Mit Le Pen richten wir alle zusammen Frankreich wieder auf'.«
Die extreme Rechte Frankreichs ist zu dieser Zeit politisch und finanziell angeschlagen. Nicolas Sarkozy hat wie ein Staubsauger große Teile der Le-Pen-Wähler aufgesogen und herrscht unangefochten. Marine Le Pen, die in dem Arbeiterstädtchen Hénin-Beaumont am Ärmelkanal ihren bisher größten Wahlerfolg verzeichnet hat, bleibt – wohl auch mit Hilfe des Vaters – weiter in der Führungsriege der Partei. 2009 gewinnt sie gegen den Parteidissidenten Carl Lang erneut einen Sitz im Europaparlament. Im April 2010 kündigt der Patriarch an, auf dem nächsten Parteitag seine Ämter aufzugeben, im Januar 2011 ist es soweit. Zwei Kandidaten bewerben sich um die Nachfolge von Jean-Marie Le Pen: Marine Le Pen und Bruno Gollnisch. Gollnisch, Japanologe an der Universität von Lyon, ist dem rechten Flügel der Partei zuzuordnen und bekannt für seine antijüdische Haltung. Er kann sich im Gegensatz zu Marine Le Pen auf die rechtsextreme Presse stützen. Die Mitgliederversammlung in Tours spricht sich am Ende mit 67,6 Prozent für die Tochter des Patriarchen aus.
Ende 2011 beginnt der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl im folgenden Jahr. Im November präsentiert die neue Frontchefin ihr Programm. Kurzgefaßt geht es um ein Ende des Ultraliberalismus und der Globalisierung zugunsten einer Unabhängigkeit Frankreichs auf allen Gebieten. Gefordert wird ein Ende der Deindustrialisierung und der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, um den Franzosen wieder Vollbeschäftigung, einen ausgeglichenen Außenhandel und ein ebenso ausgeglichenes Staatsbudget zu verschaffen. Marine Le Pen fordert den Austritt Frankreichs aus der NATO und eine eigenständige Außen- und Verteidigungspolitik. Im Januar 2012 legt sie einen Fünfjahresplan zur Entschuldung Frankreichs vor. Kernpunkt ist die Forderung nach Austritt aus der Euro-Zone und Rückkehr zum französischen Franc. Am Ende der Kampagne erreicht Marine Le Pen im ersten Wahlgang den dritten Platz hinter François Hollande und Nicolas Sarkozy. Mit 17,9 Prozent übertrifft sie damit noch ihren Vater, der 2002 mit 16,8 Prozent nur Jacques Chirac unterlag.
Ein wichtiger Punkt zur »Entdämonisierung« der Partei ist die Hinwendung zur Republik. Während dem Vater das Wort »République« kaum über die Lippen kam, pocht die Tochter auf die wahren Werte eben dieser. Dazu muß man wissen, daß die Republik in Frankreich anders als in Deutschland eine geradezu sakrale Bedeutung hat. Die traditionellen französischen Ultrarechten waren zum Teil Monarchisten, Klerikale oder später Faschisten, die Revolution und damit auch die Republik wurden immer als Übel angesehen. Man sollte auch nicht vergessen, daß Frankreich unter Maréchal Philippe Pétain zwischen 1940 und 1944 die Republik abgeschafft hatte und sich schlicht »Etat français« nannte. Die Befreiung von der deutschen Besatzung ging daher mit der sofortigen Wiederherstellung der Republik einher. Die Rechtsextremen konnten sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg lange nicht mit der ungeliebten Staatsform abfinden und waren schon aus diesem Grunde marginalisiert. Erst über 50 Jahre später, im September 2006 machte Jean-Marie Le Pen in einer Rede an dem geschichtsträchtigen Ort Valmy seinen Frieden mit der Republik, die Rede stammte aus der Feder seiner Tochter.
Marine Le Pen setzt neue Akzente. Sie hat erkannt, daß neue Wählerschichten nur zu erreichen sind, wenn der Front National als »Partei wie die anderen« betrachtet wird. Sie wird öfter zu Fernsehauftritten eingeladen, und diese Bühne nutzt sie geschickt. Das politische Frankreich bereitet sich auf die Kommunalwahlen im Februar 2014 vor. Die regierenden Sozialisten und Präsident François Hollande liegen in den Umfragen bei mageren 30 Prozent, die abgewählte Sarkozy-Partei, Union für Volksbewegung (UMP), ist in zwei Lager gespalten und seit über einem Jahr vor allem mit sich selbst beschäftigt. Der stille Konsens aller Parteien, bei Wahlen den drohenden Sieg eines FN-Kandidaten zu verhindern, indem man zugunsten des stärksten Gegenkandidaten verzichtet, wird immer brüchiger. Die großen Erfolge des Front National, vor allem der Einzug in die Stichwahl bei der Präsidentschaftswahl 2002, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß der harte Kern der Le-Pen-Wähler bis vor kurzem recht überschaubar war. Die Franzosen sahen in den rechten Nationalisten mit ihrem provokanten Führer Jean-Marie Le Pen vor allem eine Möglichkeit, ihren Unmut, ihre Ohnmacht gegenüber den etablierten Parteien zum Ausdruck zu bringen. Das schlechte Abschneiden bei der Parlamentswahl 2007 war der Beweis, daß die meisten Wähler den Front National immer noch als Protestpartei sehen. Das war nicht nur eine politische Niederlage, immerhin mußte seinerzeit sogar die schicke Pariser Parteizentrale verkauft werden. Damals wurde die neue Linie festgelegt: Alles, was die Partei in Verruf bringen könnte, wird strikt unterbunden. Die martialischen Skinhead-Ordner wurden durch freundliche Saalwächter mit Anzug und Krawatte ersetzt, plumpe Neonazis ausgeschlossen und provokante Ausrutscher wie Le Pens Interview (»Die Gaskammern sind nur ein Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges«) sollte es auch nicht mehr geben. Auf der Suche nach Bündnispartnern hat Marine Le Pen bereits 2012 die »Marineblaue Vereinigung« (rassemblement bleu-marine) ins Leben gerufen, eine Organisation, die aus allen politischen Schattierungen jene rekrutieren soll, die im weitesten Sinne mit den politischen und sozialen Zielen des FN sympathisieren. Anfang 2013 unternimmt die Frontfrau diverse Reisen durch ganz Frankreich, um den zukünftigen Wählern näher zu kommen. Die Partei nennt diese Reisen eine »tour de France des oubliés«, einen Besuch bei den Vergessenen der Gesellschaft, den »normalen« Leuten in den Arbeitervierteln der Vorstädte und auf dem Land.
