»...warum ist nur alles für uns alle so sehr viel zu schwer?« So endet Peter Hacks‘ in vielen Sprachen gespieltes Stück »Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe« – ziemlich traurig. »Sonst war mir jeder Tag ein ganzes Leben.« Mit diesem Vers aus Goethes »Torquato Tasso« läßt Sewan Latchinian seine Spielvorlage »Eine verbotene Liebe« (nach Ettore Ghibellino »Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe«) enden. Ein Vers vergangener Hoffnungen und Freuden aus einem Trauermonolog. Es geht immer um Goethe, der nie auftritt, doch vorkommt. Bei Hacks tritt Frau von Stein auf; ihr Thema ist Goethe, ihr Liebhaber. Bei Latchinian betritt keine der Hauptpersonen die Bühne, doch kommen alle vor, an erster Stelle freilich Anna Amalia. Auftritt hingegen eine sterbender alter Mann, von Haus aus Geheimdienstler, der auf den Dichter angesetzt war, besonders während dessen Italienreise 1786–88. Der erzählt nun die bemerkenswerte und seit kurzem als wahr anzunehmende Geschichte von Goethes und Anna Amalias Liebe.
Der eigentliche Autor ist freilich der in Weimar lebende italienische Jurist Ettore Ghibellino, der 2003 ein Buch unter dem Titel »Goethe und Anna Amalia – Eine verbotene Liebe« veröffentlicht hat. Inzwischen sind weitere Auflagen erschienen. Darin belegt er mit vielen Indizien, die zum Teil an Beweise heranreichen, daß Goethe nicht die vielzitierte Freifrau von Stein, die Hofdame der Herzogin Anna Amalia, sondern die Herzogin selbst geliebt hat. Und diese ihn. Charlotte von Stein, Gattin des Oberhofstallmeisters Josias von Stein, Mutter von sieben Kindern, war offensichtlich nur die Briefbotin der Liebenden, die sich angesichts der Moralgesetze und Sittennormen der Zeit nur nächtens begegnen konnten. Eine Dame aus Hoch- und uraltem Reichsadel, nach dem Tode des Gatten jahrzehntelang Regentin des kleinen Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach in einem libidinösen Verhältnis mit dem bürgerlichen Frühgenie aus Frankfurt am Main? Das konnte, durfte nicht sein. Doch offenbar war es eine Liebe auf den ersten Blick.
Man bedenke: Der Johann Wolfgang von 1775, dem Jahr seiner Ankunft in Weimar, war noch lange nicht der große und fast allmächtige Klassiker, das Monument, als welches er uns heute in den Kompendien der Literaturgeschichte erscheint, sondern ein junger, wenn auch frühumjubelter Dichter, Verfasser des »Werther«, des »Götz von Berlichingen« und einiger Jugendstücke von geringerer Bedeutung sowie einiger Liebesgedichte und rebellischer Oden und Hymnen. Aber bereits im folgenden Jahr machte man ihn zum Minister und Multifunktionär.
Warum wohl? War Goethe ein erfahrener Diplomat, hatte er schon irgendwo regiert? Er hatte zwar Jurisprudenz studiert, das Studium als Licentiat abgeschlossen, aber Verwaltungserfahrung hatte er nicht. Was also qualifizierte ihn, eine Anzahl bewährter Hofbeamter auszustechen, etwa den Grafen Görtz? Da müssen andere Kräfte gewirkt haben. Solche aus Liebe, mit Macht verbunden!
1782 erhob man den Dichter-Minister in den Adelsstand, das war nur über den Kaiser in Wien möglich, auf hochrangige Empfehlungen. Sie konnten nur vom Weimarer Hof kommen, von wem wohl? Selbst danach blieb er niederer Adel, blieben beträchtliche Rangunterschiede, blieb das Reglement des vorrevolutionären Ständestaats. Und so mußte diese – im Grunde märchenhafte – Geschichte weiterhin geheim bleiben. Teil der Geschichte war die vorgeschobene Charlotte, die Liebesbotin, nicht Liebesbringerin. Als Letztere aber blieb sie in der Historie – bis Anfang des 21. Jahrhunderts. Weil es so sein mußte!
