Nach dem Bundesarchivgesetz und dem Informationszugangsgesetz müssen in Deutschland alle amtlichen Vorgänge, die nicht ausdrücklich für »geheim« erklärt sind, nach dreißig Jahren offengelegt werden. Und wenn etwas für »geheim« erklärt wird, kann der Bürger dagegen die Gerichte anrufen. Diese Gesetze sollten auch für Geheimdienste wie den Bundesnachrichtendienst und dessen Dienstherrn, das Bundeskanzleramt, gelten. Doch die Praxis sieht anders aus. Da meint der BND, daß für ihn nur das Bundesarchivgesetz gelte. Daher gebe er von sich aus die abgelegten Vorgänge ans Bundesarchiv nach Koblenz ab – wenn er sie für abgelegt halte.
Vor über einem Jahr habe ich beim Bundeskanzleramt Einsicht in die Akten beantragt, die sich auf den Aufenthalt des Kriegsverbrechers Adolf Eichmann in Argentinien beziehen sowie auf die deutsch-argentinische militärische Zusammenarbeit in den fünfziger Jahren. Man könnte annehmen, das ist ein normaler Vorgang – kein Staatsgeheimnis, das es nach einem halben Jahrhundert noch zu verstecken gilt. Eine falsche Annahme.
Zunächst die übliche Hinhaltetaktik: »Wir bitten um Geduld«, »Wir bemühen uns«, »Wir suchen« und so weiter. Dann verwies man mich auf das Bundesarchiv in Koblenz, wo die Bestände des Kanzleramtes und des Bundesnachrichtendienstes aufbewahrt würden. Aber die einzigen Archivalien des BND dort sind Wochen- und Tagesberichte zu allgemeinen Ereignissen des Weltgeschehens. Seine Akten bewahrt der BND immer noch bei sich in Pullach auf, und dort können sie nicht eingesehen werden. Das entspricht zwar nicht dem Sinne der Gesetze, wird aber so gehandhabt.
Am Ende rückte das Kanzleramt ein Trostpflaster heraus: zwar nicht die beantragte Akte »Eichmann in Argentinien«, aber Unterlagen zu Eichmann in israelischer Haft. Man habe es sich schwer gemacht, behauptete das Kanzleramt: Man habe die Geheimhaltung sämtlicher Vorgänge aufheben müssen. Tatsächlich prangen auf vielen Seiten des Dossiers Geheimstempel – als hätte die nationale Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auf dem Spiel gestanden. Aber die Stempel sollten wohl nur Peinlichkeiten verdecken.
Die Akte beginnt am 30. Mai 1960, also eine Woche nachdem Eichmann in Israel gelandet war. Da wurde in Bonn eine Art Krisenstab, wie man heute sagen würde, eingerichtet. Das Auswärtige Amt sorgte sich, daß, so wörtlich, »im Verlauf des Eichmannprozesses belastendes Material gegen Bedienstete der Verwaltung des Bundes und der Länder bekannt werden wird«. Das Amt fragte beim Staatssekretär des Bundeskanzleramtes, Hans Globke, nach, welche »Maßnahme« zu ergreifen und wie der Kritik zu begegnen sei. Vorsorglich versicherte das AA, daß »keine neue Entnazifizierung in Gang gesetzt« werden soll.
Nun könnte man meinen, daß der Krisenstab zunächst einmal prüft, ob und wieviele Altnazis im jungen Bonner Staat hoheitlich tätig sind. Aber das wurde unterlassen. Sonst wäre man darauf gestoßen, daß ausgerechnet der Leiter dieses Krisenstabes, Staatssekretär Globke, während des Dritten Reiches einen Kommentar zu den Nürnberger Rassengesetzen verfaßt hatte, der dazu diente, die Juden systematisch zu entrechten. Statt dessen listete das Bundesjustizministerium auf 49 Seiten auf, wie viele Kriegsverbrecher von den Alliierten und wie viele von der bundesdeutschen Justiz verurteilt worden waren. Was daran geheimhaltungsbedürftig war, ist unklar.
An Globke schrieb auch Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm, der nach einer Meldung des KPD-nahen Freiheitssenders 904 bei einem Argentinienbesuch mit Eichmann zusammengetroffen sein soll. Seebohm kann das nicht ausschließen. Aber er hatte, schrieb er, »keine Ahnung, daß es sich bei ihm um einen mit Recht gesuchten Nationalsozialisten handelt«. Vielleicht hielt er die Suche für Unrecht. Globke empfahl, auf den Vorwurf nicht weiter einzugehen, da die Presse die Meldung nicht aufgegriffen hatte.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz nahm die Mitglieder des »Eichmann-Komitees« unter die Lupe: westdeutsche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die den Eichmann-Prozeß in Jerusalem begleiten wollten. Es beschrieb die Umtriebe des Münchner Professors Hans Rheinfelder aus dem Bayerischen Kultusministerium, der »aus seiner ultra-katholischen Einstellung heraus in Gegnerschaft zur Aufrüstungspolitik geraten« sein soll. Es folgte eine Liste der Aufrufe für den Frieden, die Rheinfelder unterzeichnet hatte.
Höchst verdächtig ist auch Professor Alexander Schenk Graf von Stauffenberg, Vorsitzender des Kuratoriums »Unteilbares Deutschland«. Wie Rheinfelder hat auch er sich durch seine Proteste gegen die Atombewaffnung verdächtig gemacht. Als Mitglied des Komitees wird ferner der Schriftsteller Leonhard Frank genannt, ein Anarchist und Kommunist. Er habe die SBZ bereist, die »sogenannte DDR«, ein Staatsfeind also, der Bücher wie »Der Mensch ist gut« verfaßt hat. Solche Leute mußte der Verfassungsschutz ins Visier nehmen.
Auf die Akte »Eichmann in Argentinien« warte ich immer noch. Und alle meine Fragen nach der militärischen Zusammenarbeit zwischen Argentinien und der Bundesrepublik hat das Bundeskanzleramt einfach überhört. Wenn ich etwas vom Bundesnachrichtendienst wissen wolle, solle ich mich direkt nach Pullach wenden. Will das Kanzleramt mit dem BND nichts zu tun haben? Es scheint so.