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Titel120

Macht und Machtmaschine  (Klaus Nilius)

Rabindranath Tagore. In wie vielen Bücherschränken mögen seine Werke hierzulande noch stehen? Dabei war Tagore mit Werk und Wort im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer internationalen Berühmtheit geworden. 1913 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, als erster Nicht-Europäer. Ich zitiere aus der Begründung: »Für die einfühlsamen, lebendigen und schönen Verse, mit denen er in vollendeter Weise seine dichterischen Gedanken – in englischer Sprache – zu einer Komponente der abendländischen Literatur gemacht hat« (aus: »Ruhm und Ehre – Die Nobelpreisträger für Literatur«, Bertelsmann, 1970).

 

Die »schönen Verse« veröffentlichte Tagore in mehreren Lyrikbänden, die auf Deutsch im Kurt Wolff Verlag, München, erschienen. Sie trugen in der Übersetzung Titel wie »Sangesopfer« – vor allem für diesen Gedichtband, im Original »Gitanjali«, erhielt er den Nobelpreis –, »Der Gärtner« oder »Der zunehmende Mond«. Daneben schrieb Tagore Dramen, Romane und Erzählungen. Und Essays.

 

Einer davon, 1917 erstmals veröffentlicht, 1919 auf Deutsch, trägt den Titel »Nationalismus«. Dieses Bändchen liegt seit November vergangenen Jahres und damit gut 100 Jahre nach seinem Erstdruck in neuer Übersetzung wieder auf Deutsch vor. Es basiert auf drei Vorträgen, die Tagore 1916 in den USA und in Japan gehalten hat: zum Nationalismus in Japan, zum Nationalismus im Westen und zum Nationalismus in Indien. Die Hellsichtigkeit des Dichters für die Abgründe und Irrwege des Nationalismus, auf dessen Grunde sich »unsäglicher Schmutz angesammelt« hat (»Nationalismus«, S. 49), verblüfft noch heute.

 

Tagore wurde 1861 in Kalkutta geboren, wo er auch 1941 starb. Er stammte aus einer reichen Brahmanen-Familie, studierte bis 1883 in England englische Literatur. 1912 reiste er aus gesundheitlichen Gründen noch einmal nach England, übersetzte während seines dortigen Aufenthaltes die eigene Dichtung »ins Englische in so vollendetem Stil, daß diese Werke einen Höhepunkt in der englischen und damit europäischen Literatur jener Jahre bilden« (»Ruhm und Ehre«, S. 224).

 

Tagore wurde zu einem auf dem ganzen Globus gefeierten Dichter. Seine imposante Erscheinung – Fotos zeigen ihn mit wallendem Haar, langem Bart, forschenden Augen –, seine langen weißen Gewänder und der klangvolle Name machten ihn »zu einer Ikone des mystischen Ostens«, wie es im Vorwort des neu erschienenen Buches heißt (S. 7). Zu einem Guru, würde man vielleicht heute sagen. Als junger Mann hatte Tagore in Indien Deutsch gelernt und Heine-Gedichte ins Bengali übersetzt.

 

Und dennoch, trotz aller Weltläufigkeit, trotz aller Anglophilie, wurde er zu einem der schärfsten Kritiker der britischen Kolonial-Besatzer seines Landes, der westlichen Politik überhaupt. Bei der Verwaltung des Familiengutes hatte er Not, Drangsal und Elend des ungebildeten, einfachen Volkes kennengelernt. In der Folge entwickelte er eine Pädagogik, die den Kindern näher war als das englisch ausgerichtete Erziehungswesen. Er gründete eine Schule, die später zur Universität erweitert wurde. Und er nutzte seine Berühmtheit zu scharfen Verdikten gegen Kolonialismus und Nationalismus, mahnte allerdings im indischen Freiheitskampf auch zum Ausgleich mit England, mit Europa.

 

Seine drei Vorträge durchzieht eine große Frage: Was ist eine Nation? Tagore (S. 58): »Eine Nation, im Sinne der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung eines Volkes, ist das Aussehen, das eine ganze Bevölkerung annimmt, wenn sie für einen mechanischen Zweck organisiert wird.« Die Gesellschaft als solche habe dagegen »keinen weiteren Zweck: sie ist ihr eigener«. Sie regele die menschlichen Beziehungen in Kooperation miteinander.

