Das Supergedenkjahr steht unter keinem guten Stern. Erst die zu Jahresbeginn beklagte zunehmende »Verklärung der DDR« – über 50 Prozent der Ostdeutschen wünschen sich die Errungenschaften aus dem untergegangenen frühsozialistischen Staat zurück, bei Bildung und im Gesundheitswesen sind es gar 86 Prozent – und nun das Krisendebakel und die Offenbarung der schwerwiegenden Systemdefekte der spätkapitalistischen Bundesrepublik. Schlechte Aussichten für den geplanten Massenjubel zum 20. Jahrestag der »friedlichen Revolution«. Selbst die Berliner Zeitung klagt: »Was ist das nur für ein verkorkstes Jubiläumsjahr!« Wer will dem schon widersprechen? Ein Krisenjahr ist ein schlechtes Jubeljahr. »Der Krise sei Dank; wir müssen uns nicht freuen«, bringt der verbitterte Joachim Gauck, Ex-Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, die Stimmung im Land auf den Punkt und sieht keine Spur von Freude, Dankbarkeit und Stolz. Das hat Auswirkungen selbst auf die Feierlichkeiten zum 20. Revolutionsjubiläum. Ursprünglich war vorgesehen, unter dem Jubel herbeigeströmter Massen im Herzen Berlins ein Einheits- und Freiheitsdenkmal zu enthüllen. Daraus wird nichts. Jetzt wird sogar darauf verzichtet, aus diesem Anlaß den Grundstein für das Monument zu legen, obwohl der Jury doch 532 Gestaltungsvorschläge, darunter treffenderweise eine auf einen Sockel ruhende riesengroße Banane, unterbreitet wurden.
Angesichts der Krise kann das erhoffte Jauchzen und Frohlocken allzu leicht in Wehgeschrei und Zorn untergehen. Es drohen gar soziale Unruhen. Im bundesdeutschen Land der Ungerechtigkeiten können Untaten des »Unrechtsstaates« aus dem Blick geraten. Gegenmaßnahmen sind erforderlich und werden ergriffen. Neben Bankenpleiten, Firmeninsolvenzen, wachsender Arbeitslosigkeit und sozialer Not gibt es immer wieder Wichtiges und Dringendes über die DDR zu vermelden. Uralte Geschichten über Doping in der DDR werden unter Ausklammerung der Praxis in der BRD hervorgekramt und medial aufgeblasen. Statt die Birthlerbehörde einzusparen, wird im Land Brandenburg erstmals ein Stasi-Beauftragter installiert. Im Eilverfahren wird in Potsdam eine KGB-Gedächtnisstätte eingeweiht. Stasi-Gefängnis-Chefkurator Hubertus Knabe jammert, daß nur neun Prozent seiner Besucher ostdeutscher Herkunft sind, und rührt verstärkt die Werbetrommel für seine Bildungseinrichtung. Bilden will auch die Kanzlerin. Im Berliner Martin-Gropius-Bau eröffnete sie zum 60jährigen Grundgesetzjubiläum die Ausstellung »60 Jahre. 60 Werke«, in der die Kunst der DDR völlig ausgegrenzt ist. Aus gutem Grund, den der Sprecher der Exposition, Walter Smerling, Chef der Stiftung für Kultur und Kunst in Bonn, im Katalog treffend beschreibt: »Ich denke, die Problematik der DDR wird im Laufe der Zeit als häßlicher Regentropfen verdunsten. Die DDR spielt für die Entwicklung der Kunst eigentlich keine Rolle.« Das sitzt! Kurz nach der Ausstellungseröffnung besuchte Frau Merkel Knabes Wirkungsstätte, in der zu DDR-Zeiten laut ZDF »systematisch gefoltert« wurde. Guantanamo mitten in Berlin!
»Zwischen Unrechtsstaat und Ostalgie – neuer Streit um das DDR-Erbe« lautete jüngst das Thema der Talk-Runde bei Anne Will, in der die Experten Thierse, Schäuble und Knabe wortreich nachwiesen, daß der verblichene Staat eben einer des Unrechts war. Die FDP in Mecklenburg-Vorpommern beschloß einstimmig, daß die DDR ein »Unrechtsstaat« war. Basta! Wer widerspricht, wird erschossen!
