Einen »Gefühlssozialisten« nannte er sich. Als William Winpisinger 1977 Vorsitzender einer der bedeutendsten nordamerikanischen Gewerkschaften wurde, erregte das im politischen Washington und unter uns Auslandsjournalisten Aufmerksamkeit – auch deshalb, weil das Gefühls-Sozialistische nach der Wahl nicht verschwand. Da leitete nun jemand die eine Million (US-amerikanische und kanadische) Mitglieder starke Vereinigung der Maschinen- und Raumfahrtindustriearbeiter IAM (vergleichbar mit der IG Metall), der nicht nur Visionen von Gerechtigkeit und Abrüstung hatte, sondern sie auch durchsetzen wollte, der die USA einen »Staat der Unternehmer« nannte, die Nationalisierung von Banken, Kraftwerken, der Erdölindustrie und der Bahn verlangte, sich folgerichtig mit der Führung der AFL/CIO, des mitgliederstärksten US-Gewerkschaftsdachverbands unter George Meany, anlegte und es als »Verpflichtung« bezeichnete, die »Rechtslastigkeit« der US-Gewerkschaften zu bekämpfen. Selbst der New York Times fiel auf, daß Winpisinger nicht in eine Zeit zu passen schien, »in der manche der obersten Gewerkschaftsführer am Verhandlungstisch kaum von Unternehmervertretern zu unterscheiden waren«.
Eines der Ziele des neuen Gewerkschaftsvorsitzenden war: Die Maschinenbauer-Union sollte ein aktiver Teil der Abrüstungsbewegung werden. Aus zwei Gründen: Die hunderte Milliarden Dollar Rüstungsausgaben würden fehlen, wenn es um höhere Löhne, gute Sozialleistungen und die Verbesserung der maroden Infrastruktur ginge. Zweitens war da Präsident Eisenhowers Abschiedsrede vor dem US-Kongreß 1961 mit der Warnung vor dem »militärisch-industriellen Komplex«, der »unsere Freiheiten, unsere demokratischen Prozesse gefährdet«. Hier fühlte sich William Winpisinger verantwortlich, denn in der IAM war ein Großteil der Beschäftigten der US-Rüstungsindustrie organisiert.
Genau das aber war auch der Grund, warum eine Umwandlung der Rüstungs- in eine Friedensindustrie in den eigenen Reihen auf Widerstand stieß. Die Mehrzahl der Kollegen befürwortete zwar Abrüstung, aber die Furcht war groß, in einem Konversionsprozeß den Arbeitsplatz zu verlieren. Winpisinger machte sich, wie er sagte, »an die schwierige Arbeit, die Notwendigkeit des Broterwerbs mit der Sehnsucht nach Frieden und Einstellung des Wettrüstens in Einklang zu bringen«. Er wisse: »Noch träume ich einen unerhörten Traum – aber er muß Realität werden.«
Winpisinger setzte Rechercheteams ein, beauftragte unabhängige Wissenschaftler und arbeitete mit Friedensgruppen zusammen, um Argumente für einen erfolgreichen Umbau der Kriegs- zur Friedensindustrie zu finden. Die Ergebnisse verbreitete er in Artikeln, auf Gewerkschaftskongressen, in Büchern und auf Kundgebungen. So konnte ich im September 1981 in Washington eine beeindruckende Demonstration gegen Sozialabbau und Aufrüstung von mehr als 400.000 Gewerkschaftern miterleben. Ein Marschblock aus etwa 10.000 Mitgliedern der Maschinenbauer-Gewerkschaft lief damals hinter dem riesigen Transparent »Jobs statt Bomben«, und Winpisinger forderte von der Regierung Reagan, im Interesse von Wohlstand und Frieden sofort abzurüsten.
Hier einige von Winpisingers Gründen für den Übergang zu einer Friedensindustrie:
Rüstung benötigt wegen der hohen Automatisierung weit weniger Arbeitsplätze als jede andere durch Regierungsprogramme geförderte Industrie.
