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Titel120

Meyrink schreibt keinen Roman  (Monika Köhler)

Es klopft. So beginnt und endet ein Buch, das sich »Der unsichtbare Roman« nennt, geschrieben hat es Christoph Poschenrieder. Wer da klopft, ist kein Klopfgeist, obwohl der, um den es geht, sich hervorragend in dem Milieu auskennt. Ein realer Mensch klopft an eine reale Tür am Haus des Schriftstellers Gustav Meyrink, der gerade eine spiritistische Sitzung abhält. Die Apothekerswitwe glaubt, der da klopft, sei ihr verstorbener Mann. Der Pfandschein für den Schmuck, wo hat er ihn versteckt? Nur Ja-Nein-Fragen sind erlaubt. Es hört nicht auf zu klopfen. Meyrink muss die Seance kurz unterbrechen. Wer da vor seiner Tür steht, ist ein Abgesandter des Auswärtigen Amtes in Berlin mit einem persönlichen Brief: »Sie sollen einen Roman schreiben.« Er müsse sich schnell entscheiden, denn es eilt.

 

Warum? 1918, der Erste Weltkrieg, noch längst nicht beendet, man braucht einen Schuldigen. Meyrink ist irritiert, denkt an sein Image – aber es kommt auf die Honorierung an. Wer soll schuld sein? Die Freimaurer. Es hätten auch die Juden sein können. »Nicht alle Juden sind Freimaurer, aber viele Freimaurer sind Juden«, sagt Herr Hahn vom Auswärtigen Amt. Freimaurer, »ein anderer Ausdruck für einen Juden von Einfluss«. Meyrink hat weder gegen die einen noch gegen die anderen etwas. Für einen Okkultisten sind Freimaurer zu langweilig. Hahn denkt an einen Roman, Meyrink soll mit dem spielen, was die Menschen glauben wollen. Er wisse immer noch nicht, sagt er, was das Amt damit bezweckt. Er sieht sich als Satiriker, schreibt im Simplicissimus. Aber das Geld kann er brauchen. Sein Haus am Starnberger See will unterhalten werden, sein Automobil, seine Boote – alles das, was ihm vor allem sein Bestseller »Der Golem« 1915 eingebracht hat. Der Erfolg hielt nicht an.

 

Poschenrieder schreibt einen Roman über einen Autor, der einen Roman schreiben will, nein soll, einen Roman, der die Klischees im Kopf kennt – die freimaurerische Weltregierung. Aber wie schreibt man das? Poschenrieder streut immer wieder Dokumente ein, vom Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde bis zur Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

 

Tatsache ist, Poschenrieder hat das nicht erfunden, den Auftrag gab es. Meyrink erhielt nicht nur Geld, auch Material zum Thema vom Amt in Berlin. Nur, hat er überhaupt in die Schriften geschaut? Poschenrieder suggeriert: nein. Meyrink schob sein Schreiben auf, bis ein Brief vom Auswärtigen Amt ihn dringend mahnt, man wolle doch wenigstens noch vor Beginn der Friedensverhandlungen Mitte Januar herauskommen – alles, auch das Papier sei reserviert.

 

Eines ist Meyrink klar, wenn er überhaupt etwas schreibt, dann mit der Maschine, nicht wie sonst mit der Hand. Das wäre zu persönlich. Wie anfangen? Auch die zwei Stunden Yoga am Morgen helfen ihm nicht. Man müsste den Golem neu erfinden. Er beginnt: »Es klopft«, und schon stockt er. Wie weiter? Meyrink fährt immer mal nach München, trifft im Café Freunde, darunter Erich Mühsam, der ihn mit politischen Neuigkeiten versorgt und von der Revolution schwärmt. Mühsam ist in den Romanplan eingeweiht – nicht ganz. Wer am Krieg schuld sei? Na, »die Juden, wie immer und an allem anderen auch«. Das bringt ihn nicht weiter, das hatte er schon – im Golem. Ach was, Freimaurer. Meyrink schreibt, was er kennt, über sich. Und die Maschine klappert, das Farbband lässt nach – aber es flutscht gerade so gut. Er schreibt weiter, auch wenn nichts mehr zu erkennen ist. Frau Mena fragt, warum er so viel arbeite, wenn doch nur leere – aber nummerierte – Seiten dabei herauskommen? Die Lösung des Problems.

