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Titel119

Bemerkungen

Offener Brief aus dem Jahr 1870

Wer heute angesichts von Brexit und wachsendem Nationalismus in der EU die »Vereinigten Staaten von Europa« als Ziel proklamiert, gilt als Träumer oder unverbesserlicher Utopist. Wer das 1870 proklamierte, mitten im von Preußen provozierten Krieg gegen den »Erbfeind« Frankreich, galt als Verräter an der nationalen Sache. Auch und gerade wenn er als Franzose auf der Verliererseite stand. Und ganz besonders, wenn er den deutschen Sieg bei Sedan und die Gefangennahme Napoleons III. begrüßt hatte, weil das zur Ausrufung der 3. französischen Republik führte.

 

Man sieht schon, dass es sich beim Verfasser um jemanden handelte, der nicht vorzugsweise in den Kategorien ethnischer Kollektive dachte wie die meisten Zeitgenossen damals und heute. Aufenthalte in München und Frankfurt hatten ihm Freunde unter seinen deutschen Malerkollegen und Anerkennung beim Publikum gebracht. Er schrieb darüber: »So wie ich fordert Ihr, indem Ihr Freiheit für die Kunst verlangtet, Freiheit auch für die Völker. Mitten unter Euch, glaubte ich mich zu Hause und unter Brüdern; wir tranken auf das Wohl Frankreichs und auf die künftige europäische Republik; noch in München – vergangenes Jahr – schwörtet Ihr mit heiligen Eiden, Euch in keiner Weise an Preußen anzuschließen.« Es kam anders und die heiligen Eide waren schnell vergessen. Gustave Courbet aber – von ihm ist hier die Rede – hielt an seiner Überzeugung fest, dass, wer für seinen jeweiligen »Cäsaren« in den Krieg zieht, nur an den Ketten schmiedet, in die er selbst gelegt wird. So beschwor er die in Frankreich eingefallenen Soldaten von jenseits des Rheins in einem offenen Brief an die deutsche Armee, den er am 29. Oktober 1870 im Pariser Athenäum-Theater verlas, umzukehren, zu ihren Frauen und Kindern zurückzukehren: »Gebt Eurem natürlichen Empfinden nach, denn es ist schwierig, das Böse zu verhindern; Ihr werdet uns nicht vernichten, und Ihr werdet für Eure Taten vor der Menschheit büßen.«

 

Sein danach von ihm verlesener Brief an die deutschen Künstler hatte es noch mehr in sich. Zunächst kritisierte er sie und ihre Landsleute heftig dafür, nicht mehr, wie ihre Vorväter es taten, ihre Kaiser »manchmal zum Erzittern« zu bringen, sondern sich vor dem Preußenkönig »flach auf den Bauch zu werfen«, wenn der nur den Finger hebe. Spätestens seit der Ausrufung der Republik in Frankreich handele es sich um einen Krieg, der »infamer ist als die schmutzigsten Kriege des Feudalismus«. Dann folgte ein Appell an die Vernunft und an die gemeinsamen Interessen. Nicht umsonst hatte sein Freund Castagnary Courbet – nicht nur wegen Sujets wie den »Steineklopfern«, sondern wegen Courbets politischer Haltung seit der Revolution von 1848 – als »ersten sozialistischen Maler« bezeichnet: »Man nennt Euch bedürftig, umso besser; in Frankreich ist die Armut ein Zeugnis für Redlichkeit; allein die Reichen haben die Mittel zu stehlen; wir können uns also verständigen.« Courbet schlug vor, die Grenzpfähle zwischen Deutschland und Frankreich niederzulegen, die Zitadellen zu schleifen und die Armeen beiderseitig abzuschaffen, denn sie seien überflüssig, wenn es keine Grenzen mehr gebe: »Nur die Mörder werden noch töten, wenigstens ist dies unsere Hoffnung«. Dann werde man sich »abermals die Hand drücken, und wir werden anstoßen: auf die Vereinigten Staaten von Europa«. Am Schluss des offenen Briefes hieß es: »Lasst uns Eure Kanonen von Krupp, und wir werden sie mit den unsrigen zusammen einschmelzen; die letzte Kanone, die Mündung in die Luft, die phrygische Mütze obenauf, das Ganze auf ein Postament gesetzt, das seinerseits auf drei Kanonenkugeln aufliegt, und dieses kolossale Monument, das wir gemeinsam auf der Place Vendôme errichten werden, dies sei Eure Säule, Eure und unsere, die Säule der Völker, die Säule Deutschlands und Frankreichs, die dann auf immer vereint sind.« Auch diese Idee Courbets blieb eine schöne Utopie. Kanonen von Krupp spielten in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts weiter ihre Rolle. Der deutsche und der französische Rüstungsexport in alle Welt ist nach wie vor beträchtlich. Und zur Stärkung der Einheit und Rolle Europas wird heute der Aufbau einer gemeinsamen Militärmacht propagiert.

