Was für ein faszinierendes Land! Ein wachsender Strom von Touristen aus aller Welt kommt nach Vietnam, um wunderschöne Landschaften, schwimmende Märkte, wahre Kulturjuwelen und die pulsierenden Metropolen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt zu besichtigen. Reisende, die sich mehr auf das Land und die Menschen einlassen wollen, tuckern zu den Bergvölkern im Norden oder zu Dörfern im Mekong-Delta, wandern in einem Urwald-Reservat oder machen in einer Stadt Station, in die sich mangels spektakulärer Attraktionen kein Tourist verirrt. Und sie freuen sich über Begegnungen mit freundlichen, aufgeschlossenen Menschen und genießen die Düfte und Gaumenfreuden in Fischkneipen und an Marktständen. Aber Vietnam – war da nicht mal ...
Vor 60 Jahren begannen die USA einen Krieg gegen Vietnam. Vor 50 Jahren erfolgte eine massive Ausweitung durch Flächenbombardements und Bodentruppen – in der Hauptphase des Krieges über eine halbe Million US-Soldaten. Vor 40 Jahren, nach grauenhaften Zerstörungen und einem militärischen und moralischen Desaster für die Vereinigten Staaten, wurde ein Friedensabkommen geschlossen.
Auch der Vietnamkrieg der USA begann – wie der Zweite Weltkrieg, der Jugoslawienkrieg der NATO oder der Irakkrieg – mit einer Lüge, die sich auf die falsche Berichterstattung der Geheimdienste NSA und CIA stützte. Der vorgetäuschte »Tonkin-Zwischenfall« diente der Regierung und dem Kongreß als Grundlage einer Blankovollmacht für den Überfall der US-Truppen ohne Kriegserklärung. Selbstverständlich für die »Verteidigung der Freiheit«, wie es in der Resolution des Kongresses hieß.
Den Älteren sind die Namen vietnamesischer Städte und Regionen aus den täglichen Nachrichten in den 1960er und 70er Jahren noch im Ohr: Da Nang und Hue, Haiphong, Mekong-Delta und 17. Breitengrad. Entsetzliche Bilder von Flächenbombardements, von napalmverbrannten Menschen, Folter, Erschießung und Massakern, die als militärische Erfolge in den Nachrichten vermeldet wurden. Das Hinschlachten von 504 Menschen, zumeist Alte, Frauen und Kinder, in dem Dorf My Lai, wurde zunächst in der perversen Logik des Body Count als Erfolg gegen Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront (FLN) ausgegeben. Allerdings bekannten US-Army-Veteranen später, daß Massenmorde an der Tagesordnung gewesen waren, in Hunderten von Fällen ähnlich wie in My Lai.
In einem Museum in Ho-Chi-Minh-Stadt kann man erschreckende und aufwühlende Bilder von Fotografen aus verschiedenen Ländern sehen, die dann selbst im Krieg in Vietnam getötet wurden; viele ihrer Fotos haben sich tief ins Gedächtnis eingebrannt – weshalb Journalisten danach nur noch »embedded« von Kriegsschauplätzen berichten durften. Eigentlich hatte der US-Einsatz schon nach Frankreichs 1954 bei Dien Bien Phu verlorenem Indochinakrieg begonnen, mit Sabotageakten der CIA und Operationen der siebten US-Flotte. Der Vernichtungskrieg gegen Vietnam umfaßte dann den Zeitraum von zehn Jahren, von 1965 bis zum Friedensvertrag 1975. Vernichtungskrieg, weil die Zivilbevölkerung am meisten betroffen war und weil die kriegerischen Maßnahmen darauf zielten, mit allen erdenklichen und verfügbaren Waffen Terror zu verbreiten, auch mit Napalm und Gift und gezielter Vernichtung der Lebensmittelversorgung.
Wie Spiegel online nach der Veröffentlichung von Tonbandprotokollen schrieb, hat 1972 Präsident Nixon auch den Einsatz von Atombomben erwogen: »Kraftwerke und Häfen sollten vermehrt angegriffen werden. Offenbar mit den Mitteln konventioneller Kriegsführung nicht zufrieden, sagte Nixon laut Gesprächsmitschnitt: ›Ich würde eher die Atombombe einsetzen.‹ Kissinger antwortete: ›Ich denke, das wäre zu viel.‹«
Der ehemalige Sicherheitsberater und US-Außenminister Henry Kissinger gab sich sonst nicht so zurückhaltend. Er war es, der für die Ausweitung des Krieges auf die Nachbarstaaten Laos und Kambodscha sorgte. Er ließ es sich nicht nehmen, so Konrad Ege im Freitag 43/14, Bombenziele selbst auszuwählen. Über die Bombenangriffe auf Kambodscha habe er sich richtig gefreut – die B52-Bomber verübten tagein, tagaus Massaker an der Zivilbevölkerung. Nach Schätzungen kosteten dort die massiven Bombardements eine Million Menschen das Leben. Der Historiker Christopher Hitchens begründete in seinem von Peter Torberg und Jürgen Bürger ins Deutsche übersetzten Werk »Die Akte Kissinger« detailliert, weshalb die Beweismittel gegen den ehemaligen Außenminister allemal für eine Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof ausreichen. Statt dessen wurde Kissinger mit dem Friedensnobelpreis geehrt und mit weiteren Preisen überhäuft, unter anderem mit dem Friedenspreis der Münchner Sicherheitskonferenz, mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und dem Aachener Karlspreis. Aktuell sorgt an der Universität Bonn eine vom Verteidigungsministerium finanzierte Henry-Kissinger-Professur für Internationale Beziehungen und Völkerrechtsordnung für heftige Kritik.
