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Titel118

Feiertagsmusik der Berliner Orchester  (Sigurd Schulze)

Adventskonzert, Weihnachtskonzert, Familienkonzert, Kinderkonzert, Silvesterkonzert, Neujahrskonzert sind Ereignisse, die sowohl die Musiker als auch die Zuhörer und Zuschauer in einen Rausch versetzen (können) – Letztere, falls sie sich mehrere oder auch nur eines davon leisten können.

 

Im Berliner Vorweihnachts-Konzertleben war besonders spannend, wie die beiden Neuen sich produzieren würden – die Chefdirigenten des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, Wladimir Jurowski, und des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin, Robin Ticciati, die beide in der neuen Spielzeit ihr Amt angetreten hatten.

 

Einen interessanten Einfall hatte Wladimir Jurowski, als er die Ballettmusik von Tschaikowskis »Nussknacker« konzertant aufführte. Merkwürdig ist die Suggestion der Musik. Während man im ersten Akt noch denkt, jetzt müsste ja mal der Tanz hinzu kommen, richtet sich die Aufmerksamkeit im zweiten Akt auf den atemberaubenden Wechsel der Rhythmen und auf die hohen Ansprüche an die Solisten im Orchester – Flöte, Oboe, Englischhorn, Trompete und so weiter. Und während sich hier auf der Bühne das Orchester von Tanz zu Tanz steigert, steigern muss, bekommt man eine Ahnung davon, wie die Musiker der Opernorchester im Graben (in kleinerer Besetzung) schuften müssen, während der Zuschauer nur eine tänzerische Glanzleistung nach der anderen wahrnimmt. Eine interessante Nebenwirkung.

 

Der »Nussknacker« ist ein Märchen von E.T.A. Hoffmann, aber es gibt auch politische Märchen, etwa die Weihnachtsgeschichte. Wer an die Bibel nicht glauben will, erkennt ohne weiteres die Ursachen der Tragödie: tiefe soziale und nationale Konflikte, Klassenkämpfe und Revolten der Unterdrückten, das Auftreten revolutionärer Vordenker wie Christus. Damals wie heute gab und gibt es Verfolgung, Flucht und Flüchtlinge und, weniger bewusst, Fluchtursachen. Hector Berlioz hatte ein aufklärerisches Verständnis der Geschichte und tiefe Sympathie für die Verfolgten. Er selbst schrieb eine Legende der Flucht der »Heiligen Familie« und vertonte sie in seinem Oratorium »L´enfance du Christ«. Mit sicherem Instinkt für die Aktualität der Geschichte hat Robin Ticciati das musikalisch wunderbare Oratorium nicht nur dirigiert, sondern auch szenisch einrichten lassen. Fiora Shaw inszenierte die Flucht der Israeliten, die Verweigerung ihrer Aufnahme von den einen und die Solidarität der anderen, ergreifend. Den Raum und die Weiten der Philharmonie nutzte sie souverän. Die jeweilige Rolle des Erzählers als Kommentator, Wegweiser und Einrichter der Szenen war allerdings nicht immer erkennbar. Dass auch noch das Jesuskind im Saal herumgeisterte, war reiner Kitsch. Auch die Anbetung des Erschienenen am Schluss war mehr ein Tribut an die Fiktion, Glaube müsse sein, als dass sie dramaturgisch erforderlich gewesen wäre. Von der Dramatik der Geschichte ist der Zuschauer auch ohne Glauben überzeugt. Musikalisch und politisch ein Treffer. Eine einmalige Aufführung im Konzertsaal war ein Verlust sowohl im Hinblick auf die investierte Arbeit als auch auf den Wunsch Vieler, die von Dabeigewesenen anschließend neugierig gemacht wurden.

 

Dass ein von der Deutschen Bank finanziell gefördertes Spitzenorchester auch kleine Brötchen backen und schmackhaft servieren kann, bewiesen die Berliner Philharmoniker mit ihrem weihnachtlichen Mitsingkonzert. Boten sie vor Jahren noch Mammutaufführungen des Education-Programms vor Tausenden Zuschauern in der Treptower Arena mit »Rhytm is it!« oder »Carmina Burana«, so sind sie jetzt »mal runter auf den Teppich« gekommen. Im Bunde mit Grundschulen aus Hellersdorf, Moabit und Schöneberg unterweisen sie Kinder im Chorsingen, und sie taten am Jahresende genau das Richtige – ein öffentliches Mitsingkonzert in der Philharmonie, was Kinder nach langem Üben auch brauchen. Sogar in der Digital Concert Hall wurden sie übertragen. Rund 170 Kinder sangen Lieder vieler Nationen und brachten Stimmung in den Saal. Bei limitierter Zeit wirkten die Orchester-Arrangements allerdings langatmig, was auch die Mienen der Musiker verrieten. Unpassend wirkte die plumpe Showmastermanier, in der Bürger Lars Dietrich das Konzert moderierte, was im Umkehrschluss heißt, dass die Berliner Philharmoniker auf ihre eigenen Talente wie Sarah Willis nicht verzichten sollten. Warum der Saal nicht so voll war wie gewohnt, bleibt ein Rätsel.

