Als im Sommer 2014 Kämpfer der islamistischen Miliz »Islamischer Staat« im Irak und der Levante« in den Norden Iraks vorstießen, avancierten sie auf einen Schlag zur neuen, alles bedrohenden Terrorgefahr. Solange die in der Region meist noch mit ihrem bisherigen Namen »Islamischer Staat im Irak und der Levante« (ISIL oder arabisch Daish) bezeichneten Dschihadisten ihre Blutspur allein in Syrien zogen, hatten die NATO-Staaten sie nur verbal verurteilt, faktisch aber weiterhin ‒ als Teil der gegen die Assad-Regierung kämpfenden Allianz ‒ unterstützt. Zum Ungeheuer, gegen das jedes Mittel legitim ist, wurde ISIL erst, als seine Vorstöße die nordirakischen Öl- und Gasfelder bedrohten, auf denen westliche Ölkonzerne aktiv sind.
Der Vorläufer von ISIL entstand ab 2003 im besetzten Irak, als El-Kaida-nahe Extremisten aus zahlreichen islamischen Ländern ins Land strömten und bewaffnete Gruppen gegen die Besatzer aufbauten. Die meisten von ihnen hatten ihre Kampferfahrung in Afghanistan gesammelt, viele ihrer Anführer waren von der CIA ab 1979 als Mudschaheddin für den Kampf gegen die damalige Linksregierung und die sie unterstützenden sowjetischen Truppen ausgebildet worden. Andere hatten zuvor mit direkter oder indirekter Unterstützung westlicher Staaten in Tschetschenien oder Bosnien gekämpft. Die verschiedenen Gruppen schlossen sich 2005 im »Schura-Rat der Mudschaheddin im Irak« zusammen, der 2006 die Errichtung eines »islamischen Staates im Irak« (ISI) ausrief.
Bis dahin waren El-Kaida-nahe Gruppen im Irak völlig unbekannt gewesen. Sie fanden nun in den mehrheitlich sunnitischen Provinzen des zerstörten Landes, dessen Gesellschaft durch die beiden US-geführten Kriege und das mörderische Embargo völlig zerrüttet war, zeitweilig Akzeptanz und einen gewissen Zulauf. Dies wurde begünstigt durch die sektiererische Teile-und-herrsche-Strategie der Besatzer, die ein schiitisch-islamistisches Regime installierten und vor allem gegen sunnitische Besatzungsgegner mit brutaler Härte vorgingen. Die Großstadt Falludscha, 2004 durch zwei Angriffe von US-Truppen weitgehend zerstört, wurde zum Guernica der arabischen Welt.
Als in der Folge der patriotische Widerstand vor allem in den sunnitischen Gebieten rasch wuchs, investierte Washington, wie der britische Guardian und die BBC 2013 berichteten, acht Milliarden Dollar in den Aufbau von Spezialkommandos und Todesschwadronen, überwiegend aus den Reihen radikal-schiitischer Milizen. Mit deren Hilfe führten die Besatzer ab 2005 unter Leitung von US-General David Petraeus einen schmutzigen Krieg gegen die gesamte Bevölkerung der Zentren des Widerstands. »Die sunnitische Bevölkerung zahlt für die Unterstützung der Terroristen keinen Preis«, zitierte Newsweek 2005 einen Offizier aus dem Pentagon. »Aus ihrer Sicht ist das kostenlos. Wir müssen diese Gleichung ändern.« Der schmutzige Krieg eskalierte im Zusammenspiel mit dem Terror der El-Kaida-nahen Gruppen ab 2006 zu einer Welle religiös motivierter Gewalt, die erst 2008 nach der Vertreibung der jeweiligen lokalen Minderheiten abebbte. Hunderttausende Tote und Millionen Flüchtlinge waren die Folge. Die repressive, diskriminierende Politik der Besatzer wurde jedoch unter den folgenden irakischen Regierungen fortgesetzt.
Aufgrund ihrer salafistischen Zielsetzung und ihren inakzeptablen Kampfmethoden war die Akzeptanz des ISI innerhalb der sunnitischen Bevölkerung bald geschwunden. Ab 2006 wurden er von Widerstandsgruppen und sunnitischen Bürgerwehren, die von den Besatzern Sold und Ausrüstung dafür erhielten, aktiv bekämpft und schließlich weitgehend zerschlagen. Ende 2010 war die Stärke von ISI auf maximal 1000 Kämpfer geschrumpft.
