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Titel119

Das Ende der Bescheidenheit?  (Stephan Krull)

Der Exportüberschuss aus Deutschland ist seit vielen Jahren sehr hoch und beträgt inzwischen jährlich fast 300 Milliarden Euro: »Wir sind Exportweltmeister!« Das Stabilitätsgesetz von 1967 schrieb etwas ganz anderes vor: Preisstabilität, Vollbeschäftigung, ausgeglichenen Außenhandel und angemessenes Wachstum. Die Folgen der andauernden Instabilität und des unausgeglichenen Außenhandels sind gravierend in Deutschland und in Europa.

 

Möglich wurde der Exportboom durch die schrödersche Agenda 2010, durch die Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors in Deutschland, bezahlt mit grassierender Armut vor allem bei Frauen, Kindern und älteren Menschen. Der jüngste Armutsbericht spricht da Bände: Ein Drittel der erwachsenen Armen in Deutschland ist erwerbstätig, jede*r vierte arme Erwachsene ist in Rente oder Pension und nur ein Fünftel ist arbeitslos, so nur einer der vielen brisanten Befunde des aktuellen Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Demgegenüber erklärt die Bundesregierung im fünften Armuts- und Reichtumsbericht über aktuelle Lebenslagen in Deutschland (2017): »Zehn Jahre nach Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise steht Deutschland heute – insbesondere auch im internationalen Vergleich – sehr solide da.« Und weiter: »Die Einkommensverteilung in Deutschland war im Berichtszeitraum stabil. Die Einkommensanteile, die auf die obere und untere Hälfte der Einkommensbezieher entfallen, liegen bereits seit dem Jahr 2005 in einem stabilen Verhältnis von etwa 70:30.« Das bedeutet, dass die Reichen fast unermessliche reich sind: 6000 Milliarden Euro privates Geldvermögen wurden zusammengescheffelt und vagabundieren durch die internationalen Finanzmärkte, suchen lukrative Anlagemöglichkeiten im Aufkauf von ganzen Wohnsiedlungen, von Krankenhausgesellschaften und Altenpflegeheimen – immer mit dem Ziel, den privaten Reichtum zu vergrößern; nie mit dem Ziel, Wohnen als Recht zu garantieren, nie mit dem Ziel bester Bedingungen für Gesundheit, Pflege oder gute Arbeit. Würde den Superreichen nur die Hälfte des gigantischen Vermögens durch Vermögensabgabe und Vermögenssteuer genommen – sozusagen ein moderner Lastenausgleich – wären die gesamten Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden getilgt, es wären noch 1000 Milliarden Euro übrig für Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und öffentlichen Verkehr. Und die Reichen wären immer noch sehr reich.

 

Im EU-Vergleich sind die Arbeitszeiten von Frauen in Deutschland die zweitkürzesten. Mütter in Deutschland sind im EU-Vergleich schlechter in den Arbeitsmarkt eingebunden als Frauen ohne Kinder. Kinder zu haben stellt einen Risikofaktor für die Erwerbstätigkeit und finanzielle Absicherung von Frauen dar.

 

Flankiert wird das Armutsprogramm Hartz IV durch einen Währungskrieg, in dem ein schwacher Euro zur Waffe wird. Jedoch haben die Hartz-Reformen keine zusätzliche Arbeit und also auch keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen. Die Arbeit wurde lediglich auf mehr Personen verteilt. Minijobs und unfreiwillige kurze Teilzeit sind kein »Beschäftigungswunder«; ein ungenügender Mindestlohn und zu geringe Renten zwingen ärmere Menschen zu Tätigkeiten, die sie freiwillig zu diesen Bedingungen niemals ausführen würden. Die Produkte aus Deutschland wurden so billiger und haben die Märkte anderer Länder, auch von Griechenland, Spanien, Italien und Frankreich, gewaltig überschwemmt. Eines der negativen Ergebnisse davon besteht im Export von Erwerbslosigkeit. Die noch geschönten Erwerbslosenquoten betragen in Griechenland 20 Prozent, in Spanien 15 Prozent, in Italien und in Frankreich jeweils zehn Prozent. Für eine ganze Generation junger Menschen beginnt das Leben nach der Schule oder dem Studium mit Erwerbslosigkeit oder prekärer Arbeit zu miesesten Bedingungen und schlecht entlohnt.