 

Im Übrigen stand seinerzeit auf der Place Vendôme bereits eine Säule, die 1806-10 zu Ehren Napoleons aus eingeschmolzenen, in der Schlacht von Austerlitz erbeuteten russischen und österreichischen Kanonen errichtet worden war. Sie wurde während der kurzen Zeit der Pariser Kommune von 1871 zerstört. Courbet wurde als Kunstkommissar der Kommune nach deren Niederschlagung für die Zerstörung verantwortlich gemacht und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. 1873 ging er in die Schweiz ins Exil, nachdem er in einem erneuten Prozess zum Schadensersatz für die Vendôme-Säule verurteilt worden war. Die Säule wurde selbstverständlich wiederhergestellt.              

 

Reiner Diederich

 

 

Europa

Was fällt mir zu Europa ein? Spontan, ohne viel darüber nachzudenken, abzuwägen … Meine erste Assoziation zu Europa: die Europäische Union (also nicht der Kontinent Europa). Meine zweite spontane Assoziation: Lobbyarbeit. Famose Lobbyarbeit der Großkonzerne, der, Achtung Neusprech: Global Player. Es werden Bestimmungen, Rechtsvorschriften platziert, Sicherheitsbestimmungen, Hygienemaßnahmen, Öffnungszeitenregelungen und Ähnliches. Zur Umsetzung dieser Maßnahmen bedarf es Investitionen. Gerade kleine Handwerksbetriebe, wie Fleischereien oder Bäckereien geraten, wollen sie alles umsetzen, an ihre Grenzen. Viele können ihr Angebot nicht mehr aufrechterhalten. Sie selbst oder ihre Nachfrage werden von großen Ketten »geschluckt«. Eine dritte Assoziation: Die Abschottung gegenüber Menschen anderer Region und Kultur, die vorsätzliche (passive?) Ermordung Tausender. Ansatzweise verirren sich humanistische Reflexionen in die Mainstreammedien. Eine weitere Assoziation ist eine Frage: Was hat die Europäische Union eigentlich mit Demokratie zu tun?          

 

Andreas Stahl

 

 

Unsere Zustände

Es gibt bei uns Leute, die es den Russen übel nehmen, dass wir ihnen vor mehr als siebzig Jahren großes Leid zufügten.

 

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Die Wahrheit ist ein Chamäleon.

 

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»So wahr mir Gott helfe!« Das ist der Missbrauch des lieben Gottes durch Politiker, die ihn mit solchem Schwur zu ihrem Assistenten machen.

 

Wolfgang Eckert

 

 

EU-Wahl 2019

Wählbar ins 9. Europäische Parlament am 26. Mai ist für Linke nur, wer diese EU ablehnt. Solches Paradoxon erklärt sich aus dem sogenannten EU-Reformvertrag von Lissabon 2009, der die Aufrüstung und die Nachordnung der sozialen Menschenrechte unter die Interessen der sogenannten freien Marktwirtschaft vereinbarte. Die darin enthaltene militärische und strukturelle Gewalt hinderte das norwegische Komitee nicht, die EU 2012 mit dem Friedensnobelpreis zu belohnen. Das verwundert nicht, wenn wir die Gleichschaltung mit den globalen Leitmedien bedenken.

