»Moskowiter« in Erfurt
Einen Dauerfeldzug gegen die »Kommunisten« in seinem Land will der thüringische CDU-Chef Mike Mohring führen, in der Landesregierung hätten sie sich eingenistet; wer sie daraus wieder vertreiben will, meint Mohring, brauche die AfD als Hilfstruppe. Das grüne Herz Deutschlands – wird es nun tiefrot umgefärbt? Der CDU-Landespolitiker kann sich in seinem Bedrohungsgefühl bestätigt fühlen durch eindringliche Warnrufe in der F.A.Z. Unter dem Titel »Moskowiter und Erfurter« beschrieb das Blatt, was auf Thüringen zukommen werde: Die regierende Politik einer »moskauhörigen Partei in der Tradition der KPD«. Die Thüringer Linken hätten »ihre Wurzeln in der marxistisch-leninistischen SED«. Und die Partei Die Linke insgesamt – deren Putinversteherei erinnere »fatal« an »Ergebenheitsadressen Ulbrichts an Stalin«.
So wissen wir nun, was in Erfurt vor sich geht und folgern: Der gelernte Geheimdienstler und jetzige Kremlherrscher hat dort einen Residenten gefunden. Nur zur Tarnung hat sich Ramelow vor der Bundeskanzlerin verbeugt.
M. W.
Quod licet Iovi …
Der 2010 verstorbene Politikwissenschaftler Chalmers Johnson hat über 30 Jahre an einer US-amerikanischen Eliteuniversität gelehrt und war überdies jahrelang CIA-Berater, also kein Mann, der antiamerikanischer Umtriebe verdächtigt werden kann. Er war aber so amerikakritisch, daß ihm der Spiegel bescheinigte: »So ätzend wie er hat kaum jemand mit dem politischen Establishment in Amerika abgerechnet.« In seinem von Hans Freundl und Thomas Pfeiffer übersetzten Buch »Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie« heißt es: »Die militärische Präsenz der Amerikaner ist beklemmend. In 139 Staaten haben sie 211.000 Soldaten stationiert. 26.000 Soldaten dienen auf US-Schlachtschiffen auf allen Weltmeeren. Und keine Regierung der betroffenen Länder kann über diese befreundete Besatzungsmacht Kontrolle ausüben.« Das Buch ist 2003 in Deutschland erschienen. Seitdem haben sich die Zahlenangaben weiter erhöht. Und dieses gemütliche weltweite Idyll hat Putin kürzlich in Gefahr gebracht, als er ein paar Kriegsschiffe durch den Ärmelkanal fahren ließ, weil, wie der stellvertretende Regierungssprecher der Bundesregierung nach einer Pressenotiz verlautbarte, »dieses Manöver, auch wenn es sozusagen [!] in internationalen Gewässern stattfindet, nicht unbedingt ein Zeichen ist, die Bereitschaft zur Deeskalation zu unterstreichen.«
Günter Krone
Der Propaganda Paroli bieten
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg schrieb Ilja Ehrenburg den von Lia Calmann ins Deutsche übersetzten Roman »Trust D. oder Die Geschichte der Zerstörung Europas«, beginnend am Frühstücks-tisch des tatenhungrigen Besitzers der größten Fleischfabrik Chicagos. Daran erinnerte mich dieser Tage der erste Blick auf das neue Buch von Wolfgang Bittner mit dem Titel »Die Eroberung Europas durch die USA«. Der vor allem als Romancier bekannte Autor hat hier aber keinen Roman vorgelegt, sondern sorgfältig gesammelte und gebündelte Informationen aus dem Jahr 2014.
»Fuck the EU!« – es könnte Ehrenburgs fiktiver Fleischfabrikant sein, der sich derart höhnisch äußert, aber es war die für Europa zuständige Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland. Schon vor Monaten hatte sie offengelegt, daß die USA für den regime change in der Ukraine fünf Milliarden Dollar aufgewendet haben. Die tonangebenden deutschen Politiker und Publizisten nehmen solche Äußerungen einfach hin. Auch gegen das von Washington geforderte Investitionsschutz-Abkommen TTIP oder gegen den US-Geheimdienst, der sich berechtigt glaubt, die ganze Welt auszuhorchen, regt sich nur wenig Widerstand. Berichte über Folter, rassistische Justiz, massive Aufrüstung nach innen und außen halten die Kommentatoren nicht davon ab, Preislieder über die »transatlantische Wertegemeinschaft« zu singen. Viele Redaktionen scheinen längst »erobert« zu sein.
Bittner nimmt den Krim-Konflikt als aktuelles Beispiel dafür, daß die Propagandisten der USA und der NATO je nach imperialer Interessenlage das Recht drehen und wenden, aus Tätern Opfer und aus Opfern Täter machen. Was nicht ins Bild paßt, wird frech geleugnet. Wer wagt es noch, vom neuen Faschismus in der Ukraine zu reden, der vom alten stammt?
