Der 17. Dezember ist in Kuba ein besonderes Datum. Zehntausende pilgern jedes Jahr an diesem Tag nach Rincón, einem kleinen Dorf, das in der Nähe des Ortes Santiago de las Vegas liegt, rund 25 Kilometer südlich vom Zentrum Havannas. In der dortigen Kirche bitten Katholiken, Anhänger der afrokubanischen Santeria-Religion und sogar Atheisten den Heiligen Lazarus (San Lázaro), der von den Santeros Babalú Ayé genannt wird, um Schutz oder danken für die Erfüllung ihrer Wünsche. Babalú Ayé, dem große Macht zugeschrieben wird, ist einer der meistverehrten Heiligen Kubas.
Ob es Zufall ist, daß die Präsidenten Raúl Castro (Kuba) und Barack Obama (USA) genau an diesem – in Kuba so wichtigen – Tag zur gleichen Zeit in Fernsehansprachen ein »neues Kapitel« der Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern ankündigten, wird vermutlich ein Geheimnis bleiben. Gegen Mittag deutscher Zeit – in Kuba ist es noch früher Vormittag – hatte es erste Gerüchte gegeben. Der US-Agent Alan Gross und ein weiterer in Kuba inhaftierter Top-Spion der USA sollen freigelassen worden sein, hieß es. Im Gegenzug seien die drei noch in den USA festgehaltenen Mitglieder der Aufklärergruppe »Cuban Five« – nach über 16 Jahren Gefängnis – auf dem Weg in ihre Heimat. Kurz darauf bestätigten Castro und Obama die Meldungen. Ramón Labañino, Antonio Guerrero und Gerardo Hernández sind frei. Der kubanische Präsident bestätigt, daß Washington und Havanna wieder diplomatische Beziehungen aufnehmen und »in den kommenden Monaten« Botschaften eröffnen wollen. Obama gesteht ein: »Die Isolation Kubas hat nicht funktioniert.« Es ist das Eingeständnis einer gescheiterten Politik, nicht aber eine Abkehr von deren Zielen. Die Blockade gegen die sozialistische Karibikinsel, die am 5. März 1996 zum Gesetz erhoben wurde und nur vom Kongreß gekippt werden kann, bleibt bestehen. Im US-Haushalt 2015 sind weiterhin Millionenbeträge für subversive Aktionen enthalten, mit denen in Kuba ein Systemwechsel befördert werden soll. Die Obama-Administration hat dem internationalen und dem zunehmenden Druck im eigenen Land nachgegeben, aber vom Saulus zum Paulus ist in Washington niemand geworden. Dennoch fließen in Havanna Glückstränen.
»Unsere Brüder sind zurück. Was für eine unbeschreibliche Freude. Vielen Dank für die Solidarität der letzten Jahre«, schreibt Maikel Veloz vom Institut für Völkerfreundschaft (ICAP) an Freunde und Unterstützer in der Bundesrepublik. Durch einen Anruf aus dem feuchtkalten Hamburg bei Freunden in Havanna erfahre ich mehr. Nach der Ankunft war von den Freigelassenen zunächst nur eine Audio-Botschaft im Radio übertragen worden: »Die Gefühle? Was soll ich sagen? Sie sind unbeschreiblich. Wir sind hier und kämpfen weiter«, erklärt Antonio Guerrero. »Dank eurer Solidarität sind wir wieder zu Hause«, ergänzt Ramón Labañino. Und auch Gerardo Hernández, der nach dem Willen seiner Richter im US-Gefängnis hatte sterben sollen, bedankt sich bei Freunden und Genossen in aller Welt: »Ich umarme euch alle!« In der 23. Straße (La Rampa) demonstrieren Studenten mit kubanischen Fahnen, lachen und tanzen, berichtet mein Gesprächspartner aus der kubanischen Hauptstadt. Zur gleichen Zeit liegen sich in dem 40 Kilometer von Havanna entfernten Internationalen Camp »Campamento Internacional Julio Antonio Mella« 70 ICAP-Gäste aus verschiedenen Ländern Nordeuropas und ihre kubanischen Gastgeber in den Armen. Auch hier fließen Freudentränen.
Als ich die Berichte aus Havanna höre und lese, denke ich an mein letztes Gespräch mit Fernando González, das ich genau sieben Wochen vor diesem 17. Dezember 2014 geführt hatte. Die Freiheit seiner drei Kampfgefährten sei eine der Voraussetzungen für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA, hatte er mir gesagt. Einen Tag zuvor hatte Oscar Martínez Cordovés, der stellvertretende Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kubas, mich in unserem Gespräch noch vor Illusionen gewarnt: »Die US-Regierung hat ihr Ziel eines Systemwechsels in Kuba nicht aufgegeben.« Diese Aussage stimmt auch heute noch.
Für Havanna sind die Ankündigungen Obamas, der nun eine Chance hat, als ein Präsident in die Geschichte einzugehen, der neben Drohnenmorden, NSA-Überwachung, Konfrontation zu Rußland und neuen Kriegen zumindest in der Kuba-Politik sein Wahlversprechen eingelöst hat, trotzdem ein politischer Erfolg. Sollte Washington tatsächlich einige Handelsbeschränkungen und das Reiseverbot für US-Bürger lockern, dürfte das zudem in der derzeitigen Phase gesellschaftspolitischer Veränderungen ökonomische Entlastung bringen. Die Gefahr einer tödlichen Umarmung wird dabei in Kuba nicht übersehen. In Politik und Medien macht sich niemand Illusionen darüber, daß Washington, wenn es von Entspannung redet, lediglich eine günstigere Position sucht, um dem erklärten Gegner das Messer in den Rücken zu stoßen. Kuba fühlt sich derzeit offenbar stark genug, um dieses Wagnis einzugehen. Havanna, das im Dezember 2014 in einer globalen Abstimmung zu den sieben urbanen Weltwundern gewählt wurde, wird damit neben seiner Schönheit, kulturellen Vielfalt und fesselnden Geschichte, in den kommenden Jahren vermutlich zur politisch interessantesten und dynamischsten Stadt der Welt werden.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem soeben im Verlag Ossietzky erschienenen Buch »Havanna. Kultur – Politik – Wirtschaft« von Volker Hermsdorf, 108 Seiten, 10 €.