 

»Macht«, beschränkt auf Menschen, die sie berufsmäßig ausüben, soll der Selbsterhaltung dienen. Doch wenn diese Organisationsform »zu wachsen anfängt und Reichtümer erzeugt, dann überschreitet sie ihre Grenzen mit erstaunlicher Schnelligkeit. Denn dann stachelt sie alle benachbarten Länder mit der Gier nach materiellem Wohlstand auf.«

 

»Es kommt die Zeit, da diese Macht nicht mehr innehalten kann, denn die Konkurrenz wird schärfer, die Organisation wuchert immer weiter und die Selbstsucht gelangt zur Alleinherrschaft. Sie spielt mit der Gier und Angst der Menschen und nimmt immer größeren Raum in der Gesellschaft ein; am Ende ist sie deren beherrschende Kraft.«

 

Tagore: »Dieser Zustand führt unvermeidlich zu ständigen Kämpfen zwischen den einzelnen Elementen, die nicht mehr durch die Ganzheit der menschlichen Ideale zusammengehalten werden, und zwischen Kapital und Arbeit herrscht immerwährender Krieg. Denn die Gier nach Reichtum und Macht kann niemals ein Ende finden.« (S. 60)

 

Diese Organisation von Politik und Wirtschaft, das ist die Nation, der Nationalstaat, »in intensiver wirtschaftlicher und militärischer Konkurrenz mit anderen Nationalstaaten gefangen« (Vorwort, S. 9). Als solcher repräsentiert der Nationalstaat den »organisierte[n] Eigennutz eines ganzen Volkes…, jene[n] Zug an ihm, der am wenigsten menschlich und geistig ist«.

 

Tagore: »Noch nie gab es so fürchterliche Eifersucht, einen solchen Verrat an Vertrauen; all dies nennt man Patriotismus, und dessen Glaubensbekenntnis heißt Politik.«

 

Der Dichter sieht auch beunruhigt die Gefahr eines aggressiven nichtwestlichen Nationalismus, warnt das erstarkende Japan vor der »Akzeptanz der Antriebsenergie des westlichen Nationalismus«, ganz so, als hätte er schon 1916 Japans kommenden Militarismus und seine imperialistische Rolle im Zweiten Weltkrieg vorausgeahnt: »Ich sehe das … Motto ›Der Stärkere überlebt‹ über dem Eingang zu Japans Gegenwartsgeschichte geschrieben.« (S. 38)

 

Was hätte Tagore wohl zu der Situation im heutigen Indien gesagt, wo Premierminister Narendra Modi seit 2014 zusammen mit seiner Partei (BJP) den Hindustaat propagiert, bei der nationalen Parlamentswahl mit deutlicher Mehrheit gewählt? Eine mögliche Antwort des Dichters findet sich im Vorwort (S. 12): »Das Volk akzeptiert diese allgegenwärtige Bewusstseinssklaverei fröhlich und stolz, weil es das nervöse Bedürfnis hat, sich in eine Maschine der Macht zu verwandeln, eine sogenannte Nation, und anderen Maschinen in ihrer kollektiven Weltlichkeit nachzueifern.«

 

Sechs Jahre vor Tagore hatte übrigens schon einmal ein Dichter den Literaturnobelpreis erhalten, der ebenfalls in Indien, und zwar in Bombay, geboren worden war: Rudyard Kipling, heute vor allem als Verfasser der beiden zeitlosen Dschungelbücher und des Romans »Kim« noch bekannt. Er war sozusagen ein Antipode zu Tagore: ein überzeugter Imperialist. Nach Kiplings Auffassung »war es Aufgabe des ›weißen Mannes‹, für Recht und Ordnung in der Welt zu sorgen« (»Ruhm und Ehre«, S. 92).

 

Schon Tagore machte wenige Jahre später in seinen Vorträgen deutlich, wieviel Unrecht und Unordnung in der Welt darauf zurückgehen, dass eben dieser weiße Mann seine »Aufgabe« äußerst kompromisslos erfüllt. Und das ist bis heute so geblieben.

 

Rabindranath Tagore: »Nationalismus«, aus dem Englischen von Joachim Kalka, mit einem Vorwort von Pankaj Mishra, Berenberg Verlag, 120 Seiten, 22 €