1788, durch eine Indiskretion des halbwüchsigen Fritz von Stein, jüngster Sohn des Stallmeisters und der Hofdame, änderte sich die Story. Wohl auch durch ein Geständnis des Dichters zu seinem jungen fürstlichen Freund. Da verstand der nun regierende Carl-August keinen Spaß mehr: Seine Herzogin-Mama, anfangs Mittdreißigerin, nun Mitte vierzig, Geliebte seines bürgerlich geborenen Poeten-Freundes und Trinkkumpans, seines Ministers? Die Welt, seine Welt, war nicht mehr in Ordnung. Goethe mußte weg, flüchtete eilends nach Italien, blieb über zwei Jahre, übrigens bei vollem Ministergehalt. Seine Mutter mußte entsagen, trauerte über den Verlust dieser Beziehung bis an ihr Ende 1807, besonders, als der ehemalige Geliebte ein Mädchen aus niederem Stande, die Vulpius, zur Frau genommen und mit ihr Kinder gezeugt hatte. Und der Dichter und spätere Weltendenker kam ebenfalls nicht darüber hinweg; ehestens noch als Dichter, zum Beispiel in der »Elegie« von 1822, die man die »Marienbader« nennt.
Die Liebenden mußten verstummen, ihre Geschichte ward verschwiegen. Carl-August mußte politische Komplikationen vermeiden, den Skandal retouchieren: sein kleines Herzogtum lag zwischen den politischen Interessen-Sphären der damaligen Großmächte Österreich, Preußen, Rußland. Alle folgenden Wettiner wahrten das Geheimnis, Großherzogin Sophie hat offenbar das Meiste und Wichtigste aus Goethes Brief-Nachlaß, der ihr 1885 nach dem Tod des letzten Goethe-Enkels Walter in die Hände gefallen war, vernichtet. Deren Nachfolger, also alle Wettiner, taten ein Gleiches, so lange sie es konnten, auch nach ihrer Macht-Abgabe 1919; und noch lange hielt sich die Stein-Legende, also eine Verhüllungstaktik, die schon Goethe selbst beherrscht hatte. Selbst die Sozialisten, die nach 1945 bis 1989/90 in Weimar die Goethe-Sammlungen und -Forschungen leiteten, blieben dabei. Intern aber hielt sich die wahre Geschichte ebenfalls. Ich hörte davon, als ich zwischen 1959 und 1965/66 in jenen Instituten arbeitete. Ich publizierte es inzwischen in einem Sonderdruck der Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar und bestätigte damit Ghibellinos Ansichten.
Latchinian hat nun ein Gegen-Stück, ebenfalls ein Monodrama, zu dem Hacks-Drama gegeben. Heinz Klevenow (Sohn), ein geistig souveräner Schauspieler, öffnet und erklärt die Zusammenhänge um Goethe und seine Amalia nicht vom Katheder, sondern in Theater-Art. Sicher: Latchinians Spielvorlage erreicht nicht Hacks’ intellektuelle und poetische Höhe auf leider falschen Tatbeständen, hat aber neuentdeckte, wahrere Tatbestände für sich. Das macht den Abend für das Publikum abenteuerlich spannend, für den Bescheidwisser zum intellektuellen Vergnügen erster Klasse. Wichtig zum besseren Verständnis der deutschen Klassik und ihrer kulturellen Entwürfe samt ihrer Unzulänglichkeiten.
Ein großes Thema, ein großer Stoff – die Autoren heißen Goethe und Ghibellino, die Umsetzer Latchinian und Klevenow. Kurios: Man muß in die kleine Stadt Senftenberg fahren, um auf einer mittleren Bühne eine große Geschichte erzählt zu bekommen.
Übrigens: Künftig sollte man beide Stücke an einem Abend spielen!