 

Eine weitere Klärung ist mir wichtiger: das Verhältnis einer supranationalen Zentralmacht wie der EU zur Souveränität von Nationalstaaten. Nationalstaaten (größere in der föderalen Form) bieten durch gemeinsame Sprache eine Verwaltungsform an, die von Bürgern und der Legislative kontrolliert werden kann. Der öffentliche Debattenraum ist eine Voraussetzung für Demokratie, die nur dezentral lebensfähig ist. Öffentliche Auseinandersetzungen und handlungsfähige Gewerkschaften gehen immer von regionalen Verhältnissen aus.

 

Globale Solidarisierungen sind nicht ausgeschlossen, wenn es um Überlebensfragen geht. »Eine europäische Öffentlichkeit ist hingegen nicht vorhanden, für sie fehlen alle Voraussetzungen« schreibt Andreas Wehr (junge Welt 8.4.15 »Kampffeld ›Nationalstaat‹«). Wegen der neoliberalen Ideologie der EU, die den Sozialstaat abbaut, haben kürzlich 40 französische Wissenschaftler und Intellektuelle den Austritt auch Frankreichs aus der EU vorgeschlagen. Auch das Grundgesetz zeigt die Unvereinbarkeit mit der sogenannten EU-Verfassung auf: Nach Artikel 20 Absatz 1 ist die BRD ein »demokratischer und sozialer Bundesstaat«. Artikel 15 enthält sogar die Ermächtigung zu Sozialisierungen. Danach »stehen Nation und Sozialismus nicht mehr im Gegensatz zueinander«. Gramsci schrieb: »Gewiss treibt die Entwicklung auf den Internationalismus zu, aber der Ausgangspunkt ist national.« (zit. nach Wehr)                  

 

Manfred Lotze

 

 

Erinnerung an Carl von Ossietzky

Opposition gehört ins Parlament. Mir gefällt nur die Partei nicht, die sie seit der jüngsten Wahl im Bundestag ausübt. Angefangen vom Vogelschisshändler Gauland und der trampelnden Dame an seiner Seite, die im Plenum mit Stiefeln aufstampft wie durchgeknallt im Veitstanz.

 

Man fühlt sich an Forderungen erinnert, wie sie von weit rechts in der höchst gefährdeten Weimarer Republik gegen den 1931 zu Unrecht verurteilten und 1932 ins Gefängnis verbrachten Carl von Ossietzky erhoben wurden: Hier einige Beispiele: »Gegen ... politischen Verrat für Hingabe an Volk und Staat! Gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten … Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges[,] für Erziehung des Volkes im Geiste der Wehrhaftigkeit.« Exakt was die rechtslastigen Juristen gegen C. v. O. formuliert hatten, brüllten Studenten am 10. Mai 1933 bei der Bücherverbrennung, aufgestachelt von SS- und SA-Männern. (zitiert nach Kurt R. Grossmann: »Ossietzky, ein deutscher Patriot«, Suhrkamp Taschenbuch 1973)

 

Noch wirft niemand von der AfD Bücher ins Feuer, doch die von Hybris gepackten Funktionäre nehmen den Mund ganz schön voll. In den nächsten fünf Jahren möchten sie einen Dexit erreichen, raus aus der EU mit uns Deutschen, gestrichen werden sollen auch der Klimaschutz und die Gleichstellung von Mann und Frau. Außerdem auf der AfD-Agenda: Kampf gegen die Islamisierung im Staat.

 

Auf CDU/CSU als Abwehr gegen diese anti-europäische Krähwinkel-Partei ist kein Verlass, die kommen nicht raus aus ihrem eigenen reaktionären Quark. Ein glänzendes Exempel für Feigheit vor der AfD war in der jungen Welt vom 4. Januar zu lesen. »In einem ZDF-Interview ... bilanzierte der CDU-Politiker [Wolfgang Schäuble, I. Z.]: Es sei gar nicht so schlimm mit Gauland und Co. im Bundestag!« Na dann, es erwarten uns glänzende Zeiten.                     

