Entwertung, Ohnmacht, Demütigung, Entwürdigung, Verbitterung, Schuld und Scham: Das sind Kategorien der Subjektivität, ohne die Armut und Ungleichheit in ihren Auswirkungen nicht zu verstehen und Gegenstrategien nicht zu entwickeln sind.
Dass es in Deutschland Armut gibt, wird nicht mehr geleugnet. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wie auch die Kinderarmutsstudie der Bertelsmann-Stiftung (Oktober 2017) präsentieren Daten über wachsende Kinderarmut als Dauerzustand; sogar Mainstream-Medien greifen sie auf. Die wichtigsten Informationen zur sozialen Lage hat kürzlich der Armutsforscher Christoph Butterwegge zusammengefasst und daraus Forderungen abgeleitet (Ossietzky 22-24/17). Studien mit alarmierenden Ergebnissen erscheinen inzwischen seit Jahrzehnten; sie sorgen allenfalls kurz für Erregung, man hat sich an den Zustand gewöhnt. Die Politik beschwichtigt und geht zur Tagesordnung, also zur Wirtschaftsförderung über.
Warum ging keine der letzten Bundesregierungen, keine der Regierungsparteien die katastrophalen Verhältnisse an, die inzwischen Generationen von Kindern und Jugendlichen massiv benachteiligen? Weil für eine effektive Veränderung die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie aufgegeben werden müsste. Da eine erfolgversprechende Gegenstrategie von den Verantwortlichen nicht einmal zur Diskussion gestellt wird, muss man annehmen: Die staatlichen Statistiken dienen nicht als Basis für die Bekämpfung der Armut, sondern als Abschreckung. Neben der Terrorangst der Bürger soll die Angst vor sozialem Abstieg wirken; im Hintergrund lauert die Angst vor Altersarmut und das Schuldgefühl, den Kindern keine gute Lebensgrundlage vermitteln zu können. Mit der Angst verbindet sich die Scham: Die infame Schuldzuweisung an die Armen, sie selbst seien ihres Elends Grund, wurde von vielen Betroffenen verinnerlicht.
Die Politiker wissen, dass die Meldungen über Armut den eingeimpften Glauben an Gerechtigkeit und Demokratie, an das Wirken des sozialen Rechtsstaates und den Staat als Garanten der Menschenwürde zersetzen. Sie vertrauen aber darauf, dass das neoliberale Menschenbild – Selbstoptimierung konkurrierender Marktsubjekte und verwertbares Humankapital – so fest verinnerlicht ist, dass Arme als Versager gesehen werden und ein Klassenbewusstsein nur bei der reichen Elite hoch im Kurs steht.
Auf die meinungsprägende Wirkung neoliberaler Ideologie und Regierungspraxis kann sich die Elite umso mehr verlassen, als einige zentrale Aspekte des Armutsskandals auch in kritischen Berichten ausgeblendet bleiben: Ungleichheit, systematische Benachteiligung und psychosoziale Gewalt.
Die Armut wächst, weil Vermögen und Profit der Reichen wachsen. Dabei sind die Statistiken zur ungerechten Vermögensverteilung noch irreführend, weil sehr hohe Vermögen gar nicht erfasst werden. Die Armut entfaltet ihre destruktive Kraft in Verbindung mit der krassen Ungleichheit. Diese macht Menschen und Gesellschaften krank – das ist bekannt und durch unzählige Studien nachgewiesen. Keine Fake News: In keinem anderen hochentwickelten Land ist die Wahrscheinlichkeit, seinen 50. Geburtstag nicht mehr zu erleben, so groß wie in den USA.
Armut und Ungleichheit bedeuten systematische Benachteiligung nicht nur in materieller, sondern auch in sozialer und seelischer Hinsicht; diese Folgen tauchen in Meldungen über gestiegene Armut meist nicht auf. Mindestlohn und Hartz IV, Minijobs, Leiharbeit et cetera. erlauben kein Leben in Würde. Für Betroffene bedeutet das, auf Selbstverständlichkeiten des Alltags verzichten zu müssen und von vielen Möglichkeiten ausgeschlossen zu sein. Laut Statistischem Bundesamt ist ein Drittel aller Menschen nicht in der Lage, unerwartet anfallende Ausgaben zu bestreiten. In einer weiteren Studie wurden 23 Dinge des Alltags nach ihrer Verfügbarkeit abgefragt: ausreichend Wohnraum, Waschmaschine, Computer, Einladungen an Freunde, Spielmöglichkeit, Kinobesuch und so weiter. Bei Familien in Armutsverhältnissen herrscht dabei siebenmal mehr Mangel als bei sozial abgesicherten Familien. Diese materiellen Einschränkungen sind an sich schon belastend.