Die Hochburgen der Partei sind seit jeher die Departements im Norden, wo es durch Betriebsstillegungen und Entlassungen viele Arbeitslose gibt, aber auch entlang der gesamten Mittelmeerküste. Dort besteht das Wählerreservoir hauptsächlich aus den »pieds noirs«, den Schwarzfüßen, wie man die in den 1960er Jahren dort angesiedelten Algerienfranzosen der ersten und zweiten Generation nennt. Schließlich die dritte Hochburg: das Elsaß. Hier sind die Ursachen vielfältiger. Die im Vergleich zu anderen Teilen des Landes recht wohlhabende Region ist konservativ-ländlich geprägt. Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2012 lag hier Marine Le Pen mit 22,1 Prozent hinter dem Wahlverlierer Nicolas Sarkozy, aber vor François Hollande mit 19,3 Prozent.
Und die Linke? Sie ist durch die neue Strategie der FN-Chefin in die Defensive geraten. Bei der letzten Parlamentswahl im Juni 2012 wollte Jean-Luc Mélenchon, ehemaliger Kandidat der Linksfront, Marine Le Pen in deren Wahlkreis in Nord Pas-de-Calais schlagen. Im ersten Wahlgang erhielt die FN-Präsidentin 42,4 Prozent der Stimmen, der Kandidat der Sozialisten 23,5 und Mélenchon 21,5 Prozent. Erst im zweiten Wahlgang wurde Le Pen knapp von dem Kandidaten der Sozialisten geschlagen. Viele der Forderungen des Front National stehen auch im Programm der Linken. Beide Parteien wollen Arbeitsplätze für Franzosen schaffen, indem sie die Produktionsverlagerungen ins Ausland rückgängig machen wollen. Bei der FN freilich sollen davon nur echte Franzosen profitieren. Die traditionelle Forderung der Linken nach internationaler Solidarität ist kaum noch zu vermitteln, sie ist schon verwirklicht: Allerdings von der Gegenseite, dem internationalen Finanzkapital. In Frankreich empfinden viele Bürger die Globalisierung eher als Gefahr denn als Chance. Kaum einer kann und will seiner ausgelagerten Firma nach Marokko oder Rumänien folgen. Man wird gegen seinen Willen zum überall verfügbaren Weltbürger erklärt und verliert seine Identität, seine Definition, seine Wurzeln. Es ist deshalb kein Wunder, daß die nationale Identität wieder eine Rolle spielt. Es entsteht eine heimliche Sehnsucht nach einem Frankreich, das es nicht mehr gibt. Nach einem Staat, der die Arbeitsplätze ins Land zurückholt und die Grenzen kontrolliert. Traditionsreiche Firmen wie Renault und Peugeot haben längst den Großteil der Produktion ins Ausland verlagert, selbst die urfranzösischen Gauloises sind seit 2008 Teil eines britischen Tabakimperiums. Wie schrieb das Linksbündnis in seinem Wahlprogramm zur Präsidentschaftswahl? »Wir wollen das industrielle Potential Frankreichs wieder herstellen und weiterentwickeln ... Wir weigern uns, die industriellen Bestrebungen auf einige Spitzenbereiche zu beschränken und wollen wieder ein diversifiziertes industrielles Netz aufbauen«. So oder so ähnlich steht es auch in den Forderungen des Front National.
Im Dezember 2010 kritisierte Laurence Parrisot vom französischen Arbeitgeberverband das Wirtschafts- und Sozialprogramm der Le-Pen-Partei als demagogisch und gefährlich. In einer Presseerklärung antwortete Marine Le Pen dahingehend, daß der FN kein Freund des CAC 40 (das französische Pendant zum DAX) sei und man den vom Arbeitgeberverband geforderten Sozialabbau bekämpfe. Es scheint so, als ob der rechte Igel längst dort ist, wo der linke Hase gerade ankommt.
Die französische Ausprägung der »nationalen Rechten«, wie sich die Partei selbst nennt, unterscheidet sich in vielen Dingen von den rechtsextremen Parteien in Europa. Ihre Wähler aber haben vieles gemeinsam: Das Unbehagen, in einer alternativlosen fremdbestimmten Gesellschaft zu leben, das Mißtrauen gegenüber den etablierten Parteien und nicht zuletzt die große Furcht vor dem Verlust der eigenen Identität. In dreieinhalb Jahren beginnt der französische Präsidentschaftswahlkampf. Die Zersplitterung der ehemaligen Sarkozy-Partei UMP könnte dazu führen, daß man sich nach einem Erfolg von Marine Le Pen gezwungen sieht, nach dem einen zugkräftigen Gegenkandidaten zu rufen. Die einzige Medizin gegen Marine Le Pen könnte am Ende Nicolas Sarkozy heißen.