 

Ingrid Zwerenz

 

 

Walter Kaufmann – 95

Über vierzig Bücher hat er geschrieben. Sie heißen unter anderem »Voices in the Storm« (1953, auf Deutsch »Stimmen im Sturm« 1977), »Wohin der Mensch gehört« (1957), »Am Kai der Hoffnung« (1974), »Wir lachen, weil wir weinen« (1977), »Die Zeit berühren« (1992), »Meine Sehnsucht ist noch unterwegs. Ein Leben auf Reisen« (2016), »Die meine Wege kreuzten. Begegnungen aus neun Jahrzehnten« (2018). Schon die Titel weisen auf Kampfgeist, Engagement, Verbundenheit mit der Zeit und Aufmerksamkeit für andere hin. Das hat ihn immer bewegt und beschäftigt, als Reisender, Beobachter und Schriftsteller. Es war – wir Leser wissen es aus seinen Büchern – ein langer und schwerer Weg, den der jüdische Junge über England und Australien gegangen ist, bis er 1957 einen »Hafen« in der DDR fand. Da waren britisches Internierungslager, Arbeit auf Schiffen und in Häfen und Fotografieren seine Universitäten gewesen. Kontakte zur Gewerkschaft und zur Friedensbewegung ergaben sich. Sein Sinn für Gerechtigkeit und seine Neugier leiteten ihn, und er wollte sich mitteilen. Das vor allem prägte auch seine Bücher, die er dann für DDR-Leser als Auslandsreporter über gesellschaftliche Brennpunkte in der Welt schrieb: Ein bisschen politischer Berichterstatter, ein bisschen Kumpel der einfachen Leute und auch ein klein wenig Abenteurer in einer Welt, die die DDR-Leser nicht kannten.

 

Walter Kaufmann haderte nicht mit seinem Jugendschicksal, das ihm höhere Bildung versperrte und die Eltern in Auschwitz umkommen ließ. »Das Leben war gut zu mir. Ich fühle mich nicht als Opfer«, ist seine trotzige Haltung. Aber umso dringlicher sein Appell, nichts zu vergessen. Deshalb beschrieb er sein Leben auf verschiedene Weise in mehreren seiner Bücher. Nie sieht er sich dabei isoliert oder alleingelassen. Überall fand er Unterstützer, Freunde, Gefährten. Diese Haltung vor allem ist es, die seine Bücher auszeichnet. So fand er seinen Stil, über sich zu schreiben, indem er Begegnungen mit anderen schildert. Immer neue Bekanntschaften fallen ihm dabei ein, immer bringt er in seinen Short Storys das zu Sagende auf den Punkt, immer ist Welt und Zeit in den Kurzporträts enthalten, wobei die Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz durchaus ihren Platz hat. Er liebt und akzeptiert das Leben, hat aber nie die Hoffnung aufgegeben, es ließe sich etwas ändern.

 

Dies aufzuschreiben, erübrigt sich fast in dieser Zeitschrift, in der Walter Kaufmann in zahlreichen Heften über sein Leseerlebnis berichtet und dabei auch einiges über sich verrät. Nie schrieb er dabei einen Verriss, denn er weiß, wie viel Herzblut ein Autor in sein Werk gibt, und er fühlt mit dem Kollegen, mit dem er sich am liebsten über Gelungenes freut. Er liest, was ihn interessiert, und sein Interesse ist breit. Oft sind es jüdische Schicksale aus aller Welt, aber auch auf die neuen Arbeiten seiner Kollegen aus der DDR ist er neugierig. Seinem Urteil kann man trauen, es ist so handfest und klug wie seine Bücher.

 

Am 19. Januar wird Walter Kaufmann 95. Er soll noch lange schreiben!

 

Christel Berger