erstellt mit easyCMS
Titel119

Brexit ist gleich …?  (Johann-Günther König)

Brexit ist gleich Hölle, hätte wohl der einst herausragende Akteur im literarischen Leben Englands, der legendäre Gelehrte Samuel Johnson (1709–1784), befunden und tröstlich hinzugefügt, der Weg dorthin sei »mit guten Vorsätzen gepflastert«. Aus rein logischer Sicht ist Brexit jedenfalls gleich Verlust von Einfluss, schließlich sind viele Länder zusammen größer und einflussreicher als eines allein. Dennoch beschwören führende Brexiteers aus Politik und Wirtschaft nebst der einflussreichen britischen Boulevardpresse jeden Tag aufs Neue, Großbritannien wäre zukünftig besser außerhalb als innerhalb der EU aufgehoben. Tim Martin zum Beispiel, Chef der Unternehmensgruppe Wetherspoon, die 880 Pubs betreibt, drängt auf den Austritt aus der EU und vor allem aus der Zollunion und dem Binnenmarkt. Er behauptet, nur dann könne er die Preise in seinen Pubs deutlich reduzieren. Die wöchentlich gut zwei Millionen Besucher seiner Kneipen finden dort gegenwärtig Bierdeckel vor, auf denen er mit dem Wetherspoon Manifesto für den kompromisslosen Brexit wirbt. Übrigens auch für die umgehende bürgerrechtliche Anerkennung aller bisherigen EU-Immigranten – vor allem die osteuropäischen Billigarbeitskräfte möchte Tim Martin offenbar nicht missen. Deutsche und andere Biere, Weine und Spirituosen aus den EU-Mitgliedsstaaten aber schon. Sie werden in Wetherspoon-Pubs nicht mehr angeboten.

 

Brexit ist gleich 14 Notfallmaßnahmen der EU für einen ungeordneten Austritt (No Deal) Großbritanniens, die »schwerwiegende Auswirkungen auf Bürger und Unternehmen« abfedern sollen. Sie liegen als Lektüre auch den Abgeordneten im britischen Parlament vor, sozusagen als Ermunterung, dem mit Theresa May ausgehandelten Ausstiegsabkommen in diesem Januar völlig unerwartet doch zuzustimmen. Am 30. November 2018 veröffentlichte das Britische Unterhaus eine Handreichung für die Parlamentarier, die aktuelle Statistiken über die Handelsbeziehungen des Königreichs beinhaltet (Commons Library Briefing). Darin wird deutlich, dass die EU-Mitgliedsstaaten insgesamt der größte Handelspartner sind. Die britischen Exporte in die EU beliefen sich 2017 auf 44,5 Prozent, die Importe aus der EU auf 53,1 Prozent. Allerdings hat sich der Handel mit der EU seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts tendenziell verringert – im Export um über zehn Prozent, im Import um gut acht Prozent. 2017 betrug das Handelsdefizit der Briten mit der Union 67 Milliarden Pfund.

 

Brexit ist gleich die Mehrheit der – wohlgemerkt: englischen – Bevölkerung, die sich 2016 für ihn aussprach. Warum, ist angesichts des vorteilhaften Sonderstatus, den das Königreich genoss und noch genießt, alles andere als leicht nachvollziehbar. So hat kein anderer EU-Mitgliedsstaat mehr »Opt-outs« zu Buche stehen als das Königreich. Es profitiert von dem von Margaret Thatcher erpressten Beitragsrabatt, nimmt nicht an der Justiz- und Innenpolitik der Union teil, ist kein Mitglied des den Güter- und Reiseverkehr erleichternden Schengenraums und (wie auch Dänemark) nicht gezwungen, jemals den Euro einzuführen. An die in den EU-Verträgen fixierte »Charta der Grundrechte der Europäischen Union« hat sich das Königreich schon gar nicht gebunden. Und zwar nicht zuletzt, weil es die Festlegung auf das »immer engere« in deren Präambel ablehnt: »Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.« Hinzu kommt: Kein anderer Mitgliedsstaat hat mit seinen Sonderwünschen so viele EU-Gipfel dominiert und so viel Arbeitszeit gebunden wie das Reich von Königin Elisabeth II. Warum also stimmte eine Mehrheit der Briten in England und Wales – in Schottland und Nordirland dominieren die EU-Anhänger – für den Brexit? Sicherlich nicht, weil sie sich in die Hölle wünschte.

 

