Sehr geehrter Herr Präsident,
es ist etwas geschehen, was nicht geschehen durfte: Das Parlament der Bundesrepublik Deutschland hat Joseph Goebbels, dem Minister für Volksaufklärung und Propaganda des Nazistaates, das letzte Wort über den Reichstagsbrand gegeben. Die vom Deutschen Bundestag herausgegebene Wochenschrift berichtete (es muß Ihrer Aufmerksamkeit entgangenen sein, und ich bin erst jetzt im Zuge einer Recherche über den Reichstagsbrand darauf gestoßen) am 28. Januar in der Rubrik »Thema der Woche«: »Friedlich saßen sie beisammen, scherzten, palaverten und lauschten klassischer Musik. In Goebbels’ Charlottenburger Privatwohnung herrschte am Abend des 27. Februar 1933 ausgelassene Stimmung. Hitler war zu Gast, und man amüsierte sich prächtig. Bis gegen halb zehn das Telefon klingelte. Joseph Goebbels nahm den Hörer ab und wollte partout nicht glauben, was ihm der NS-Auslandspressechef zu berichten hatte. ›Der Reichstag brennt!‹, schrie Ernst Hanfstaengl durch die Leitung. ›Hanfstaengl, soll das ein Witz sein?‹, erwiderte der Berliner Gauleiter erstaunt und verbuchte den Augenzeugenbericht seines Parteigenossen zunächst als ›Phantasiemeldung‹, bevor er sich mit Hitler alsbald vom Gegenteil überzeugen konnte.«
Das ist im Gewand objektiver Geschichtsschreibung die Volksaufklärung des Dr. Joseph Goebbels, wie er sie schon 1934 in seinem Tagebuch »Vom Kaiserhof zur Staatskanzlei« veröffentlicht hat. Und wie sie der Hitler-Vertraute Hanfstaengl 1970 in seinen Memoiren schildert: Hitler und Goebbels waren völlig überrascht und müssen somit unschuldig am Reichstagsbrand sein.
Etwas anderes erfährt der Parlament-Leser nicht. Das Parlament verrät nicht, was bei Hanfstaengl zu lesen ist, wenn man nur eine Seite weiterblättert: »Mir wurde allmählich klar, daß Goebbels, als wir am Abend des Reichstagsbrandes miteinander telefoniert hatten, Theater gespielt hatte.« Es sei Goebbels darum gegangen, »für sich und Hitler ein Alibi zu schaffen«. Hanfstaengl 1970 weiter: »In der letzten Zeit hat man wiederholt versucht, indem man meine Äußerungen verstümmelt wiedergab, mich als Zeugen der Überraschung Hitlers und Goebbels’ zu zitieren. Ich habe den Betreffenden meine Meinung gesagt, leider sind sie in ihren Publikationen nicht darauf eingegangen.« Und nun ist es Das Parlament, das Hanfstaengls Äußerungen verstümmelt wiedergibt.
Der Auslandspressechef war – angeblich aus Kostengründen – im Palais des Reichstagspräsidenten untergebracht. Er vermutete: »Wollte man mich am Tag des Brandes etwa als Zeugen ausschalten?« Denn zuvor war er – so seine Darstellung – mit schwerem Fieber im Reichtagspalais liegend mehrfach vergebens vom Adjutanten Hitlers aufgefordert worden, zum gemeinsamen Abendessen bei Goebbels zu erscheinen.
Es gibt noch eine dritte Darstellung. Bahar und Kugel zitieren sie in ihrem Buch »Der Reichstagsbrand« (Seite 595) mit Vorbehalten: Hanfstaengl war selbst mit Goebbels und Göring an der Brandstiftung beteiligt und wurde zu diesem Zweck in das Palais des Reichstagspräsidenten einquartiert.
Warum Das Parlament unter drei Möglichkeiten ausgerechnet die Erzählung von Goebbels’ Unschuld bei friedlichem Mahl und klassischer Musik wie eine objektive Wahrheit kolportiert, das verstehe ich nicht, und das werden auch Sie, sehr geehrter Herr Dr. Lammert, wenn Sie es lesen, nicht verstehen.
Dieser Goebbels-Skandal im Parlament könnte und sollte gute Folgen haben. Der Volksaufklärungsminister darf nicht das letzte Wort behalten in einer Frage, die unter ernsthaften Historikern immer noch umstritten ist.
Sie. Herr Präsident, haben im April vor dem Deutschen Bundestag festgestellt, daß der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 »das Mittel zur verschärften staatlichen Verfolgung politischer Gegner, zur brutalen Zerschlagung jeder Opposition, in den Parteien, den Gewerkschaften, den Kirchen und unter den Intellektuellen« war. Von insgesamt 1.583 damals noch lebenden amtierenden oder ehemaligen Reichstagsabgeordneten, so erinnerten Sie, »mußten nach dem 30. Januar 1933 über 300 massive Behinderungen und soziale Einbußen hinnehmen, wurden aus ihren Berufen verdrängt und um ihr Vermögen gebracht«. Infolge des Reichstagsbrands wurden, darauf wiesen Sie hin, »wenigstens 416 Mandatsträger von der Justiz verurteilt und von SA oder SS inhaftiert, wobei mindestens 73 während dieser Haft ums Leben kamen«.
Sie vergaßen auch nicht. was uns von der Zeitschrift Ossietzky besonders bewegt: »Unter den noch am 28. Februar 1933 in sogenannte Schutzhaft genommenen Literaten und Publizisten befanden sich Carl von Ossietzky, Erich Mühsam und Egon Erwin Kisch.«
Wir wollen wissen, warum Carl von Ossietzky sterben mußte, und Sie, Herr Bundestagspräsident, daran kann Sie keine Erzählung des Parlaments hindern, Sie müssen wissen, wie es geschehen konnte, daß mindestes 73 Mandatsträger ums Leben kamen. Doch der Reichstagsbrand und seine Verursacher schweben bis heute im Dunkel einer unaufgeklärten Geschichte. Das vom Deutschen Bundestag herausgegebene Parlament hält es für »nicht mehr sonderlich relevant, den oder die Täter wissenschaftlich dingfest zu machen, um damit die planvolle Brutalität des NS-Regimes« zu unterstreichen. Darum vertraut Das Parlament der Wahrheit des Volksaufklärungsministers und Berliner Gauleiters.
Deshalb schlage ich Ihnen vor: Berufen Sie, sehr geehrter Herr Präsident, für den Deutschen Bundestag einen alljährlichen Kongreß ein, auf dem Historiker und Juristen aller Seiten vertreten sind, der Anhänger und der Gegner der These von der Unschuld der Nazis am Reichstagsbrand. Dieser alljährliche Kongreß soll so lange Forschungsaufträge an paritätisch besetzte Kommissionen vergeben, bis erforscht ist, was zu erforschen ist. Ich hoffe – Sie, Herr Präsident, sind 59, ich bin 73 – noch zu unseren Lebzeiten.
Mit freundlichen Grüßen
Otto Köhler