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Titel118

Es fand sich keine Schusswaffe  (Monika Köhler)

Ein Brief soll persönlich zugestellt werden – der Brief eines Gestorbenen an einen Toten. Wir befinden uns im Jahr 1891, da war Fernkommunikation langsamer als heute. Den Brief hatte der Maler Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo gerichtet. Er schrieb fast täglich. Dieser Brief kam als »unzustellbar« zurück.

 

Der Sohn des Postmeisters Joseph Roulin, Armand, soll sich auf den Weg von Arles nach Paris machen, um das Schreiben abzuliefern und die Ungewissheit des langen Schweigens von einem Jahr aufzuklären. So beginnt ein Film, der ungewöhnlicher nicht sein kann: »Loving Vincent«, geschaffen von einem Regie-Duo, der Polin Dorota Kobiela und dem Briten Hugh Welchman. Mitgeschaffen von 125 Künstlern, die Gemälde von Vincent van Gogh in variierende Ölgemälde verwandelten. 63.000 Einzelbilder des Films, der mit Schauspielern Bilder des Malers in Szenen nachvollzog und in Rotoskopie-Technik (sechs Jahre lang dauerten die Arbeiten an den Ölgemälden) übertrug. Das Ergebnis ist ein Lauf durch die Bilder, ein Sich-Hineinwühlen, ein Zu-einem-Teil-von-ihnen-Werden. Und alles fließt, zittert, atmet, tanzt – nichts Gemaltes ist statisch. Es vibriert, zeigt ein Ding, einen Menschen, von vielen Seiten, nie zufrieden mit sich, was den Maler nicht zur Ruhe kommen ließ.

 

Armand Roulin macht sich mit dem Brief auf den Weg nach Paris – dort, wo Vincents Bruder Theo lebte. Ein Jahr ist vergangen nach dem Tod des Malers. Dass der Bruder auch gestorben ist, nur sechs Monate nach dem Selbstmord von Vincent, Armand erfährt es im Laufe seiner Reise. »Wir können nur durch unsere Bilder sprechen« – ein Satz, der fast genauso in einem Briefentwurf stand, den Vincent an Theo schicken wollte, datiert vom 23. Juli. Am 27. Juli 1890 schoss sich Vincent van Gogh in die Brust. Mit dem Gewehr? Wie ist das möglich? Der Film, wie ein Krimi lässt er verschiedene Personen (die Vincent porträtierte) ihre Version der Geschichte erzählen. Immer wieder werden die in leuchtenden Farben schillernden Szenen durch Schwarz-Weiß-Passagen unterbrochen. Das sind jene Teile, in denen Vincent selbst erscheint und die in der Vergangenheit spielen. So ein Streit mit Paul Gauguin, der damals noch mit im Gelben Haus wohnte. Der Wind reißt die Fenster auf, es wird dramatisch. Vincent fleht: »Du darfst nicht gehen!« Kurz darauf eine Szene in einem Bordell. Ein Geschenk von Vincent wird abgegeben, in Zeitungspapier gewickelt, für Gauguin, der aber nicht dort ist. Es soll ihn beschämen, es ist ein Teil von Vincent, das blutige Ohrläppchen. Entsetzen der Mädchen. Dann eine Szene, wie kleine Jungen den im Feld an der Staffelei malenden Vincent mit Steinen verjagen: »Verschwinde hier!« Er flieht.

 

Der Farbenhändler Tanguy, den Armand in Paris trifft, kann vieles erzählen, nicht alles deckt sich mit dem, was der Postmeistersohn in Auvers-sur-Oise erfährt, wohin van Gogh nach einem Klinikaufenthalt reiste. Theo hatte ihm eine Behandlung bei dem Arzt Paul Gachet organisiert. In Auvers trifft Armand die Haushälterin des Arztes im Garten beim Rosenschneiden. »Er war böse«, ihr Kommentar und: »Er lästerte Gott« – er, das war Vincent. Und sie schneidet. »Wegen dieses Verrückten sind in diesem Haus schon genug Tränen vergossen worden.« Und sie schneidet.