Nein, das doch noch nicht, aber es mehren sich die Stimmen, die die Leugnung des Unrechtscharakters der DDR unter Strafe stellen wollen. Die Thüringer Stasi-Beauftragte Hildigund Neubert meint, eine solche Bestrafung werde helfen, »dem Verbreiten totalitärer Gedanken entgegenzutreten«, und die Vize-Generalsekretärin der CDU, Dorothee Bär, fordert, daß diejenigen, die das »Unrecht von SED und Stasi« leugnen, »in Zukunft nicht mehr ungeschoren davon kommen (dürfen)«.
Doch diese und andere Absurditäten bewirken wenig oder nichts oder das Gegenteil. Ein großer Teil der Ostdeutschen will sich partout nicht dem vorgegebenen Delegitimierungsschema anpassen, schon überhaupt nicht im Krisenchaos. Das läßt Schlimmes befürchten, denn das Gedenk- ist schließlich auch ein Wahljahr. Nichts wäre verheerender, als wenn die Bundestagswahlen erneut in Ostdeutschland entschieden würden. Folglich muß die Aufarbeitung der SED-Diktatur zumindest taktisch geändert werden. Statt die DDR und ihre Ex-Bürger de facto in einen Topf zu werfen – krasses Beispiel: »Die Leute drüben sind verzwergt und verhunzt« (Arnulf Baring, laut Bild »Deutschlands klügster Kopf«) –, ist künftig säuberlich zwischen der verdammenswerten DDR und ihren wunderbaren Bürgern zu unterscheiden. Den Auftakt zu diesem Wechsel gab der SPD-Mann mit dem Marx-Bart, der trotz früherer Tätigkeit im Kulturministerium und in der Akademie der Wissenschaften der DDR mit dem Verfasser des »Kapitals« wenig im Sinn hat: Bundestagsvizepräsident Thierse. In der Berliner Zeitung verkündete er: »Wir müssen unterscheiden zwischen dem System namens DDR und den Menschen, die in diesem System gelebt haben. Das System ist gescheitert, aber die Menschen sind nicht gescheitert.« Flugs stimmten seine Parteifreunde zu. Fraktionschef Struck zitierte ihn geradezu: »Wir müssen zwischen dem gescheiterten System und den Menschen unterscheiden dürfen.« Berlins Regierender Wowereit ging noch einen Schritt weiter. Er sieht keinen Grund, »irgendwelche Verharmlosungen des Systems zuzulassen«, aber »die Menschen in der DDR haben in millionenfacher Art und Weise Gutes geleistet und können zu ihrem Lebenswerk stehen«.
Ja, das System war böse und grottenschlecht, aber das Leben in in ihm war so übel nicht, eigentlich völlig normal, oder, wie Thierse weiß: »In diesem System ist doch gelebt worden – bunt und grau, leidenschaftlich und ängstlich, mit Witz und mit Unterwerfung, intelligent und dumm.« Ei der Daus! Wer hätte das gedacht? Ein wenig erinnern die SPD-Liebeserklärungen an Erich Mielkes berühmten Ausruf in der Volkskammer: »Aber ich liebe doch alle, alle Menschen!« Die SPD verteufelt wie CDU/CSU, FDP und die Grünen die DDR und buhlt gierig um ihre Ex-Bürger. Ob diese wählergeile Aufführung hörbaren Beifall finden wird, ist zu bezweifeln, zumindest steht das in den Sternen; der ungünstige Stern aber über dem Supergedenkjahr ist dank des Krisendesasters einer von denen, die schon die Astronomen im Altertum im Unterschied zu den ihre Runden drehenden Planeten als Fixsterne bezeichneten, Himmelskörper, die scheinbar im Sternenzelt fixiert sind, nicht weiterwandern und nicht verschwinden.