Statistische Zahlen, die das Grauen nicht zu fassen vermögen: 14 Millionen Tonnen Bomben warfen die USA auf Vietnam ab, zum Großteil gegen Zivilbevölkerung. 80 Millionen Liter Gift wurden versprüht, um Wälder zu entlauben und Nutzpflanzen zu zerstören. 400.000 Tonnen Napalm regneten auf Menschen, auf Dörfer. Die US-Soldaten hatten zu Beginn ihres Einsatzes ein Heftchen bekommen, in dem ihnen eingeprägt werden sollte, daß sie nach Vietnam gingen, um ganz Südostasien von der kommunistischen Aggression zu befreien. Um sie vor dem Kommunismus zu retten, wurden in Vietnam drei Millionen Menschen getötet. Zwei Drittel von ihnen waren Zivilisten. Millionen von Menschen wurden nach einer kalten Militärlogik strategischen Interessen geopfert. Zerbomben einer alten Kultur, gezielte Vernichtung natürlicher Ressourcen. General Curtis LeMay, Kommandeur des Strategischen Luftwaffenkommandos, wollte das Land in die Steinzeit zurückbomben. Nationale Interessen eines Imperiums waren offensichtlich höherwertig, sie rechtfertigten jegliches Morden und Zerstören. 1967 verurteilte das Internationale Russell-Tribunal die US-Aggression als Kriegsverbrechen: The United States Government [is] guilty of genocide against the people of Vietnam.«
Vietnam war 1975 zerstört, von Giften wie Agent Orange verpestet. Die 600.000 Tonnen Blindgänger töteten auch nach dem Krieg noch Zehntausende. Das dioxinhaltige Gift Agent Orange und zahlreiche andere Stoffe hatten nach Feststellung eines internationalen Tribunals eine ökologische Katastrophe angerichtet. Agent Orange war übrigens von Dow Chemical hergestellt und geliefert worden, die Bayer AG und Boehringer Ingelheim waren gleichfalls beteiligt. Das Gift hatte auch US-Soldaten nicht verschont. 200.000 von ihnen erkrankten. Aber während die US-Regierung den eigenen Veteranen Entschädigung von rund 200 Millionen Dollar zusprach, konnten die Millionen Geschädigten in Vietnam nicht mit Hilfe rechnen: Ein Zusammenhang zwischen Agent Orange und den Schädigungen sei nicht erwiesen, der Einsatz des Giftes keine chemische Kriegsführung gewesen und insofern kein Verstoß gegen internationales Recht. Inzwischen leiden Menschen in Vietnam in der dritten Generation an den Folgen, besonders Fehlbildungen, Krebs und Immunschwäche.
Dennoch entsteht bei einem Besuch in Vietnam der Eindruck: Dieses Land hat es geschafft, nach einhundert Jahren französischer Kolonialunterdrückung und einem entsetzlichen Vernichtungskrieg der USA gegen die »communist aggression« mit viel Energie und Selbstbewußtsein eine neue Identität zu entwickeln. Psychologisch ist es schier unvorstellbar, aber anscheinend haben die Menschen das Trauma der allgegenwärtigen Existenzbedrohung und -vernichtung durch die täglichen Flächenbombardements, durch Massaker, Gift und Folter einer imperialen Großmacht bewältigt. Grundlage dafür war sicherlich die Tatsache, daß das Volk die Befreiung selbst erkämpft hatte.
Nicht zuletzt dank der weltweiten Massenproteste gegen den Völkermord verloren die USA zunehmend ihre Glaubwürdigkeit. Eine ganze Generation wurde auch in Deutschland durch die Greueltaten der imperialen Großmacht, die über Millionen von Leichen geht, um ihren weltweiten Machtanspruch zu sichern, politisiert und in ihrer Kritik an der westlichen kapitalistischen »Wertegemeinschaft« radikalisiert.
Welche Konsequenzen haben die USA aus den Erfahrungen gezogen? In seinen Memoiren bekannte der Vietnam-Kriegsminister der USA Robert McNamara: »Yet we were wrong, terribly wrong. We owe it to future generations to explain why.« Die letzten vierzig Jahre zeigen: Die wirtschaftlich-politische Elite der USA hat den imperialen Herrschaftsanspruch nicht aufgegeben, Angriffskriege – einschließlich Lügen, Folter und Mord – sind keineswegs tabu. Ihre Politik ist mitnichten friedlicher, menschenfreundlicher oder auch nur völker- und menschenrechtskonform geworden.