Der Krieg der NATO gegen Libyen und der von den USA und den EU-Staaten angefeuerte Aufstand in Syrien schufen jedoch bald die Basis für ein Revival dieser und anderer dschihadistischer Organisationen. Die USA, Großbritannien und Frankreich hatten 2011 im Krieg gegen die zu selbständig agierende Regierung Libyens Zehntausende Islamisten ausgerüstet und teils auch ausgebildet. Nach dem Fall von Tripolis und der Ermordung von Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi zerfiel der Staat, der seinen Bürgern bis dahin den höchsten Lebensstandard in Afrika geboten hatte, in die Herrschaftsbereiche Hunderter Milizen. Ein erheblicher Teil der Waffen, die ihnen beim Zusammenbruch des Staates in die Hände fielen, und Tausende Kämpfer gelangten bald über Jordanien und die Türkei nach Syrien. Auf demselben Weg strömten auch Kämpfer aus Afghanistan, Irak, Tschetschenien und vielen anderen Ländern nach Syrien, um das ihnen verhaßte, weitgehend säkulare Regime zu stürzen. Geld, Waffen und Material flossen aber auch aus den USA und den Golfstaaten an die aufständischen Gruppen. Offiziell waren sie für die »moderaten Aufständischen« bestimmt, vor Ort gab es jedoch so eine klare Trennung zwischen »moderaten« und radikalen Islamisten nie. Der größte Teil ging, wie auch ein erheblicher Teil der Kämpfer, zu den Gruppen über, die sich als am schlagkräftigsten und finanzstärksten erwiesen ‒ und dies waren der El-Kaida-Ableger »Al-Nusra-Front« und ISI, der sich mit dem Namenszusatz »und der Levante« nach Syrien ausgedehnt hatte.
Offensichtlich ist ISIL ein weiteres Terror-Produkt der Kriege und Interventionen der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak, Afghanistan, Somalia, Libyen und Syrien, die mit der Zerschlagung oder Destabilisierung dieser Staaten und der Zerstörungen ihrer Gesellschaften einhergingen. Seine erneute Ausbreitung im Irak wurde durch den Aufstand weiter Teile der Bevölkerung in den sunnitischen Gebieten ermöglicht, der sich infolge der militärischen Niederschlagung einer gewaltfreien Protestbewegung im Norden und Westen des Landes ausgebreitet hat.
Aufgebaut, wie so viele andere islamistische Gruppen, zum Sturz eines unliebsamen Regimes, wurde auch er zum zu bekämpfenden Monster. Nun dient er ‒ zur Inkarnation des Bösen hochstilisiert ‒ als Vorwand für die erneute Eskalation des Krieges im Irak und die direkte militärische Intervention in Syrien.
Die Präsenz von ISIL und anderer solcher Milizen läßt sich nur eindämmen durch das Ende ihrer Unterstützung und der Umsturzbemühungen in Syrien sowie die Einstellung der Unterstützung des sektiererischen Regimes in Bagdad und die Erfüllung der legitimen Forderungen der sunnitischen Opposition.
Der australische Journalist und Dokumentarfilmer John Pilger zieht eine Parallele zur fürchterlichen Bombardierung Kambodschas von 1963 bis 1973, bei der laut Anordnung Richard Nixons »alles was fliegt auf alles was sich bewegt« feuern sollte. Sie führte zu einer massiven Stärkung der Roten Khmer, die später für ihre Greueltaten berüchtigt wurden.
»Die Invasion von Bush und Blair im Irak 2003 führte zum Tod von über 700.000 Menschen, in einem Land, das keine dschihadistische Tradition hatte«, so Pilger. »Sunniten und Schiiten hatten Klassen- und konfessionelle Differenzen, lebten jedoch in Frieden miteinander, Mischehen waren häufig.« Drei Jahre vor der Invasion sei er ohne Furcht quer durchs Land gereist und habe überall Leute getroffen, die sich in erster Linie als Iraker sahen, stolz auf das lange zivilisatorische Erbe, das für sie noch präsent war. »Bush und Blair hauten alles in Stücke. Der Irak ist nun ein Hort des Dschihadismus. ISIL ist die Nachkommenschaft jener in Washington und London, die bei der Zerstörung des Iraks, sowohl als Staat als auch als Gesellschaft, konspirierten, um ein episches Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen. Wie Pol Pot und die Roten Khmer ist ISIL die Mutation eines westlichen Staatsterrorismus.« (http://johnpilger.com)
Weitere Beiträge zum Thema mit Quellenangaben sind Joachim Guilliards Blog »Nachgetragen« unter http://jghd.twoday.net/ zu entnehmen.