 

Schließlich im Silvesterkonzert zog Simon Rattle noch einmal alle Register mit Antonin Dvorak, Igor Strawinsky, Richard Strauss, Leonard Bernstein und Dmitri Schostakowitsch. Ein Song aus der »White House Cantata« von Bernstein bewog Rattle zu dem Fingerzeig, ein wachsames Auge auf dieses Haus und seinen Bewohner zu haben. Zum ersten Mal im eigenen Hause spielte das Orchester die Orchestersuite aus dem Ballett »Das Goldene Zeitalter« von Dmitri Schostakowitsch.

 

Auch für viele Besucher des Silvesterkonzerts der Berliner Symphoniker eine Entdeckung waren Episoden aus der Operette »Moskwa Tscherjomuschkij« von Schostakowitsch. Dazu erfand der Chefdirigent Lior Shambadal eine originelle Rahmengeschichte von der Silvesterfeier in einer Kneipe dortselbst mit dem pensionierten General Wladimir Wladimirowitsch Wladimin. Shambadal bot vorzügliche Solistinnen auf: Catherine Trottmann, Mezzosopran, und Fabiola Kim, Violine. Der Auftritt des neuen Intendanten Peter Pachl als Requisiteur war eine passende Anspielung auf die vom Berliner Senat aufgezwungene Sparsamkeit des Orchesters. Die Berliner Symphoniker gehen erneut ins neue Jahr ohne institutionelle Förderung durch das Land Berlin, angesichts der stabilisierten Haushaltslage nicht zu begründen.

 

Ein Supergaudi für Jung und Alt war das 14. Silvester- und Neujahrskonzert des Deutschen Symphonie Orchesters mit dem Circus Roncalli im Tempodrom. Das von Alexander Steinbeis konzipierte Programm stand unter dem Motto »Von Barber bis Broadway« mit Werken amerikanischer Komponisten. Bei dem riesigen »Angebot« von Komponisten, Akrobaten, Clowns sowie Sängern und Solisten mussten sich die Macher in der Kunst des Weglassens üben, was in diesem Jahr auch besser gelungen ist als in den vergangenen Jahren. Zum Beispiel ließ Roncalli Tiernummern weg. Es mochte an den amerikanischen Stücken liegen, doch das Orchester hat sich spürbar zurückgenommen und Längen vermieden, wenn auch eine bessere Synchronisation mit den Zeiten für den Aufbau der Technik genützt hätte. Immerhin war nicht zu unterschätzen, dass Musiker und Artisten nicht mehr als einen Tag Zeit gehabt hatten, das Programm »einzuüben«, das für den Zuschauer abrollen musste wie ein Film. Beide standen unter dem Zwang, alles wie aus einem Guss zu formen. Man könnte sagen: Musik so schön wie möglich, aber nur so viel wie nötig. Es ist eben kein Konzert und auch kein Zirkus, sondern eine gewachsene Form des Zusammenspiels zweier Künste. Das Programm in diesem Tempo dreimal kurz hintereinander zu spielen, geht an die Grenze der Leistungsfähigkeit der Musiker, doch sie schafften es mit Begeisterung. Der englische Dirigent John Wilson harmonierte glänzend mit dem Orchester und leitete die Aufführungen souverän, mit dem Anflug eines Wissenschaftlers, der einen physikalischen Prozess entwickelt. 7500 Zuschauer bewiesen die Freude des Publikums an diesem Spaß.

 

Weihnachten bietet sich für Festliches an, so auch für ein »Großes Berliner Weihnachtsfestkonzert« der Konzertagentur Cm Reimann mit der Anhaltischen Philharmonie Dessau am ersten Feiertag im Konzerthaus. Das Konzert unter Leitung von Markus L. Frank war auch festlich – mit dem Klavierkonzert a-Moll von Edvard Grieg, gespielt von Joseph Moog, und der »Eroica« von Beethoven. Enttäuschend war der halb leere Saal, wofür die Agentur keine Erklärung weiß. Eine traurige Erfahrung des Gastorchesters.