Pro eine Milliarde Dollar sichert die Friedensindustrie mindestens 6000 Arbeitsplätze mehr. Der US-Wehretat lag Anfang der 1980er Jahre bei knapp 200 Milliarden Dollar. 200 mal 6000 wären 1,2 Millionen Arbeitsplätze, so seine Rechnung. (Bis heute vervierfachte sich der Wehretat auf mehr als 700 Milliarden Dollar.)
Die Kosten von zehn Milliarden Dollar für nur zwei der 13 Flugzeugträger würden reichen, um 2,4 Milliarden Menschen weltweit mit Trinkwasser zu versorgen.
Die Umstellung der Rüstungsproduktion brächte Vollbeschäftigung, wirtschaftliche Stabilität und größere nationale Sicherheit im Gegensatz zur Rüstungsindustrie, die Kriege braucht.
Eine Milliarde Dollar für die Produktion lenkbarer Raketen schafft 20.700 Arbeitsplätze – in der Stahlproduktion wären es 34.700, im Gesundheitswesen 54.260 und in der Bildung 71.550 neue Jobs.
Allein zwei der Hubschrauberprojekte für Armee und Marine, die 59 Milliarden Dollar verschlingen, würden reichen, um 600.000 Häuser für wohnungslose Familien zu finanzieren.
Winpisinger war zwölf Jahre lang Gewerkschaftsvorsitzender und starb 1997. Am 10. Dezember 2014 wäre er 90 Jahre alt geworden. Er war ein Gewerkschaftsführer, der den Kampf für eine friedliche Welt niemals aufgegeben hat, denn in seinen Augen führte jeder Rüstungsdollar zu mehr Unsicherheit und Unrecht. Trotz aller Anstrengungen konnte er seine Vision nicht verwirklichen. Angesichts eines von den USA ausgerufenen und von der NATO unterstützen »permanenten Krieges« scheint sie weiter von der Realität entfernt denn je.
Doch es gibt Menschen, die Winpisingers Kampf fortsetzen – in den Gewerkschaften, an Universitäten und in politischen Gremien. So hat das Parlament des Bundesstaates Connecticut 2013 vom Gouverneur unter Berufung auf eine Volksabstimmung ein Gesetz zur Bildung einer Kommission zur Konversion der Kriegsindustrie gefordert. In dem nicht nur von der Maschinenbauer-Gewerkschaft, sondern auch von AFL/CIO unterstützten Referendum hatte eine Mehrheit von über 80 Prozent der Abstimmenden verlangt, »das Kriegsgeld für Jobs zum Aufbau unserer Infrastruktur und für die Bedürfnisse der Menschen zu verwenden«.
Zu den »Erben« Winpisingers gehört auch Bernie Sanders aus Vermont, eine Ausnahmeerscheinung unter den 100 Senatoren in der wichtigsten US-Parlamentskammer. Anfang Dezember 2014 wies er vor dem Senat in Washington auf die hohe Arbeitslosigkeit der US-Jugend (18,6 Prozent) und besonders der jungen Afroamerikaner (über 30 Prozent) hin. »Heute gibt es in den USA mehr Armut als zuvor«, sagte der 2006 als Unabhängiger gewählte und 2011 mit 71 Prozent wiedergewählte US-Senator. Die für den Irakkrieg verpulverten 1000 Milliarden Dollar hätten »13 Millionen Arbeitsplätze mit anständigen Löhnen« schaffen können. Die USA sollten endlich aufhören, in Kriege zu investieren.
Genüßlich berichteten Medien, nur eine einzige Senatorin – Elizabeth Warren – habe Sanders zugestimmt. Doch der will sich nicht beirren lassen und denkt darüber nach, in zwei Jahren als Präsidentschaftskandidat und »unabhängiger Sozialist« den Wahlkampf ein wenig aufzumischen – auch im Sinne von William Winpisinger und der Verwirklichung seines »unerhörten Traums«.