Brexit ist gleich weniger Wohlstand. Allerdings geht es mit ihm für große Teile der britischen Arbeiterklasse bereits seit 1979 bergab, als Margaret Thatcher das Heft in die Hand nahm. Während der elf Jahre, die die »eiserne Lady« im Amt war, wurden Privatisierungen und Deregulierungen massiv vorangetrieben, die Gewerkschaften hart bekämpft und geschwächt. Das Königreich zahlte dafür einen hohen Preis. So nahm die gesellschaftliche Ungleichheit stark zu, lebten um 1995 dreimal mehr Menschen in relativer Armut als vor 1979. Seitdem auf die in Großbritannien um 2008 besonders heftig wütende Finanzkrise eine von Tories und Liberaldemokraten exerzierte Austeritätspolitik folgte, geht es für viele Briten noch steiler bergab. In Folge der drakonischen Kürzung der Staatsausgaben wurden insbesondere in den ohnehin notleidenden Regionen mehr als die Hälfte der Jugendclubs, Bibliotheken und Betreuungseinrichtungen wegen Geldmangel geschlossen. Einem jüngst publizierten Bericht der Denkfabrik IPPR zufolge leben im seit langem vernachlässigten Norden Englands bereits mehr als zwei Millionen Erwachsene und eine Million Kinder in Armut, sind die Wochenlöhne seit 2008 deutlich gefallen und arbeitet eine halbe Million Menschen in Dienstleistungsjobs, die gerade einmal die Hälfte des nationalen Lohndurchschnitts erreichen (https://www.ippr.org). Laut dem Gewerkschaftsdachverband TUC hat ein durchschnittlicher Arbeitnehmer seit 2008 einen Reallohnverlust von 11.800 Pfund hinnehmen müssen. Generell ist die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen größer als im Durchschnitt der EU-Mitgliedsstaaten. Zwar beläuft sich die britische Arbeitslosenquote offiziell auf lediglich vier Prozent, da aber gut 15 Prozent der arbeitenden Briten zum sozial und kulturell stark benachteiligten Prekariat gehören – mit einem durchschnittlichen Bruttojahreseinkommen von bestenfalls 8000 Pfund und keinen Ersparnissen – bleiben sie arbeitend arm und verlängern die Schlangen vor den Suppenküchen. Der Trussell Trust – gemeinnütziger Betreiber eines Netzes von 428 Lebensmitteltafeln, die übriggebliebenes und gespendetes Essen an gemeldete Bedürftige verteilen – hat zwischen April 2017 und März 2018 mehr als 1,3 Millionen Drei-Tages-Notrationen verteilt, davon 484.000 an Kinder. Das waren gut 13 Prozent mehr als in der Periode davor (https://www.trusselltrust.org).

 

Brexit ist gleich Klassengesellschaft. Die darbenden drei unteren Klassen im Königreich versammeln laut dem Equality Trust fast die Hälfte der Bevölkerung. Eben deshalb steigt seit einigen Jahren die Zahl verarmter Kinder um etwa hunderttausend per annum (als arm wird ein Kind gewertet, wenn es in Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 15.000 Pfund lebt; vgl. https://www.equalitytrust.org.uk). Ende 2018 lebten laut der Organisation End Child Poverty 30 Prozent aller Kinder unter der Armutsgrenze (https://www.endchildpoverty.org.uk). Obwohl das Vereinigte Königreich als fünftgrößte Volkswirtschaft und momentan zehntreichstes Land der Welt figuriert, prangerte im November 2018 Philip Alston, der UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut, die Tory-Regierung ob ihrer »unmenschlichen Politik« an. Seit 2010, verdeutlichte er, habe sie Sozialstaatskürzungen in Höhe von fast 40 Milliarden Pfund vorgenommen. Schlimmer noch, sie verleugne die Verwüstung, die sie in der Gesellschaft angerichtet habe (vgl. New York Times, 16.11.2018).

 

Brexit ist gleich Austeritätspolitik. Zur britischen gehört nicht zuletzt die bislang kaum bekämpfte Wohnungsnot – mehr als 320 000 Menschen sind nach Schätzungen der Wohlfahrtsorganisation Shelter obdachlos. Am Jahresende hatten 131.000 Kinder kein Dach über dem Kopf (vgl. https://www.shelter.org.uk). Darüber hinaus sind die britischen Haushalte hoch verschuldet und frisst die durch den enormen Fall des Pfund Sterling getriebene Inflation selbst die – teils hart erkämpften – Lohnzuwächse auf. Zudem verhindert die ausgeprägte Klassengesellschaft den sozialen Aufstieg und zieht eine krass unterschiedliche Lebenserwartung nach sich – zwischen dem Süden und Norden, aber auch zwischen Stadtvierteln. Im ärmeren Teil des Londoner Stadtteils Southwark etwa ist sie gegenwärtig sieben Jahre kürzer als im wohlhabenderen. Leider nimmt die seit Jahren staatlich forcierte Krise des – aus Steuergeldern finanzierten – britischen Gesundheitssystems, des inzwischen schon 70 Jahre existierenden NHS, auch kein Ende. Notfall-Ambulanzen, in denen Verletzte bis zu zwölf Stunden auf einen Arzt warten müssen, vielerorts fehlendes und erschöpftes Personal in den Krankenhäusern und viel zu viele verzweifelte Patienten sind sozusagen der Normalfall.

 

Brexit ist gleich Hope and Glory? Ein – wie mit der legendären Hymne besungenes – Land der Hoffnung und des Ruhmes wird Großbritannien zweifellos so schnell nicht wieder werden. Dafür ist in der Frage des Brexit die ausgeprägte Klassengesellschaft viel zu extrem gespalten. Sollte der Ausstieg aus der EU am 29. März 2019 oder – wie manche Politiker erwägen – um einige Monate verspätet tatsächlich vollzogen werden, womöglich sogar ohne einen »Deal«, könnten schlimmstenfalls sogar die Tage des vereinigten Königreichs gezählt sein, der schottische Wunsch nach Unabhängigkeit in eine erneute Abstimmung münden. Zur Erinnerung: Am 18. September 2014 hatten rund 55 Prozent der jenseits des von den Römern errichteten Hadrianswalls lebenden Wähler die Frage: »Soll Schottland ein unabhängiger Staat sein?« noch mit NEIN beantwortet.

 

Bevor ich es vergesse. Brexit ist gleich Visumspflicht. Einem Entwurf des Innenministeriums zufolge sollen nach dem Brexit EU-Bürger nicht besser behandelt werden als Migranten aus anderen Gegenden der Welt. Für einen Job in Großbritannien wird unsereins dann zwingend ein Visum benötigen – Hochqualifizierte natürlich ausgenommen ...