Ende Januar erfuhren die Hamburger Gewerkschaftsmitglieder, warum der DGB die ursprünglich vorgesehene 1. Mai-Demonstration statt wie vorgesehen zum Museum der Arbeit in Barmbek zum Spielbudenplatz auf St. Pauli verlegen wollte: Faschisten hatten – ebenfalls für den 1. Mai und ebenfalls in Barmbek – einen Aufmarsch angemeldet, und zwar wenige Tage vor dem DGB. Von Fassungslosigkeit bis Wut reichten die Reaktionen vieler aktiver, vor allem älterer Kolleginnen und Kollegen, als das Datum der Anmeldung genannt wurde: Juni 2007. Warum hatten die Vorstände von DGB und Einzelgewerkschaften sieben Monate geschwiegen, warum nicht umgehend die Mitglieder mobilisiert und Einspruch erhoben bei Bürgerschaft, Senat und Gerichten? Bis heute gibt es auf diese Fragen keine Antwort.
Trotzdem gelang es dem DGB, für seinen Vorschlag einer Maifeier auf dem Spielbudenplatz die Zustimmung der zuständigen Gremien zu erhalten. DGB-Vorsitzender Erhard Pumm: »Wir wollen uns an unserem Feiertag nicht auf die Rolle des Gegendemonstranten der Nazis reduzieren lassen.« Es blieb der DGB-Jugend und mit ihr solidarischen Kolleginnen und Kollegen, im Bündnis mit mehreren sozialen und antifaschistischen Gruppen und Organisationen, überlassen, isoliert von den übrigen Gewerkschaftsmitgliedern gegen den Aufmarsch der Faschisten Präsenz zu zeigen. Der Hamburger Ortsvereinsvorstand des ver.di-Fachbereichs Medien, Kunst und Industrie machte in einem Offenen Brief an die Gewerkschaftsvorstände den Vorschlag, zumindest durch eine gemeinsame Auftaktkundgebung am Gewerkschaftshaus die Einheit gewerkschaftlichen Auftretens zu wahren und anschließend teils nach Barmbek, teils nach St. Pauli zu demonstrieren: »Vor genau 75 Jahren haben die Nazis die damaligen Gewerkschaften zerschlagen und die Gewerkschaftshäuser okkupiert – zur Erinnerung daran wurde vor fünf Jahren in einer Feierstunde ›ehrenden Gedenkens‹ am DGB-Haus am Besenbinderhof eine Tafel angebracht. Und jetzt, bei der ersten Provokation der Nachfahren jener Nazi-Banden durch ihre Okkupation unseres Kundgebungsplatzes, sollen wir zurückweichen? Was ist das für ein ehrendes Gedenken an diejenigen, die vor 75 Jahren in die Gefängnisse geprügelt wurden, die im weiteren Verlauf durch die Nazi-Banden zu Tode gekommen sind?« Der Brief, unterstützt von Kolleginnen und Kollegen aus mehreren Gewerkschaften, blieb unbeantwortet.
Einen Tag vor der Erstürmung der Gewerkschaftshäuser, am 1. Mai 1933, waren Millionen gewerkschaftlich organisierter Kolleginnen und Kollegen unter Hakenkreuzfahnen den Marschkolonnen der Nazis zugeordnet. Die damalige Gewerkschaftsführung hatte sie dazu aufgerufen: »Der Bundesausschuß des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes begrüßt den 1. Mai 1933 als gesetzlichen Feiertag der nationalen Arbeit und fordert die Mitglieder der Gewerkschaften auf, im vollen Bewußtsein ihrer Pionierdienste für den Maigedanken, für die Ehrung der schaffenden Arbeit und für die vollberechtigte Eingliederung der Arbeiterschaft in den Staat sich allerorts an der von der Regierung veranlaßten Feier festlich zu beteiligen.« Die Erwartung, mit diesem Aufruf die Weiterexistenz der gewerkschaftlichen Organisationen sichern zu können, erfüllte sich nicht.
Zweifellos meinte der Hamburger DGB-Vorsitzende, was er sagte, als er drei Tage vor dem diesjährigen 1. Mai forderte: »Die Erinnerung an die NS-Verbrechen wach zu halten, ist eine unverzichtbare politische Pflicht.« Nachvollziehbar war auch sein Hinweis, »daß es politisch kurzsichtig wäre, die gewerkschaftliche Kundgebung und die gewerkschaftliche Botschaft des Tages der Arbeit in eine reine Anti-Nazi-Veranstaltung umzufunktionieren«. Aber in Barmbek wurde nichts umfunktioniert. Im Gegenteil: Mehrere Redner mahnten: Zur Verwirklichung »gewerkschaftlicher Botschaften« müßten gesellschaftliche Verhältnisse erkämpft werden, die eine Wiederholung faschistischer Herrschaft – in welchem Gewand auch immer – unmöglich machen. Die Aushöhlung demokratischer Strukturen – vom großen Lauschangriff über Videoüberwachung und gläsernen Bürger bis hin zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren – werde von Tätern im Nadelstreifenanzug betrieben; der Aufmarsch der Faschisten unter dem Schutz der Polizei, nur wenige hundert Meter von der Gegendemonstration entfernt, sei Ausdruck der sich zum Nachteil der arbeitenden und arbeitlosen Bevölkerung ändernden sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse.
