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Titel116

Kino gegen Russophobie  (Heinz Kersten)

Vor dem Kinoeingang ein lebender Eisbär. Er ist kein Filmstar, sondern Demons-trant gegen ein Naturschutzgebiete bedrohendes Arktis-Projekt der Firma Gazprom. Dass diese zu den Sponsoren der seit elf Jahren jeweils Ende November veranstalteten Russischen Filmwoche in Berlin gehört, nutzten Greenpeace-Aktivisten, um mit der Verteilung von Flugblättern gegen Gazprom-Pläne zu protestieren. Der Konzern will europäische Raffinerien bald wöchentlich mit Arktis-Öl beliefern.

In der Auswahl jüngerer Filmproduktionen aus Moskau war das allerdings kein Thema. Dafür spiegelte sie in einer Genrevielfalt heutige Probleme der Gesellschaft, zollte aber auch dem 70. Jahrestag des Kriegsendes Tribut. Nicht ohne aktuellen Hintergrund brachte das gleich der Eröffnungsfilm zum Ausdruck: »Schlacht um Sewastopol« wurde unter der Regie von Sergej Mokritzki als russisch-ukrainische Koproduktion im Winter 2013 auf der Krim gedreht, laut Pressematerial »aufgrund politischer Spannungen mehrmals ins Stocken« geratend. Dem Titel zum Trotz entstand da aber kein Schlachtengemälde, sondern das Porträt einer legendären Scharfschützin, die an der Front ihre große Liebe verliert, aber schwer verwundet in den USA für die damals von der Sowjetunion immer wieder geforderte »zweite Front« wirbt: »Ich bin 25 Jahre alt. Ich habe 309 faschistische Angreifer getötet«, beeindruckt sie die amerikanische Presse und gewinnt sogar die Freundschaft von Eleanor Roosevelt, der First Lady im Weißen Haus. Hollywoods »Sniper« (ebenfalls ein Scharfschützen-Porträt) war nichts dagegen.


Bewegender als dieses patriotische Denkmal, dessen Drehbuch hätte im Kreml geschrieben werden können, fand ich die Neuverfilmung von Boris Wassiljews Erzählung »Im Morgengrauen ist es noch still«: Inmitten russischer Wälder junge und unerfahrene Soldatinnen im ungleichen Kampf gegen eine faschistische Landungstruppe.


Schließlich spielte der Zweite Weltkrieg auch noch eine Rolle in der Arthouse-Produktion »Lieber Hans, bester Pjotr«. Am Ende kommen hier Protagonisten, die zuvor als deutsches Ingenieurteam an der Entwicklung neuer technischer Verfahren in einer sowjetischen Glasfabrik gearbeitet haben, als Invasoren zurück. Im Mittelpunkt steht jedoch die zwischenmenschliche Atmosphäre der Zusammenarbeit. Im Filmwochenprogramm ein Außenseiter, der in deutsch-russisch-ukrainischer Kooperation auch mit deutschen Schauspielern wie Jakob Diehl und Birgit Minichmayr entstand. Regisseur Alexander Mindadze war 2011 im Berlinale-Wettbewerb mit dem Tschernobyl-Drama »An einem Samstag« vertreten.


Auf der letzten Berlinale konnte man schon die Geschichte einer ersten Liebe »14+« von Andrej Saitsew sehen, wie überhaupt vor allem Festivals russischen Filmen ein Forum bieten. Als Filmwochenbeitrag interessierte Alexej Petruchins Film »Die Lehrerin« nicht zuletzt wegen der Parallelen zu deutschen Schulproblemen: überforderte Lehrkräfte und Schüler, die sich lieber in der virtuellen Welt ihres Smartphones verlieren, als zuzuhören.


Heute mögliche Souveränität im Rückblick auf eine einst heikle politische Thematik bewies Stanislaw Goworuchins auf Kurzgeschichten des Exil-Schriftstellers Sergej Dowlatow basierender Film »Das Ende der Belle Époque«. Im Mittelpunkt ein junger Journalist, der sich mit der Zensur herumschlägt und versucht, seine Unabhängigkeit zu behaupten. In nostalgischen Schwarz-weiß-Bildern beschwört der Film die Erinnerung an die von Chruschtschow eingeläutete kurze Tauwetter-Periode der späten 1960er Jahre.


Deren Helden treten authentisch in einem Dokumentarfilm unter dem unglücklich übersetzten Titel »Die Glückspilze der 60er« von Galina Dolmatowskaja auf: seltenes Material teils aus Privatarchiven von Wassili Aksjonow, Robert Roschdestwenski und Jewgenij Jewtuschenko. Im Westen wurde jene russische »Belle Époque«, in der auch die ersten Spielfilme von Andrej Tarkowski (»Iwans Kindheit«, »Andrej Rubljow«) entstanden, seinerzeit viel zu wenig gewürdigt. Eine Ignoranz gegenüber Russland, an der sich bis heute kaum etwas geändert hat. Während Hollywood unsere Kinos beherrscht, muss man auf Moskauer Produktionen wohl wieder bis zur nächsten Filmwoche warten. Zu Jewtuschenko, dem bekanntesten Vertreter der Tauwetter-Periode, fielen mir noch seine damaligen Verse »Meinst du, die Russen wollen Krieg« ein. An die Adresse der Neuen Kalten Krieger gerichtet leider immer noch aktuell.