Bei der nun angelaufenen Erinnerungsarbeit an den »Ausbruch« des Ersten Weltkrieges heben Politiker gern hervor, welch ein Fortschritt da doch erzielt sei: Damals ein bornierter und in den Krieg schlitternder Nationalismus der Staaten in Europa, heute eine friedliche und gedeihliche Europäische Union. Aber war das wilhelminische Deutschland wirklich nur von patriotischem Überschwang geleitet? Oder verfolgte es nicht vielleicht auch – oder vor allem – kriegerische Interessen? Der Historiker Gerd Fesser informiert darüber in seinem neuen Buch. (Ergänzend bietet sich von demselben Autor an: »Herrlichen Zeiten führe Ich euch entgegen!«, 2009 beim Donat Verlag in Bremen erschienen.) Deutschland begehrte einen »Platz an der Sonne«, das bedeutete Expansion. Nicht nur an die Inbesitznahme weiterer Kolonien war gedacht, sondern an Ausdehnung wirtschaftlicher und politischer Herrschaft in Europa. Belgische und französische Ressourcen waren im deutschen kriegerischen Blick, und auch das Baltikum sowie die Ukraine. Interessant sind die unterschiedlichen imperialen Strategien, wie sie im Ersten Weltkrieg von »Fraktionen« des deutschen Kapitals entworfen wurden: Die einen verlangten eine direkte Einverleibung nichtdeutscher Gebiete; andere forderten, nicht so traditionalistisch planend, eine indirekte Unterwerfung, einen »europäischen Wirtschafts- und Verwaltungsraum« unter deutscher, »mitteleuropäischer« Führung, der wiederum sollte dann ausgreifen nach Vorderasien und Afrika. Daß für solchen Machtgewinn militärische Mittel einzusetzen seien, galt als »natürliches« Recht. Nur ein historischer Stoff? Er hat seinen Bezug zur aktuellen Politik in Europa.
Gerd Fesser: »Deutschland und der Erste Weltkrieg«, PapyRossa Verlag, 124 Seiten, 10,20 €