Selbst in dieser Frage scheint es keinen Widerspruch zur Hamburger DGB-Führung zu geben: Erhard Pumm schloß einen Rundbrief mit dem Hinweis, »daß starke soziale Unsicherheiten und skandalöse Ungerechtigkeiten dem Rechtsradikalismus helfen, Aufmerksamkeit zu finden. Auch deshalb ist es von herausragender Bedeutung, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und dem Wiederaufbau sozialer Sicherheiten erste Priorität zu geben«. Ihm wäre zuzustimmen – vorausgesetzt, den Worten folgte das entsprechende gewerkschaftliche Handeln.
Was hält die Gewerkschaftsführungen davon ab, wovor scheuen sie zurück? Sie fürchten, daß die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung in Frage gestellt wird. Sie möchten eine Demokratie verteidigen, von der sie sehen, daß sie ausgehöhlt wird – im Widerspruch zu den Interessen ihrer Mitglieder und großer Teile der Bevölkerung. Bertolt Brecht (1935): »Die Geschäfte des Kapitalismus sind nun in verschiedenen Ländern (ihre Zahl wächst) ohne Rohheit nicht mehr zu machen. Manche glauben noch, es ginge doch; aber ein Blick in ihre Kontobücher wird sie früher oder später vom Gegenteil überzeugen. Das ist nur eine Zeitfrage. Es kann in einem Aufruf gegen den Faschismus keine Aufrichtigkeit liegen, wenn die gesellschaftlichen Zustände, die ihn mit Naturnotwendigkeit erzeugen, in ihm nicht angetastet werden. Wer den Privatbesitz an Produktionsmitteln nicht preisgeben will, der wird den Faschismus nicht loswerden, sondern ihn brauchen.« Vor die Frage gestellt, ihre wirtschaftliche Macht oder die Demokratie preiszugeben, werden sich, das deutet sich bereits an, mehr und mehr Unternehmer für letzteres entscheiden. Die Gewerkschaftsführungen verbinden mit ihrem Demokratieverständnis nach wie vor die Sicherung der gegebenen Eigentumsverhältnisse, obwohl sie wahrnehmen, daß diese fortwährend zugunsten der Unternehmerseite verändert werden. Diesen Prozeß umzukehren, wagen sie nicht. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres zögerlichen Verhaltens auch gegenüber zunehmenden faschistischen Tendenzen in unserer Gesellschaft.
»Es hätte Tote geben können.« Regierungsvertreter und Medien vermittelten der Öffentlichkeit das Bild eines Tages der Krawalle, Schlägereien und Brandlegungen. Allenfalls am Rande wurde erwähnt: 10.000 folgten dem Aufruf des Bündnisses gegen Rechts und demonstrierten friedlich durch Barmbek, darunter 1500 Gewerkschafter (ebenso viele wie auf der offiziellen Maidemonstration des DGB). 43 soziale Einrichtungen und Geschäfte aus dem Stadtteil hatten mit Plakaten »Barmbek sagt Nein zu Neonazis« für die Beteiligung der Bewohner des Arbeiterviertels geworben. In neun Kirchen läuteten um 14 Uhr die Glocken als Zeichen des gemeinsamen Protestes. Was die Schlag-Zeilen und Bild-Berichte prägte, ereignete sich, weil die Kundgebung der Faschisten – aufgrund einer kurzfristigen Gerichtsentscheidung außerhalb des Barmbeker Wohngebiets – von der Polizei dem herrschenden Demokratieverständnis entsprechend durchgesetzt werden mußte. Der Versuch überwiegend autonomer Gruppen, ein Zustandekommen auch dieses Treffens zu verhindern, vor allem aber die angeblich (auch durch V-Leute) nicht voraussehbare Gewaltbereitschaft der Rechtsextremisten hatten die Auseinandersetzungen zur Folge.
Zu den besonders Geschädigten der Auseinandersetzungen gehört der Reifenhändler Jean-Paul Toupka an der Bramfelder Straße. 3000 Reifen in seinem Lager gingen in Flammen auf. Das Bündnis gegen Rechts bereitet ein Benefizkonzert mehrerer Hamburger Bands vor, um dem Familienvater, der die Ware nicht versichert hatte und infolgedessen jetzt vor dem Ruin steht, zumindest einen Teil des Schadens zu ersetzen. Die Veranstaltung könnte Anlaß für eine notwendige Diskussion innerhalb des linken Spektrums werden.
Die gemeinsame Auswertung dieses 1. Mai steht noch aus. Zu den Forderungen an den DGB sollte gehören, daß er mit den antifaschistischen Organisationen vor Ort zusammenarbeitet. Es ist den Faschisten zwar nicht gelungen, wie beabsichtig nach Barmbek einzudringen, aber sie konnten mit ihrer Provokation einer »nationalen Maifeier« den gewerkschaftlichen Widerstand spalten.