Bittner liefert das, was man braucht, um der allgegenwärtigen Propaganda widerstehen zu können. Zum Beispiel dieses Zitat des Historikers und ehemaligen US-Botschafters in Moskau, Jack Matlock, der zu bedenken gab, Putin handele gegenüber der Gefahr einer militärischen Umzingelung so, wie jeder politisch verantwortliche Russe unter diesen Umständen handeln würde und wie es umgekehrt auch die USA täten. Matlock bestätigte: »Der Umsturz in Kiew im vergangenen Februar hat Leute in den Sicherheitsapparat gebracht, die vehement antirussisch sind und politisch so weit rechts stehen, daß man sie ohne Übertreibung Neonazis nennen kann« – was auch für Europa ein Grund zur Sorge sein sollte.
Putin selber kommt ausführlich zu Wort. Im Anhang des Buches ist die Rede dokumentiert, die er anläßlich des Beitritts der Krim zur Russischen Föderation gehalten hat. Nützlich ist auch ein angehängter Text von Willy Wimmer (CDU), unter Kohl Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, der feststellt: »Der ukrainische Präsident Poroschenko und seine Herren in Washington hintertreiben jeden europäischen Lösungsversuch.« Und Karl-Wilhelm Lange, langjähriger Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, beeindruckt mit einem Brief an Bundesaußenminister Steinmeier, den er vor der schiefen Bahn weiter verschärfter Sanktionen warnt: Sie laufe »letztlich auf den großen Krieg in Europa hinaus, eine politisch nicht mehr beherrschbare europäische Katastrophe, deren unvorstellbare Lasten, Opfer und politische Folgen die europäischen Staaten in West und Ost allein zu tragen hätten« – sie allein, ohne die USA.
E.S.
Wolfgang Bittner: »Die Eroberung Europas durch die USA – Zur Krise in der Ukraine«, Verlag André Thiele, 146 Seiten, 12,50 €
Frackingfreunde
»Bundesregierung offen für Fracking« – konnte erfreut die Frankfurter Allgemeine melden. Offenbar hat das Kabinett Merkel mit Rückhalt bei den Koalitionsparteien die Absicht, nun doch dem umstrittenen Verfahren zur Gewinnung von Schiefergas gesetzlich die Bahn zu öffnen, auf möglichst unauffälligem Wege, mit Hilfe einer »Expertenkommission«. In dem Bericht der FAZ heißt es: »Frühere Pläne für ein solches Verbot bis zu einer Tiefe von drei Kilometern sind damit offenbar vom Tisch.«
Unternehmerverbände wenden sich derzeit gegen eine »zu restriktive Energiepolitik«. So wird auch dem Fracking Zuspruch gegeben. Selbst wenn diese Fördermethode keine langfristige Ausbeute bringt, ist sie kurzfristig profitversprechend für die einschlägigen Firmen. Laut FAZ hat auch der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie »sein Interesse an dieser Art der Gasförderung gezeigt« – nach einem Besuch in Texas. Er und seine Gewerkschaft pflegen enge Kontakte zur mitregierenden SPD.
M. W.
Die Fracking-Methode
Die Erde aufbrechen.
Die Köpfe aufbrechen.
Die Märkte aufmischen.
Und alle zum Shoppen schicken,
während das Gift
seinen Zielort erreicht.
Renate Schoof
Suchtmaschine, worldwide
Nun, ist das wirklich »der Roman unserer Epoche«, wie uns die Verlagsanzeigen, die FAZ zitierend, glauben machen wollen? Oder ein Bestseller, der einen Nerv der hektischen, schnellebigen IT- und Snowden-/NSA-Zeit trifft? Der belletristisch die neue Streitschrift »Who owns the future?« (Wem gehört die Zukunft?) des US-amerikanischen Informatikers, Künstlers, Musikers, Komponisten, Autors und Unternehmers Jaron Lanier ergänzt, der Mitte Oktober 2014 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde?
Es ist offensichtlich: Dave Eggers‘ Bestseller »Der Circle«, aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, paßt 1:1 zu Laniers Thesen über die Sirenen-Server, wie er die großen Internetdienste nennt, und den Cyberkapitalismus. Und zu seinem ernüchternden Fazit: »Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.«
Utopien, das sind Träume von einer besseren Welt. Sie sind in der Literatur und der Ideengeschichte schon seit fast 2500 Jahren verortbar, seitdem Platon in seiner Schrift »Politeia« seine Vorstellung über die Gerechtigkeit und ihre mögliche Verwirklichung in einem idealen Staat erörterte. Der Engländer Thomas Morus gab 1516 seinem Werk über ein erfundenes Inselreich den Titel »Utopia« und wurde so zum Namensgeber aller positiven Zukunftsentwürfe.
