Die Kaufhauskette Kaisers’ warf der Kassiererin Barbara E (»Emmely«) vor, den Pfandbon eines Kunden im Wert von 1,30 Euro falsch abgerechnet zu haben, und kündigte ihr fristlos. Große Empörung. Doch das Arbeitsgericht Berlin bestätigte die Kündigung, ohne sich auf eine Beweisermittlung einzulassen. Darf die Geschichte der Kassiererin »Emmely« damit zu Ende sein?
Bei einer Konferenz der Bürgerrechtsvereinigung »Business Crime Control« (BCC) im März in Köln unter dem Titel »Arbeits-Unrecht«, an der Barbara E. teilnahm, wurde eine Petition gegen die weitverbreitete Praxis der »Verdachtskündigung« vorgeschlagen, inzwischen wurde sie Ende April in Berlin auf den Weg gebracht (www.1euro30.de); daran beteiligten sich auch Helmut Platow, Leiter der Rechtsabteilung der Gewerkschaft ver.di, und Methap Calli vom Bundesverband der MigrantInnen.
Unternehmensführungen sprechen immer häufiger Verdachts- und Bagatellkündigungen aus. Sie stützen sich dabei auf Richtersprüche, die sich nach und nach zu einem Richterrecht verfestigt haben. Dieses seit Jahrzehnten geduldete Arbeits-Unrecht muß endlich öffentlich infragegestellt und abgeschafft werden.
Gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise bringt die Verdachts- und Bagatellkündigung den Unternehmensführungen zunehmenden Nutzen. Wie im Fall der Kassiererin Barbara E. machen sie von dieser Möglichkeit Gebrauch, um unliebsame Betriebsräte und Streikaktive loszuwerden, aber auch, um langjährige, qualifizierte Beschäftigte hinauszudrängen, die dann durch jüngere, billigere und befristet Eingestellte ersetzt werden.
Die Verdachts- und Bagatellkündigung ist Teil des Sonderstatus, den das Arbeitsrecht und damit das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern in der deutschen Justiz einnimmt. Prinzipien, die für ein Rechtsstaatssystem als konstitutiv angesehen werden, bleiben hier wirkungslos. Dazu gehört die Unschuldsvermutung, die bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung zu gelten hat. Im Arbeitsrecht gilt sie nicht.
Wenn der »Betriebsfrieden« nach Definition des Arbeitgebers gestört ist, ist eine Kündigung rechtens. Das gilt beispielsweise auch für »whistleblower«, also für Beschäftigte, die Korruption, Umweltgefährdung oder andere Mißstände an die Öffentlichkeit oder der Strafverfolgungsbehörde zur Kenntnis bringen. Ob die Mitteilungen des »whistleblowers« zutreffen oder nicht, ist gleichgültig. Eine rechtsstaatlich sonst übliche Tatsachenermittlung unterbleibt im Arbeitsrecht.
Ähnliches erlebt man bei betriebsbedingten Kündigungen. Das Gericht prüft nicht, ob die Darstellung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens wahr ist oder nicht. Ihm genügt die bloße Behauptung des Arbeitgebers, daß die Kündigungen für den Fortbestand des Unternehmens notwendig seien.
Mit Wirtschaftskriminellen geht die Justiz ganz anders um, und auch die Unternehmensführungen zeigen dann oft gar kein Interesse an gerichtlicher Ahndung. Während sich die Justiz gegenüber abhängig Beschäftigten, ohne sich für Beweise zu interessieren, in peanuts wie 1,30-Euro-Pfandbonds verbeißt, erweist sie sich etwa bei Untreue und Selbstbereicherung in Millionenhöhe als zahnlos. Kommt es überhaupt einmal zu einem Gerichtsverfahren, so endet es wie im Fall der Aufsichtsratsmitglieder der Mannesmann AG und im Fall des hochrangigen Steuerhinterziehers Zumwinkel mit einem Deal: Mithilfe eines Bußgelds wird die Bestrafung umgangen.
Von sich aus bringen die Unternehmen kriminelle Topmanager nicht vor Gericht. Die Angelegenheit wird ohne Aufsehen intern geregelt.
Der Bundesgerichtshof hat im Dezember 2007 anläßlich eines Urteils im Kölner Müllskandal festgestellt, daß die Justiz für die Verfolgung hochrangiger Wirtschaftskrimineller nicht angemessen ausgestattet ist. Deshalb wird gegen solche Täter viel zu selten ermittelt, Ermittlungen dauern zu lange und werden nicht zu Ende geführt, Straftaten verjähren, täterschonende Deals erscheinen als Ausweg. Der BGH hat dem Gesetzgeber und der Regierung aufgegeben, die Justiz personell und technisch besser auszustatten. Das ist bisher unterblieben.
Diese Ungleichheit vor dem Gesetz ist verfassungswidrig. Sie zum öffentlichen Thema zu machen, sollte gerade jetzt in einer Zeit der Delegitimierung der bankrotten neoliberalen Akteure möglich sein; notwendig ist es längst. Die gesetzliche Abschaffung der Verdachts- und Bagatellkündigung abhängig Beschäftigter wäre ein erster Schritt.
Die Beschäftigten, Noch-Beschäftigten, Gekündigten und Arbeitslosen sind zu recht beunruhigt. Der vom Arbeitsrecht gestützte »Arbeitsfrieden« behindert auch die öffentliche Artikulation des millionenfachen Arbeits-Unrechts. Arbeits-Unfrieden ist angesagt!
Im Herbst wird im Verlag Westfälisches Dampfboot das von Werner Rügemer herausgegebene Buch »Arbeits-Unrecht. Anklage und Alternativen« erscheinen.