 

Die deutschen Sparprogramme, das deutsche »Beschäftigungswunder«, die ja tatsächlich nur ein Programm zur Umverteilung von unten nach oben sind, werden jetzt auch anderen Ländern als Rezeptur für einen Aufschwung empfohlen – und die rechtskonservativen Regierungen in Wien, Paris und Budapest machen sich daran, die Tarifverträge auszuhebeln, die Gewerkschaften zu schwächen, die Arbeitszeit zu verlängern und die Löhne und Renten zu senken. Es sind diese neoliberalen Programme der Europäisierung und Globalisierung des Elends für Massen von Menschen zugunsten weniger reicher Schmarotzer, die das Projekt eines friedlichen Europas in die Sackgasse ohne Wendehammer führen.

 

Dagegen wehren sich die Menschen in Österreich, Frankreich und in Ungarn. Hunderttausende gehen auf die Straßen und demonstrieren gegen den Turbokapitalismus, gegen die unsozialen Gesetzesvorhaben von Kurz, Macron und Orban. Sie protestieren in den jeweils landestypischen Formen – mit Straßenbarrikaden und Blockaden von Amazon in Frankreich, mit von Gewerkschaften, linken Parteien und sozialen Bewegungen getragenen Demonstrationen und Kundgebungen in Österreich und Ungarn. Viele, auch linke Menschen in Deutschland, schauen mit einem romantischen Blick nach Frankreich, bewundert werden die großen Kundgebungen in Österreich und die andauernden Kämpfe in Ungarn. Oft unbeachtet bleiben oder belächelt werden die vielen kleinen Kämpfe in unserem Land – sei es der Streik der Eisenbahner*innen oder der mutige Streik der Beschäftigten bei Amazon, sei es der Kampf gegen Mieterhöhungen oder sei es nur der Kampf um einen Fahrradweg.

 

Dabei kann, das wird in den aktuellen Auseinandersetzungen sichtbar, Europa nur von unten verändert werden. Macron musste ein Milliardenprogramm auflegen – und konnte die Proteste doch kaum damit beeinflussen. Aber die Stabilitätskriterien der EU, die eine maximale Verschuldung von Staaten festschreiben, praktisch die deutsche »Schuldenbremse« europäisiert und die Staaten damit weitgehend handlungsunfähig gemacht haben, die werden nun nach Italien auch wieder von Frankreich gerissen. Die Aktionen der Menschen in Frankreich, Österreich und Ungarn sind – neben dem Brexit – dabei, die Europäische Union zu verändern. Hierzulande wird analysiert und debattiert, vor dem Betreten des Rasens gewarnt, während in Frankreich, Österreich und Ungarn die Rechten innerhalb und außerhalb der Regierung durch vielfältigen Protest isoliert werden. Das Denken und Reden über die Novemberrevolution vor 100 Jahren scheint nicht mehr als ein romantischer Rückblick – weder die Abwiegelei des DGB-Chefs noch der Appell der linken Fraktionsvorsitzenden aufzustehen ändern etwas an dieser äußerlichen Ruhe im Land. Es bedarf breiter Bündnisse wie der die #unteilbar-Demo gegen repressive Polizeigesetze, um eine größere Anzahl von Menschen runter vom Sofa auf die Straße zu mobilisieren.

 

Erst wenn wir aufhören, unter unseren Verhältnissen zu leben, wenn wir uns unseren Teil am Reichtum des Landes holen, wenn wir die ökonomischen Ungleichgewichte in Europa verändern, ist Aussicht auf ein Zusammenführen der emanzipatorischen Proteste in Europa! Es könnte im Jahr 2019 alles schlimmer kommen – es könnte aber auch alles besser werden!