 

Poschenrieders Buch spielt mit Fakten und Fiktionen, mit Satire und bitterem Ernst, gespiegelt durch den kritischen Blick Gustav Meyers, der sich später Meyrink nennt. Poschenrieder gelingt es, den Autor Meyrink selbstüberheblich, lakonisch, manchmal albern, in all seinen Widersprüchen darzustellen, wobei er lustvoll in dessen Maßanzüge schlüpft. Widersprüche, die gab es auch beim Auswärtigen Amt in Berlin. Ein Brief vom Legationsrat von Hahn an Meyrink – ohne Datum, aber in den Akten des Bundesarchivs vermerkt. Von Hahn schickte ihm gleichzeitig Material der Großloge für Deutschland. Sein Kommentar: »In welchen verschwommenen Utopien bar jeder Menschen- und Weltkenntnis und jeden politischen Instinkts die deutsche Freimaurerei sich bewegt«, die deutsche, wohlgemerkt, »während die romanische und anglikanische mit nüchterner Berechnung politische Arbeit verrichtet«. Antwort von Meyrink (laut Bundesarchiv): »Das Freimaurerpreisbuch reizt einen beinahe, es abzuschreiben und als Groteske neu herauszugeben.« Etwas später, als von Hahn Meyrink am Starnberger See besucht, heißt es plötzlich, er solle jetzt nur noch die Freimaurer der »Feindstaaten« ins Visier nehmen. Ein guter Grund für Meyrink, alles hinzuwerfen, zu sagen: Alles umsonst. Dabei hat er noch nichts vorzuweisen. Order: »Sie kooperieren von nun an mit den Freimaurern im Reich.« Eine Abordnung wichtiger Persönlichkeiten soll er empfangen. Mehrere Recherchenotizen aus den Akten des Auswärtigen Amts bestätigen das. Der Legationsrat weist Meyrink auf die Veränderungen im Reich hin. Verhandlungen über einen Waffenstillstand laufen. Er erwähnt die aufsässigen Matrosen in Kiel. »Und Sie haben hier ja auch so einen Aufrührer.« Meyrink denkt, dass nur Eisner gemeint sein kann, zu einer seiner Reden hatte ihn Mühsam mitgeschleppt. Mühsam und Eisner – eine Art Konkurrenzverhältnis. Meyrink stand der Revolution skeptisch gegenüber, der Bayer sei zu träge dafür. Mühsam sagt, er habe die Revolution schon vor Eisner ausgerufen, nicht nur einmal. Zu Meyrink gewandt, verzweifelt: »Eisner hat mir die Revolution gestohlen.« Dann treibt Mühsam ihn zur Eile, das Buch fürs Auswärtige Amt betreffend: »Eisner macht Ernst mit der Kriegsschuldsache. Er will geheime Reichsdokumente veröffentlichen, die angeblich beweisen, dass Deutschland den Krieg begonnen hat. Im Auswärtigen Amt toben sie.«

 

Meyrink beeilt sich. In drei Wochen schafft er den Text, den er für sich jetzt den »unsichtbaren Roman« nennt. Aber, die Schuldfrage sei ein »totes Pferd«, so Mühsam zu seinem Freund. Denn mit der Veröffentlichung der Schulddokumente habe sich Eisner keinen Gefallen getan. »Wir sind doch nicht besiegt«, schreien die Leute. Und der Eisner, »dieser verschlagene, struppige kleine Berliner Jude, beschmiert uns mit Dreck«. Mühsam weiß mehr, er fragt Meyrink, wer denn am heftigsten gegen Eisner polemisiert habe, und beantwortet die Frage selbst: Na, »Ihre Freunde und Auftraggeber, das Auswärtige Amt«! Weitere Frage: »Was steht in Ihrem Roman?«

Meyrinks »unsichtbarer Roman« erschien nie. Aber ein sichtbarer, Anfang 1919, von Friedrich Wichtl, einem österreichischen deutschnationalen Politiker, unter dem Titel: »Weltfreimaurerei – Weltrevolution – Weltrepublik«. Kein Roman, eine Propagandaschrift, die viele Auflagen erlebte.

 

Christoph Poschenrieder: »Der unsichtbare Roman«, Diogenes Verlag, 271 Seiten, 24 €