Hinzu kommt aber: Armut bedeutet Dauerstress, ständige seelische Belastung in Familien; sie erlaubt kein selbstbestimmtes Leben. Besonders bei herrschender Ungleichheit sind die Folgen Angst, Scham, Schuldgefühle, Depression, Rückzug. Viele Alleinerziehende leiden unter ständiger Angst, die dann als »Angststörung« zu einer Krankheit umgedeutet wird: Die soziale Verursachung wird individualisiert. Schon 1999 (Hartz IV hat die Lage seitdem verschärft) listete der Sozialmediziner Gerhard Trabert die Krankheiten auf, die armutsbedingt häufiger auftreten: Herzkrankheiten, Schlaganfall, Krebs-, Magen und Lebererkrankungen, Ängste, Depression, Unfälle, Erkrankungen der Verdauung, der Atemwege, Schlaf- und Menstruationsstörungen, Kopf- und Rückenschmerzen. Selbsttötungsversuche finden sich bis zu 20-mal häufiger bei Arbeitslosen als bei vergleichbaren Gruppen von Erwerbstätigen (Deutsches Ärzteblatt 1999, 12). Die Folge: Die Lebenserwartung ist bei Armen acht bis elf Jahre geringer als bei Wohlhabenden.
Schon Babys und Kleinkinder nehmen die Belastungen auf und reagieren mit Stress. Soziale und seelische Folgen für Kinder sind unvermeidlich: Armut und ihre Folgen werden »vererbt«. Langzeitstudien zeigen: Armut muss als Hauptrisiko für die kindliche Entwicklung angesehen werden. Die World-Vision-Kinderstudie (2013) wies auf die seelische Belastung und Benachteiligung hin: Arme Kinder haben ein geringeres Selbstbewusstsein und weniger Vertrauen in ihre »Selbstwirksamkeit«, sind in ihrer Meinung unsicher, entwickeln wenig positive Erwartungen an die Zukunft, fühlen sich in der Schule häufiger ungerecht behandelt. Ihre Zufriedenheit, ihr Wohlbefinden sind geringer. Hinzu kommt, dass ihr Selbstbild sehr früh negativ gefärbt wird, sie sich selbst abwerten. Die Gefahr bleibender Schäden ist groß: Wer im Kindergartenalter benachteiligt war, ist mit 16 Jahren wesentlich häufiger in wichtigen Lebensbereichen (Leistung, Wohlbefinden, Gesundheit, soziale Kontakte) abgehängt.
Der Hinweis auf Bildung als Ausweg aus der Armut ist trügerisch: Er lässt die Bedeutung des »kulturellen Kapitals« (Pierre Bourdieu) außer Acht. Eine formale Chancengleichheit verbirgt die tatsächlich wirkenden Belastungen; höhere Bildung setzt immer schon voraus, was sie zu vermitteln vorgibt. Der Soziologe Didier Eribon bezeichnet diese Mechanismen der Benachteiligung »bildungsferner« Schichten im Schulsystem sogar als »Krieg« der herrschenden Klasse, die Vorstädte als Schauplätze eines verkappten Bürgerkrieges. Für Deutschland gilt: Die durchaus gewollte Demütigung und persönliche Entwertung durch die Hartz-Gesetze, die Zerstörung des Selbstbewusstseins waren und sind beabsichtigte »Kollateralschäden« – ebenso wie die Schwächung der Gewerkschaften. Armut und Ungleichheit wirken als Gewalt. In ihrer Wirkung sind sie systematische Körperverletzung und gefährden das Wohl der Kinder. Sie zerstören das Selbstbewusstsein, versagen Mitgefühl und Respekt und entziehen Lebensenergie.
Systematische Benachteiligung schlägt immer doppelt Wunden, die nicht durch Almosen geheilt werden können: Viel zu tief wirken die Verletzungen durch Ungerechtigkeit, Demütigung und Entwertung (wie wir es bei Menschen der ehemaligen DDR beobachten können, vgl. faz.net, 5.8.17). Unterdrückung und Ausbeutung zu bekämpfen und zu besiegen setzt Selbstbewusstsein, Emanzipation und Rebellion der Betroffenen voraus. Ein solcher Klassenkampf ist nicht abzusehen. Zu den notwendigen Forderungen nach solidarischer Bürgerversicherung und einer bedarfsgerechten, armutsfesten und repressionsfreien Grundsicherung (Christoph Butterwegge) muss ein Steuersystem zur Herstellung von Gleichheit kommen. Die Wahrnehmung einzelner Grundrechte ist faktisch nur Wohlhabenden erlaubt; deshalb müssen Maßnahmen gegen die herrschende Diskriminierung in gesundheitlicher, sozialer und bildungsmäßiger Hinsicht ergriffen und überprüft werden. Nicht zuletzt ist Wiedergutmachung zu fordern: Entschuldigung und Entschädigung für die gigantische Umverteilung und die persönlichen Schäden, die durch die Agenda-Politik verursacht wurden. Dabei hätte zumindest die SPD die Chance, durch ein überzeugendes Eintreten für Umverteilung und eine Entschuldigung für die menschlichen und gesellschaftlichen Schäden, die ihre neoliberale Politik angerichtet hat, wieder zu einer gesellschaftlichen Kraft zu werden.