Eggers‘ Roman aber ist keine Utopie, sondern ihr Gegenteil: eine Dystopie. Sprechen wir heute von düsteren, allem Optimismus abholden Anti-Entwürfen, so ist stets die Ahnenreihe präsent. Zu ihr gehören Schriftsteller wie Jewgeni Samjatin, Aldous Huxley, George Orwell und Ray Bradbury ebenso wie John Brunner, Philip K. Dick oder Anthony Burgess. Und sie ist nicht zu Ende, wie 2012 der in Berlin lebende Schriftsteller Florian Felix Weyh mit seinem Internet-Roman »Toggle« zeigte. Der Gleichklang des Titels mit dem Namen des Marktführers unter den Internet-Suchmaschinen ist nicht zufällig.
Doch es gibt zwischen dem »Circle« und seinen Vorläufern aus dem letzten Jahrhundert einen wesentlichen Unterschied. Gingen die Bedrohung, die Überwachung, die Bevormundung, die Entmündigung in den Romanen des 20. Jahrhunderts in der Regel von übermächtigen, teils totalitären Staatsgebilden aus, so kommt die Gefahr in dem aktuellen Buch von einem Weltkonzern, gegen den Google, Facebook, Amazon, Twitter, salopp gesagt, Waisenkinder sind. Hier trifft zu: Monopole funktionieren so lange, bis sie von anderen Monopolen kannibalisiert werden. Und in diesem Sinn ist »Der Circle« tatsächlich ein Roman unserer Epoche – womit seine aktuelle, nicht seine literarische Qualität gemeint ist.
Wovon der Roman handelt? Von der »hippsten Firma der Welt«, eben dem »Circle«, einem freundlichen Internetkonzern mit Sitz in Kalifornien – Silicon Valley läßt grüßen –, bei dem die 24jährige Mae eine Anstellung findet. Ihre Stimmungslage zeigt sich im ersten Satz des Romans: »Wahnsinn, dachte Mae. Ich bin im Himmel.«
Nun wissen wir nicht viel über den Himmel, denn noch niemand ist von dort zurückgekehrt. Aber ein Himmelreich auf Erden zu errichten, das ging allemal noch schief. Die an der Spitze wurden entweder geköpft oder, in zivileren Zeiten, vertrieben, abgesetzt, abgewählt. Und unten holte man sich häufig striemenblutige Hintern. Oder Schlimmeres.
Mae findet alles super stylish: die Computerbildschirme und Kameras, die neuen Geräte, mit denen sie arbeitet, die coolen Kolleginnen und Kollegen, überhaupt das ganze Ambiente und Miteinander. Sie stürzt sich voller Begeisterung in die schöne neue Welt, in der jegliche Anonymität wegfällt, in der Orwells Neusprech herrscht: »Geheimnisse sind Lügen. Alles Private ist Diebstahl. Teilen ist heilen.«
Jedoch: Die komplette Vernetzung und Transparenz gibt es nicht ohne den Verlust jeglicher Freiheit. Alles ist online kombinierbar, »Circle« beobachtet alles, sammelt alles, weiß alles, kontrolliert alles.
Ist das schlimm? Wer zustimmt, wird künftig vielleicht nachdenklicher und vorsichtiger sein bei Einkäufen »im Netz«, bei der Beschickung von »Clouds«, bei Freundschaftsdiensten auf Facebook, bei Angaben zu seinem Profil, bei der Freigabe von Fotos, bei der Zustimmung zur Nutzung von Kfz-Parametern durch Versicherungskonzerne, bei GPS-Aktivitäten, bei der elektronischen Gesundheitskarte. Wer aber nach der Lektüre immer noch anderer Meinung ist, sollte Jaron Lanier lesen.
Die Fragen, die beide Bücher stellen, sind aktuell: Wo fängt Transparenz an? Wo muß sie enden? Wie kann der Kreis durchbrochen werden? Von wem? Die Antworten müssen von verschiedenen Seiten kommen: vom gesetzgebenden Staat, von energischen Datenschützern, von kritischen Informatikern und Softwareentwicklern, von sich der Transparenz verweigernden Usern.
Klaus Nilius
Dave Eggers: »Der Circle«, Übersetzung Ulrike Wasel/Klaus Timmermann, Kiepenheuer & Witsch, 560 Seiten, 22,99 €; Jaron Lanier: »Wem gehört die Zukunft?«, Übersetzung Dagmar Mallet/Heike Schlatterer, Hoffmann und Campe, 480 Seiten, 24,99 €
»Man«
Am 15. November vergangenen Jahres, in Brisbane, gab US-Präsident Obama verurteilend kund: »Man marschiert nicht in andere Länder ein!« Viel Lob bekam er dafür auch von regierenden deutschen Politikern. Aber wer ist »Man«? George W. Bush war nicht gemeint.
P. S.