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Titel118

Das Nonplusultra an Hilflosigkeit  (Johann-Günther König)

Am 5. Mai jährt sich der Geburtstag von Karl Marx, der gut die Hälfte seines Lebens als Exilant in London lebte, zum 200. Mal. Grund genug, ihn dieses Jahr bei der Erörterung britischer Angelegenheiten sozusagen ein Wörtchen mitreden zu lassen. Marx wohnte mit seiner Familie vom Frühjahr 1849 bis zu seinem Tod am 14. März 1883 in der britischen Metropole, wo nicht zuletzt sein fulminantes Werk »Das Kapital« entstand. Um die zeitlebens prekären finanziellen Verhältnisse aufzubessern, arbeitete er von 1852 bis 1862 als Korrespondent für die New-York Daily Tribune. Die meisten seiner Artikel enthalten umfassende Analysen der politischen und ökonomischen Lage zahlreicher europäischer Länder einschließlich Englands. Der nun folgende Auszug aus seinem im August 1853 verfassten Beitrag über »kontinentale und englische Begebenheiten« spiegelt das politische Geschehen im ersten Parlamentshalbjahr beziehungsweise in der Parlamentssession nach der im Dezember 1852 erfolgten Machtübernahme von Premier George Hamilton-Gordon, dem 4. Earl of Aberdeen. Marx berichtet:

 

»Was nun den wirklichen Inhalt der Session betrifft, so waren seine bemerkenswertesten Züge die Auflösung aller alten politischen Parteien, die Korruption der Mitglieder des Parlaments und die völlige Erstarrung aller jener, die das Privileg besitzen, zu wählen, die die merkwürdige Arbeitsweise der Regierung enthüllten, einer Regierung, die alle Meinungsschattierungen und alle Talente der großen Welt umfaßte, die Aufschub als Lösung aller Fragen proklamierte, alle Schwierigkeiten nur durch halbe Maßnahmen aus dem Wege zu räumen suchte, mit Versprechungen nicht geizte, deren Erfüllung sie als ›eine Art letzter Wille oder Testament‹ erklärte, ›was eine große Schwäche in der Urteilskraft jener verrät, die es machen‹, die ihre eigenen gesetzgeberischen Akte so schnell wie sie sie eingeführt hatte, zurückzog, umänderte und umstieß, die vom Erbe ihrer Vorgänger lebte, welche sie wütend denunziert hatte, die die Verwirklichung ihrer eigenen Maßnahmen dem Haus überließ, das sie vorgab zu führen, und die mit den wenigen Akten, deren unbestrittene Urheberschaft sie besitzt, unvermeidlich Schiffbruch erlitt. […] Die Außenpolitik der ›stärksten Regierung, die England jemals gehabt hat‹, wird von ihren eigenen Anhängern als das Nonplusultra an Hilflosigkeit und unschlüssiger Schwäche anerkannt.« (Zit. n.: MEW, Bd. 9, S. 289 ff.)

 

Zum Hintergrund: George Hamilton-Gordon kam 1852 als Nachfolger des zurückgetretenen Edward Smith-Stanley, 14. Earl of Derby, in Amt und Würden. Er bildete eine wirtschaftsliberale Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberalen, die zunächst zwar beliebt war, 1854 nach dem Eintritt Großbritanniens in den Krimkrieg aber rapide an Popularität verlor. Nach knapp dreijähriger Amtszeit wurde der 4. Earl of Aberdeen im Februar 1855 zum Rücktritt gezwungen. So wie Mitte des Jahres 1853, denke ich, würde Karl Marx gewiss auch gegenwärtig, zu Beginn des Jahres 2018, über die politischen Verhältnisse in Großbritannien urteilen. Jedenfalls haben die Ereignisse seit dem Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union am 23. Juni 2016 viele Ähnlichkeiten mit denen um 1853. Der Reihe nach:

Im Juli 2016 übernahm Theresa May von den konservativen Tories den Platz des nach dem überraschend vom Volk gewünschten Brexit zurückgetretenen Premiers David Cameron. Sie konnte sich zunächst auf eine große Mehrheit ihrer Partei im Parlament und eine deutliche Zustimmung des Wahlvolkes zu ihrer Person und Politik in den Umfragen stützen. Nachdem die Premierministerin im April 2017 quasi ohne Not eine vorgezogene Neuwahl mit dem Ziel angekündigt hatte, sich mehr Rückendeckung für die Brexit-Verhandlungen mit der EU zu holen, schien ihr überragender Sieg mit einem Zugewinn von 100 Sitzen für ihre Conservative Party bereits ausgemacht. Drastische Fehler im Wahlkampf und die Sicherheitsdebatte nach den Terroranschlägen in London und Manchester sorgten dann allerdings für den Verlust von so vielen Tory-Parlamentssitzen, dass Theresa May sich seit dem Juni 2017 nur mehr im Rahmen einer problematischen Koalition mit der nordirischen Democratic Unionist Party an der Macht halten kann. Darüber hinaus verlor sie bis Ende 2017 gleich drei Kabinettsmitglieder, die gegen sittliche oder politische Verhaltensregeln verstoßen hatten.

 

Die britische Außenpolitik, die derzeit vor allem aus den Austrittsverhandlungen mit der EU zu bestehen scheint, bietet seit dem Amtsantritt von Premierministerin May in der Tat ein, wie Marx formulieren würde, »Nonplusultra an Hilflosigkeit und unschlüssiger Schwäche«. Der im Dezember 2017 in letzter Minute als »Verhandlungsfortschritt« gefeierte Brüsseler »Deal« zum Abschluss der ersten Brexit-Phase ist der jüngste Beleg dafür. Die drei Schlüsselfragen, also die Festlegung der Höhe der britischen Finanzverpflichtungen, die Grenzregulierung zwischen Nordirland und der Republik Irland und die künftigen Rechte der EU-Bürger auf der Insel, sind ja mitnichten abschließend geklärt. Immerhin gibt es inzwischen die vage Zusage, die Unionseuropäer müssten sich ihre Geldforderungen von wohl bis zu 60 Milliarden Euro nicht komplett – wie Außenminister Boris Johnson zunächst gedroht hatte – »an den Hut stecken«. Ob die 499 Kilometer lange Landgrenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland, die künftig die EU und britisches Territorium trennt, tatsächlich weiterhin ohne Kontrollen bleibt – im Raum steht sogar, dass nach dem Brexit die Rechtsvorschriften in Nordirland nicht von denen in der Irischen Republik abweichen sollen –, scheint mir fraglich. Schließlich kann der von May und ihren Brexitmannen nach wie vor angesteuerte »harte Brexit« schlicht nicht zustande kommen, wenn es keine rechtlichen Barrieren zwischen Nordirland und der Republik beziehungsweise zwischen Nordirland und anderen Teilen Großbritanniens gibt. Was Wunder, dass sich im Lager der Brexiteers immer größerer Unmut anstaut. Für sie stößt Theresa May das Königreich gerade »auf die nächste Stufe der Erniedrigung«, und Forderungen wie »Brexit retten und May absetzen« werden immer vernehmlicher. Zudem mehren sich auch im konservativen Lager die Kräfte, die auf einen sanften oder besser gar keinen Brexit dringen.

 

Nicht zu vergessen: Der noch geltende Status für die mehr als drei Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger in Großbritannien soll mit Ausnahme des Familiennachzugs nach dem EU-Ausstieg unangetastet und – angeblich – bis 2029 durch den Europäischen Gerichtshof garantiert bleiben. Ob Karl Marx diese Kompromiss-Regelung begrüßt hätte? Wer weiß. Er hatte Anfang Dezember 1845 die preußische Staatsbürgerschaft aufgegeben und scheiterte 1848 und 1861 mit dem Gesuch, sie wiederherzustellen. Fortan und bis zu seinem letzten Atemzug blieb Marx staatenlos, denn auch sein 1874 in London gestellter Antrag zum Erwerb der britischen Staatsbürgerschaft wurde umgehend abgelehnt. Übrigens mit der Begründung, er sei ein »notorischer Agitator, Führer der Ersten Internationale und Anwalt kommunistischer Prinzipien« und wäre zudem seinem preußischen König und Land gegenüber »nicht loyal« gewesen.