 

In Paris hatte Armand den Farbenhändler gefragt: Wie ist Vincent gestorben? Der Grund sei wohl in der Kindheit zu suchen. In Schwarz-Weiß-Bildern, ein kleiner blonder Junge am Fenster spielend: Kugeln oder Eier? Ein Nest. Dann mit der Mutter auf dem Friedhof, das Grab seines Bruders besuchend. Ein Jahr vor Vincents Geburt hatte es schon einen Sohn gegeben, der aber tot zur Welt gekommen war. Man hatte ihn Vincent Willem genannt. Der Maler glaubt, er habe dieses Kind ersetzen sollen. Im Film will er die Hand der Mutter ergreifen, sie weist ihn zurück. Sehr viel später, in einer Kneipe in Paris: Kritiker und Maler fallen über Vincent her, zerreißen sich das Maul über seine Kunst. Er flieht. Aber er hat gesiegt, sagt Tanguy, seine Kunst hat gesiegt. Und Dr. Gachet, der sich um ihn kümmern sollte, hielt die Grabrede. Als »Honorar« habe er sich die besten Bilder von der Wand genommen. Vincent hatte ihn mehrfach gemalt – auch mit den giftigen Fingerhutblüten.

 

Im Haus des Arztes: Da spielt ein Mädchen im rosa Kleid auf dem Klavier, Marguerite Gachet, die Tochter. Sie mag Vincent und wird später Blumen auf sein Grab bringen. Wo wird Vincent wohnen? In der Auberge Ravoux. »Das ist ein Loch«, sagt Marguerite. Doch er muss sparen. Vor dem Gasthaus sitzen Einheimische, die murmeln: »Ausländer, noch ein Ausländer« – Vincent war kein Franzose. Die Tochter des Gastwirts, Adeline Ravoux, im blauen Kleid, mit blauer Schleife im Haar, immer sanft lächelnd: »Er war hier glücklich. Er mochte unser Haus.« Sie erzählt, dass er den ganzen Tag gemalt und lange Briefe an den Bruder geschrieben habe. Und dicke Bücher gelesen. Und immer in der Natur war. Auch im Regen malte er. Ging gerne zum Fluss. Der Bootsverleiher wusste von einer Krähe, die neben dem malenden Vincent dessen Essen fraß. Sogar das habe ihn glücklich gemacht – so einsam war er. Es gab Krach mit Dr. Gachet. Der habe auch gemalt, sah sich selbst als Künstler.

 

Es war der Farbenhändler, der vom Sparen sprach. Bruder Theo konnte Vincent kaum noch wie früher unterstützen, er hatte geheiratet und einen Sohn bekommen, der heißt wie sein Bruder: Vincent Willem. Der Maler braucht Leinwand, will noch viele Bilder malen. Geschirrtücher sind billig. Armand, der den Brief überbringen soll, taucht tief ein in das Leben des Künstlers. Beim Bootsverleiher trinkt er zu viel und beginnt eine Schlägerei mit jungen Burschen, die einen rothaarigen Jungen hänseln, ihm ein Bein stellen. Nicht nur Armand, auch die Bäume torkeln, die Pappelallee am Fluss. Er habe die Ehre »des Dorfidioten verteidigt«, sagt der Polizist am Morgen danach zu Armand. Der Polizist, ein Bindeglied. Als Vincent, schwer verletzt, sich in sein Dachzimmer geschleppt hatte, war der irgendwann an seinem Bett. Tat nichts. Dr. Gachet kam hinzu, beide kümmern sich nicht um Vincent. Die Tür fliegt zu. Keine Verwicklungen (dieses Motiv – nicht nur bei der Dessauer Polizei –, es hat sich bis heute gehalten). Der Dorfarzt Dr. Mazery dagegen war wohl als erster dort. Seine Version des Selbstmordes, ganz anders. Er demonstriert Armand den Vorgang des »angeblichen« Selbstmordes anschaulich, der alte Mann spielt es nach. Der Schusswinkel stimme überhaupt nicht. Es fand sich keine Schusswaffe, keine Pistole am Ort. Dr. Gachet hatte eine, und in der Auberge gab es auch eine. Der Weg vom Weizenfeld zur Auberge sei viel zu weit für einen Verletzten. Ein anderer Ort? Ein Stall in der Nähe der Schlossmauer? Von dort hörte man einen Schuss. Das Weizenfeld mit Krähen, sie fliegen hoch auf, im Gemälde, im Film. Vincents letztes Bild? Wohl kaum.

 

Armand versucht, sich in Vincent hineinzudenken, legt sich in dessen Bett. »Hier hat er gelebt, hier ist er gestorben«, Adeline zeigt ihm alles. Armand träumt von einer Hand im Blut. Nur ein tiefes Atmen und Dunkelheit. Dieses Dunkel umgab Vincent immer wieder. In einem Brief schrieb er: »Was bin ich in den Augen der meisten Menschen: ein Niemand, der Niederste der Niederen« – er wollte »einmal beweisen, »was dieser Niemand im Herzen trägt.« Das Bild mit riesiger untergehender Sonne und dem Sämann, der zum Sensemann wird – im Leben.